Autor: blue-haze
veröffentlicht am: 27.05.2014
3. Sozialer Todesengel
„Akira, wer ist denn der süße Kerl, der dich immer abholt? Dein Bruder? Stellst du ihn uns mal vor?“
Ich verdrehe die Augen. Das geht nun schon seit Wochen so. „Wollt ihr, dass er wegen Belästigung Minderjähriger verklagt wird? Er könnte euer Vater sein.“ Das Resultat des letzten Spruches ist natürlich albernes Gekichere. „Also mein Vater ist mindestens doppelt so alt.“ Super. Das wäre etwa das Alter meiner Großmutter. Aber ich habe Zeit geschunden. Der Lehrer kommt in die Klasse und die lästigen Fragen haben ein Ende. Vor erst. Ich muss ihm abgewöhnen mich direkt vor der Schule ab zu holen.
Ich steige in das Auto. „Du musst mich nicht ständig abholen. Ich komme auch zu Fuß nach Hause.“
„Hallo mein Engel, mir geht es gut, und dir?“
Ich verdrehe die Augen. „Park wenigstens irgendwo hinter der Schule, wo dich nicht jeder sieht.“
„Ich kann nichts dafür, dass mich deine Mitschülerinnen Attraktiv finden“, grinst er.
Ich gebe auf. Er ist unbelehrbar. Und die Sache mit dem Gedankenlesen macht es mir nicht einfacher.
Nach dem Besuch beim Seelenklempner, holt mich mein Opa ab. Würde er mich von der Schule abholen, würde er vielleicht für meinen Vater gehalten werden. Unsere Beziehung ist ganz okay. Aber mit meiner Oma verstehe ich mich besser. Die einzige halbwegs normale, weibliche Verwandte. Sie hat nur die seltsame Eigenschaft ständig zu lächeln. Selbst dann wenn sie ihrem Mann oder ihrem Sohn eine Kopfnuss verpasst, weil sie mal wieder etwas dummes angestellt haben.
„Hey, alter Mann, ich bin wieder zu Hause“, rufe ich durch den Hausflur. Im Wohnzimmer werfe ich meine Tasche in die Ecke und will gerade zur Küche gehen, als mir auffällt, dass es nicht leer ist. „Dad, da steht ein Men-in-black-Verschnitt in unserem Wohnzimmer.“ Rufe ich zur Küche, wo ich meinen Vater vermute. Dieser lässt sich mit Kochschütze und Kopftuch kurz Blicken und sagt breit Lächelnd: „Kenan. Dein neuer Bodyguard.“ Bevor ich etwas antworten kann, ist er schon wieder in der Küche verschwunden. „Hör gefälligst auf als Manga-Figur zu agieren und komm her um mir anständig zu sagen, dass du mein Leben zerstörst!“
Eine Kopfnuss lässt mich herumfahren um dem lächelnden Gesicht meiner Oma zu begegnen. „Man benimmt sich nicht so, wenn man einen Gast im Haus hat.“
„Das ist kein Gast, das ist mein sozialer Tod“, knurre ich.
„Guten Tag, ich bin Hanna. Entschuldige bitte, meine unhöfliche Enkelin.“ Kopfschüttelnd beobachte ich meine Oma, die dem Typen die Hand schüttelt, der noch immer kein Wort verloren hat. Ich vermute er ist zu geschockt. Kein Wunder. Er muss sich vorkommen, als sei er in einem Trickfilm gelandet. Ich für meinen Teil, werfe ihm einen abschätzenden Blick zu und verschwinde
in meinem Zimmer.
Erst zum Abendessen, krieche ich aus meinem Zimmer und wage mich in die Küche. „Du bist ja immer noch da.“ Seelenruhig, sitzt der Kerl auf einem Barhocker, der Küchentheke. In Jeans und T-Shirt sieht er zumindest nicht mehr aus wie ein Clown. Dies ist das erste Mal, dass ich ihn genauer betrachte. Seine Sonnenbrille hat er abgenommen und hat jetzt normale Kleidung an. Ach du Schreck! Der sieht nicht älter aus als... sechzehn? siebzehn? Was denkt sich der alte Mann?
„Aki-Chan, habe ich dir das nicht gesagt?“ Mein Dad schneit in die Küche.
„Was nicht gesagt?“
„Kenan wohnt jetzt hier.“
„Tut er nicht.“
Mit seinem Unschuldslächeln, beteuert er: „Doch.“
„Warum hasst du mich?“
Okay, er hasst mich nicht, das weiß ich selbst. Aber was zieht er da für einen Unsinn ab? Ich meine, ich verstehe schon, dass sich mein alter Herr sorgen um mich macht. Aber das ist doch wirklich übertrieben. Die Frau wird wohl kaum aus dem Gefängnis ausbrechen nur um mich noch einmal umzubringen.
