Autor: blue-haze
veröffentlicht am: 27.05.2014
6. Narben
Ob Kenan...Nein... unmöglich. Aber von wem ist die Kette dann?
Unschlüssig, was ich damit machen soll, lasse ich die Kette vorerst in meine Hosentasche gleiten und gehe in die Küche.
„Wo ist Dad?“
„Arbeiten.“ Ich bemerke, dass Kenans Blick eine Sekunde zu lang, an meinem Hals hängen bleibt.
„Seit wann Arbeitet er um diese Uhrzeit?“ Ich seufze und gehe an den Kühlschrank. Es ist seltsam.
So verläuft auch der Rest des Monats. Dad ist nicht da und ich frage mich allmählich, ob er mir aus dem Weg geht. Meine Stimmung ist im Keller. Selbst zu Nanas Geburtstag – zu dem Dad übrigens auch nicht erscheint.
Ich bemerke nicht einmal, dass der Unterricht längst vorbei ist und das Klassenzimmer bis auf Kenan und meinen Lehrer leer ist.
„... Deine Noten machen mir Bedenken, Kenan. Du wohnst doch bei derselben Adresse, wie Akira. Vielleicht kann sie dir Nachhilfe geben.“
Mein Kopf schießt in die Höhe. „Ich soll WAS?“
„Und du könntest dich mehr am Unterricht beteiligen. Eine Schande, dass du nicht zeigst, was in dir Steckst“, rügt der Lehrer mich.
„Ich soll WAS?“ Diesmal ist das auf beide Aussagen bezogen. Nachhilfe und Beteiligung am Unterricht. Der alte Spinnt doch.
„Du musst das nicht machen“, meint Kenan beiläufig.
Seit einer Woche gehen wir zu Fuß nach Hause. Dad hat keine Zeit mehr uns abzuholen – angeblich.
„Schon gut.“ Nach einigem zögern füge ich hinzu: „Du hast die Mittelstufe, nicht abgeschlossen, nicht wahr?“
Er wirkt überrascht und nickt langsam. Es ist ihm unangenehm. „Ich habe mich über deine Ausbildung informiert. Du hättest nicht die Zeit dazu gehabt. Wenn es dir hilft, gebe ich dir Nachhilfe.“ Er ist nicht dumm, er hatte nur schlechtere Ausgangsbedingungen als ich. Ich habe gelesen diese Ausbildung ist für Waisen, die keine Perspektiven haben. Oft sind sie Kriminell um zu überleben. Wenn sie die Ausbildung beginnen, sind sie selten älter als vierzehn, haben die Schule geschwänzt und werden so unterrichtet, dass sie die Unterstufe zumindest abschließen können. Schwerpunkt liegt aber auf der Lifeguard Ausbildung. So haben sie später zumindest eine Perspektive. Ich schätze darum lässt Dad ihn bei uns wohnen.
Wie erwartet, ist Dad wieder nicht da. Auf dem Küchentisch liegt nur ein Zettel. „Bestellt euch Essen und macht euch einen gemütlichen Abend. Dad.“
Unbewusst zerknülle ich den Zettel in meiner Hand und gehe zum Telefon. „Was willst du essen?“ Rufe ich zu Kenan.
Wir bestellen Pizza und verbringen den Abend vor dem Fernseher.
„Akira.“
„Hm?“
„Was ist mit deinen Stulpen passiert?“ Er deutet auf meine Ärmel in die ich zwei Löcher geschnitten habe um meine Daumen durchzustecken.
„Verloren.“
„Du ziehst sie nie aus, wie sollst du sie verloren haben.“
„Nach dem Sport. Ich war duschen und dann waren sie weg.“ Natürlich weiß ich, wer sie verschwinden hat lassen.
„Warum lässt du das mit dir machen?“
„Was?“
„Denkst du wirklich sie sind deine Freundinnen?“
„So naiv bin selbst ich nicht.“
„Also, warum?“
„Bin ich nicht schon genug Außenseiter? Ich muss es nicht auch noch darauf anlegen, dass man mich fertig macht.“
Ja, das tun sie auch so. Ich weiß.
„Warum verdeckst du deine Handgelenke?“
„Geht dich nichts an.“
Es vergeht eine Weile des Schweigens und der Film erleichtert die Stille. Irgendwann fängt er doch wieder an: „Was ist eigentlich mit deiner Mutter?“
„Kannst du nicht einfach aufhören Fragen zu stellen!“ Als hätte er mich höchst persönlich beleidigt, springe ich auf und gehe in die Küche.
Mit einer Ruhe, die mich um den Verstand bringt, steht er an der Schwelle zur Küche undbeobachtet mich, wie ich gereizt von einem Schrank zum nächsten gehe und eine Tür nach der anderen öffne und zuknallen lasse. Zu viel für das ohnehin ramponierte Longshirt. Der Ärmel reißt und legt die große Narbe frei. Seelenruhig liegt der Blick der grünen Augen auf meinem Handgelenk. Auch dann noch, als ich versuche es zu verdecken, aber der Stoff rutscht immer wieder nach oben. Was Kenan als nächstes macht, wirft mich aus der Bahn. Er nimmt sein Lederarmband ab und legt es um mein Handgelenk um die Narbe zu verdecken. Peinlich berührt, wende ich mich ab und warte darauf, dass sich der Boden unter mir öffnet und mich verschlingt. Er stellt keine Fragen und sagt nichts.
Den restlichen Abend sitzen wir einfach auf dem Sofa und sehen uns einen Film nach dem anderen an.
„Sie sitzt im Knast“, sage ich irgendwann. „Meine Mom... Eines Abends, nachdem sie mit meinem Dad telefoniert hat, da hat sie mich ins Bad gezerrt, meine Handgelenke zusammengebunden und sie durchgeschnitten.“ Meine Stimme klingt rau und kratzig. Ich fühle Kenans Blick, wie er mich von der Seite ansieht. Nicht in der Lage zu verstehen, was meine Worte bedeuten.
„Sie war fünfzehn, als sie mich bekommen hat. Dad ist zwei Jahre jünger als sie. Ich kann verstehen, warum sie mich beide hassen...“
„Dein Vater hasst dich doch nicht. Im Gegenteil.“
Ich schalte den Fernseher aus. Es ist ganz still. „Er ist nicht hier.“ Ich stehe auf, ohne ihn anzusehen. Die mitleidig grünen Augen, würden mich nur zum Weinen bringen. „Gute Nacht, Kenan.“
Ich kann wirklich verstehen, warum sie mich alle hassen. Es hätte mich nicht geben sollen und diese Narben sind der Beweis.
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