Autor: blue-haze
veröffentlicht am: 27.05.2014
7. Nacht
„Ach, das werde ich doch nie verstehen“, seufzt Kenan und schiebt das Buch von sich weg. „Ich bin und bleibe zu blöd für die Schule.“
„Du klingst wie ein trotziges Kind.“ Seit zwei Stunden sitzen wir hier und lernen. Ich kann verstehen, dass er nicht mehr aufnahmefähig ist.
Mit einem schiefen Lächeln sieht er mich an. „Danke, dass du dir so viel Mühe gibst.“
„Kein Problem. Also weiter im Text. Wenn du hier...“ Ich bezweifle, dass er mir noch zuhört. Vermutlich lässt er sich nur noch berieseln und hofft, dass irgendetwas hängen bleibt. Ich überlege eine Pause vorzuschlagen, als seine Finger zart über meinen Nacken streicheln. Erschrocken zucke ich zurück.
Er lacht. „Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Mir ist nur aufgefallen, dass du die Kette trägst.“
„A-ach so.“ Plötzlich komme ich mir ziemlich dumm vor und fühle, wie ich rot anlaufe. Ich lege meine Hand an mein T-Shirt unter dem die Kette liegt.
„Vielleicht sollten wir eine Pause machen“, stammle ich um der peinlichen Situation zu entfliehen und gehe in die Küche.
Ich habe meinen Dad vermutlich seit über einem Monat nicht mehr gesehen und die meiste Zeit verbringe ich mit Kenan. Mittlerweile hasse ich ihn wohl zumindest nicht mehr. Dennoch ist es seltsam mit jemandem zusammen zu leben, den man kaum kennt. Auch wenn wir mittlerweile viel miteinander reden. Ja, er weiß vermutlich sogar mehr als mein Seelenklempner, zu dem ich noch immer einmal die Woche gehe. Kenan begleitet mich und wartet eine Stunde vor der Tür, nur um mich anschließend geladen zu empfangen, wie eine Pistole beim Russisch-Roulette.
Es hat sich herausgestellt, dass er ziemlich humorvoll ist und gerne Witze macht. Gut, zu einem echten Lachen hat auch er mich noch nicht gebracht, aber manchmal fällt es mir schon schwer mich zusammen zu reißen. Ich will einfach noch nicht lachen. Nicht so lange ich viel zu oft verlogen kichern muss um den Schein aufrecht zu wahren, dass ich diese Welt eigentlich hasse.
Seufzend lasse ich mich auf einen Stuhl sinken und ziehe meine Stulpen von meinen Handgelenken. Die Narben sind zwar schon lange verheilt, aber noch immer sind sie leuchtend rot und lachen mich an wie hässliche Fratzen. Der Tag an dem sie entstanden sind, wird wieder vor meinen Augenlebendig. Tränen schießen mir in die Augen und tropfen auf meine Handgelenke. Dann durchlebe ich plötzlich wieder jeden einzelnen, dieser grauenhaften Tage der letzten vier Jahre. Die Einsamkeit, das Gefühl im Stich gelassen worden zu sein, die Angst... die Hände... Ich zucke erschrocken zusammen und fahre herum, als eine Hand sich auf meine Schulter legt. Mit einer Mischung aus Schrecken und Entschuldigung, blickt Kenan mich aus seinen grünen Augen an. „Tut mir leid... ich wollte dich nicht erschrecken...“ Dann betrachtet er mich genauer. „Du hast...geweint...“
Ich wische mir über die Augen und ziehe die Stulpen wieder an.
„Akira, was hast du?“
„Nichts,“ fahrig stehe ich auf und wende mich ab „alles okay.“
„Akira...“ Seine Hand berührt wieder meine Schulter und ich zucke zurück, nehme so viel Abstand wie ich kann.