„Ich fasse es nicht. Jeder Typ mit dem ich mehr als zwei Worte wechsele wird von dir zum potentiellen Staatsfeind Nummer eins erklärt, aber du lässt trotzdem einen wild fremden bei uns wohnen?“ Ich will keinen Mann in unserem Haus, mit dem ich nicht verwandt bin. Mein Puls steigt. Mein Herz hämmert unangenehm schmerzend gegen meine Brust. „Ich will ihn nicht hier haben.“ Stillschweigend mustert der Typ mich. Mir wird übel. Die Verzweiflung schaukelt sich in mir hoch. „Ich will, dass du das Schloss an der Tür wieder reparierst.“
„Akira, was hast du?“
„Reparier das Schloss, sonst ziehe ich zu Oma!“
Der ungewohnte Ernst im Gesicht meines Vaters bedeutet mir, dass er den Zusammenhang zwar nicht erfasst, meiner Forderung jedoch nachkommt. Er holt aus einer Schublade einiges an Werkzeug und geht zu meinem Zimmer.
Ich fühle den Blick des Jungen noch immer auf mir. Mit bebenden Händen, verschränke ich die Arme und verlasse die Küche. Ich will ihn nicht hier haben.
Mein Morgen beginnt schon grandios. Ich rüttle vermutlich eine geschlagene Minute an meiner Tür, bis ich mich daran erinnere, dass ich sie über Nacht abgeschlossen habe. Schlaftrunken watschle ich zum Bad und anschließend in die Küche. „Na los, Aki-Chan. Sonst kommt ihr noch zu spät zur Schule.“ Ich gähne und schenke... wie war doch gleich sein Name?...keine Aufmerksamkeit. „Ich hoffe dir ist bewusst, dass du gerade im Begriff bist, mein ohnehin schwaches, Sozialleben zu zerstören. Was sollen meine Mitschüler denken, wenn sie sehen, dass ich einen Bodyguard im Schlepptau habe?“
„Habe ich dir das nicht gesagt?“ Ich hasse es, wenn er so anfängt.
„Was nicht gesagt?“, knurre ich.
„Kenan ist dein neuer Mitschüler.“
„In welchem Universum? Er ist doch eindeutig älter als ich.“
„Genau genommen sechzehn. Seine Geschichte ist: Er wurde mit sieben eingeschult, ist aus einer anderen Stadt hergezogen und muss deshalb ein Jahr wiederholen.“
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. „Du lässt mich von einem Sechzehnjährigen beschützen?“
„Kenan ist noch in der Lifeguard-Ausbildung. Er hat dieses Jahr angefangen. Aber da er schon von klein auf trainiert, ist er sehr qualifiziert.“
Ich frage mich, was er in seinen Gedanken gesehen hat, als er ihn eingestellt hat. Mein Dad traut keinen Jungs. Warum also gerade ihm? Ich blicke zu... ah...Dad hat doch gerade seinen Namen genannt... und sehe gerade wie mein Dad seinen Kopf tätschelt. „Und er weiß genau, wenn seine Hände dich berühren, ohne, dass es um deine Sicherheit geht, dann ist er diese Hände schneller los, als er bis drei zählen kann.“ Ahhh, da ist ja wieder, der Krankhaft beschützende Vater. Der Typ isst sein Frühstück ohne auf die Bemerkung meines Dads einzugehen. Ich habe ihn noch nicht einmal
sprechen gehört. Ist er vielleicht stumm?
Mein Dad fährt uns zur Schule. Wie durch ein Wunder, parkt er hinter der Schule. Ich steige aus und gehe voraus. Dicht hinter mir, schließt mein neuer Beschützer auf und muss aufpassen, dass er nicht mit mir zusammen stößt, als ich ruckartig stehen bleibe. „Jetzt hör mir mal zu. Auch wenn du dich hier als normaler Schüler tarnst, werden dir das die Leute nicht abkaufen, wenn du wie eine Klette an mir klebst. Darum machen wir jetzt folgendes. Ich gehe voran. Und egal wie und wo. Du hältst Abstand. Sagen wir fünf Meter. Verstanden?“
Mit einem ausdruckslosen Gesicht, mustert er mich. „Ich habe gefragt, ob du verstanden hast“, wiederhole ich. Er ringt sich zumindest zu einem Nicken durch. Das hat mir gefehlt. Ein Bodyguard, der genauso seltsam ist, wie der restliche Haufen, der mich umgibt. Er scheint tatsächlich seinen fünf Meter Radius einzuhalten. Sogar im Klassenzimmer. Gut, es ist nicht schwer ihn von mir fern zu halten, wenn er umgeben von lauter Mädchen ist. Kaum, dass ihn die Lehrerin vorgestellt hat, ist auch schon die erste Hand in die Höhe geschnellt. „Hast du eine Freundin?“ Ich schließe mich dem Mädchenhaften Gekicher an um die Tatsache zu verbergen, dass der Typ mir erstens unheimlich und zweitens gehörig auf die Nerven geht.