„Lass das! Ich habe gesagt, es ist alles okay!“
Ich will nicht, dass er mich anfasst. Nicht nach diesen Erinnerungen. Ohne weiter auf sein verstörten Ausdruck zu achten, gehe ich in mein Zimmer und schließe mich ein.
Er hat noch nie versucht in mein Zimmer zu kommen. Er hat noch nicht einmal angeklopft um mich zu rufen. Immer hat er geduldig darauf gewartet, bis ich mich entschieden habe heraus zu kommen.
Auch jetzt.
Nur heute Abend komme ich nicht aus meinem Zimmer.
In der Nacht höre ich Schritte auf dem Flur. Neugierig öffne ich die Tür und sehe meinen Vater.
„Akira...habe ich dich geweckt?“ Mein Name klingt aus seinem Mund so fremd. Er hat mich noch nie wirklich mit „Akira“ angesprochen. Es war meistens „Aki-Chan“ oder „Prinzessin“ - ich weiß, es ist kitschig, aber irgendwie hat jeder Vater seinen Kosenamen für seine Tochter.
Ich verneine seine Frage. Eine lange Stille folgt. „Also dann... gute Nacht...“
Ich frage mich ob das gerade sein Ernst ist. Vielleicht träume ich auch. „Ist das alles?“
„Was meinst du?“
„Du meidest mich sein über einem Monat und dann tauchst du mitten in der Nacht auf und hältst es nicht einmal für nötig mir zu erklären wieso?“
„Akira...“ Er kommt auf mich zu und will mir beruhigend die Hand auf die Schulter legen. Ich weiche aus als hätte er eine Giftspritze in der Hand.
„Fass mich nicht an!“
Mein lautes Rufen hat Kenan alarmiert, der aus seinem Zimmer kommt und fragend zu mir und Dad blickt.
Ohne auch nur einen von beiden länger zu beachten, laufe ich die Treppen zur Tür hinunter, greife meine Jacke, steige in meine Schuhe und renne nach draußen. Es ist Kenan, der mir hinterher läuft. Mein Vater stand noch neben meinem Zimmer, als ich in die kalte Nacht geflohen bin.
„Akira! Warte!“
Ich halte nicht an.
„Akira!“
Er ist trotzdem schneller. Doch anstatt mich festzuhalten, überholt er mich und stellt sich vor mich. „Zwing mich nicht dich festzuhalten. Ich weiß, du willst es nicht.“ Beschwichtigend hebt er die Hände, als wäre ich ein wildes Tier.
Ich nicke langsam.
„Lass uns ein bisschen spazieren.“ Er deutet mit dem Kopf zu den Wiesen.
Lange laufen wir nur nebeneinander ohne etwas zu sagen.
Kenan bricht schließlich das Schweigen: „Du hast ihn vermisst, nicht wahr?“
„Ich habe ihn vier Jahre nicht gesehen. Seit dem ist alles so anders. Und plötzlich ist er nicht mehr da.“
„Du hast damals gesagt, du glaubst, er hasst dich. Das ist nicht wahr.“
„Woher willst du das beurteilen? Du kennst uns nicht.“
„Ich sehe doch wie sehr er dich liebt.“
„Ja, deshalb geht er mir auch aus dem Weg.“
„Ich bin sicher, das hat seine Gründe.“
„Zum Beispiel?“
„Ich weiß es nicht. Aber“, lenkt er ein, „du wirst sehen, am Ende wird alles wieder gut.“
„Hast du den Spruch aus 'nem Glückskeks?“
„Nein, aus meinem Horoskop“, er knufft mich scherzhaft in die Seite und diesmal muss ich wirklich ein bisschen lachen. Nicht weil es witzig ist, sondern einfach nur, weil er mich aufheitern will und mir – wie ich gerade feststelle – barfuß in die Nacht gefolgt ist. Jetzt lache ich richtig los. „Wir sollten vielleicht zurück gehen. Bevor du dich noch erkältest.“
Er sieht auf seine Füße und grinst leicht. „Gute Idee.“
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