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Zur Erklärung, hier die Kurzfassung für Außenstehende:
Als ich gerade eingeschult wurde, war Kiyoshi gerade achtzehn und ist bei so einem FBI-mäßigen Verein eingestiegen, wo er als eine Art menschlicher Lügendetektor fungiert. Da er auf diese Art ziemlich viele Menschen ins Gefängnis geschickt hat, hat er sich den ein oder anderen Feind gemacht. Diese haben sich mit der lieben Frau Mutter zusammen geschlossen und haben dafür gesorgt, dass ich bei ihr wohnen muss. Nicht ganz unschuldig war an der Tatsache ich selbst. Als ich erfahren hatte, dass mein Dad Gedankenlesen kann, konnte ich das nicht für mich behalten. Irgendwie hat das dem Jugendamt nicht gepasst, zusätzlich wurde es noch bestochen und schon war ich meinen Papa los.
Diese widerliche Frau ist mit Hilfe der Menschen, die meinem Vater eins auswischen wollten, mit mir irgendwo im nirgendwo verschwunden und erst nach jahrelanger Detektivarbeit, war er in der Lage ihre Telefonnummer aus zu machen. So hat er ihren Wohnort ausfindig gemacht und die Polizei informiert, die aufgekreuzt ist, bevor ich verblutet bin.
Der Grund, weshalb ich Schutz brauche entspringt also nicht gerade der Phantasie eines pathologisch, besorgten Elternteils. Es ist vielmehr eine Realität, die ich mir einzugestehen weigere.
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Wie sich herausstellt, ist der Typ nicht Stumm. Er antwortet zumindest den Lehrern auf ihre Fragen – wenn auch meistens einsilbig oder mit dem Standartsatz „Ich weiß es nicht.“.
Ich nehme an, er hat vorher nicht gerade die Oberstufe besucht.
Vielleicht spricht er deshalb nicht so oft. Als ich allerdings das erste Mal seine Stimme höre, finde ich es fast schade, dass er nicht öfter Spricht.
Die Mädchen in meiner Klasse scheinen ähnlich zu denken. Kenan ist Gesprächsthema Nummer eins – zu meinem Leidwesen. Es ist auch schwer genug beim Thema Schminke und Klamotten interessiert zu tun, aber DAS ist nun doch zu viel des Guten.
Ich klinke mich aus, sehe aus dem Fenster und bekomme prompt die Quittung. Eine Frage nach der anderen Stürmt auf mich ein: wieso ich mich so seltsam verhalte, ob es mir nicht gut geht, ob mein Desinteresse darin begründet liegt, dass ich schon einen Freund hätte und ob es dieser ominöse Mann sei, der mich immer Abholt. Das geht zu weit. Jetzt vermuten sie hinter meinem Dad auch noch eine heimliche Liebschaft? Ich muss würgen. Mir wird schlecht. Ich wehre ab, beteuere, dass man ja wohl sieht, dass wir verwandt sind und erkläre, dass Kenan einfach nicht meinem Typ entspricht.
Nach dem Unterricht, bemühe ich mich, schnellen Schrittes einen möglichst großen Abstand zwischen mich und Kenan zu bringen, der den Wink offenbar versteht und mir gelassen folgt.
Ich kann ihn noch immer nicht leiden.
Der neue Eindringling in meinem zu Hause gefällt mir nicht. Zumal ich noch viele Umstellungen zu ertragen habe. Nicht nur, dass ich die Pubertät ertragen muss, nein, da ist auch noch die neue Schule, die neuen Mitschülerinnen, die mir meine Stulpen ausreden wollen, weil sie „Geschmacklich absolut daneben sind“ - sie verdecken meine Narben – mein zu Hause wirkt ebenfalls neu – nach vier Jahren Abwesenheit – und dann noch ein Wachhund?
„Hey, Dad, warum hast du mir nicht einfach einen Hund besorgt?“
„Du willst einen Hund? Wir können morgen ins Tierheim fahren.“
„Kommt er dann weg?“ Ich zeige auf Kenan, der wohl tapfer tut, als hätte er nicht gehört, dass ich ihn mit einem Hund vergleiche.
„Nein.“
„Dann nicht“, erwidere ich enttäuscht.
An Kenan gewandt, entschuldigt mein Vater sich, der nur ein „Schon gut“ murmelt.
Ich wüsste zu gerne, was in seinem Kopf vorgeht. Aber das wird mein Vater mir nicht verraten.
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