Die Kunst zu lieben - Teil 19

Autor: I.AMsterdam
veröffentlicht am: 07.08.2013


– Ende –
28. Oktober

Der heutige Tag könnte so unschuldig sein.
Wie jeder andere.
Er könnte so unbedeutend, alltäglich sein, dass er einfach in der Masse untergeht. Ein Tag, den man spätestens in einer Woche wieder vergessen hat. Ein einziger Tag.
Doch haftet eine schwerwiegende Entscheidung an ihm, die ihn auf einmal sehr außergewöhnlich macht. Besonders.
Zumindest für mich.
All die anderen Menschen sind unwissend. Sie stecken in der Routine fest, schenken der Einförmigkeit keine Aufmerksamkeit mehr, beachten die kleinen Dinge des Lebens nicht.
Doch ich will heute ausbrechen.
Heute ist der Anfang. Und gleichzeitig das Ende.

Ein erleichtertes Seufzen entflieht meinen Lippen, als ich die Haustür hinter mir schließe. Der laute Knall, mit dem sie ins Schloss fällt, symbolisiert für mich in diesem Moment ein Startsignal. Mein heimlicher Entschluss, worüber ich sehr lange nachgedacht habe, wird heute in die Tat umgesetzt.
Und niemand weiß es.
Der kühle Wind streichelt zum letzten Mal mein Gesicht, während ich den mir vertrauten Weg entlanggehe. Ich begegne fremden Menschen, die mir gezwungen zulächeln, beobachte sie skeptisch. Keiner ahnt, was in mir vorgeht. Werden sie sich an mich erinnern, wenn sie das Bild von mir in der Todesanzeige sehen?
Ich hebe die Schultern.
Es ist ein seltsames Gefühl mehr zu wissen als die anderen.
Mein Stichtag ist heute.
Und damit meine ich wirklich, dass dies mein Fälligkeitsdatum ist. Mein Todestag, um es auf den Punkt zu bringen. Ich verspüre deswegen keine Trauer oder Angst. Nein, zu lange habe ich mich schon mit dem Gedanken beschäftigt, als das noch irgendwelche Zweifel in mir auftauchen könnten.
Meine Entscheidung steht fest.
Es gibt kein Zurück.
Ich bin eine Verliererin, ein Opfer. Im Himmel, oder wo auch immer ich landen werde, wird es mit Sicherheit erträglicher sein. Alles. Nichts.
Ich verliere.

Ein kühler Wind wirbelt die bunten Blätter auf, welche alle in den unterschiedlichsten Facetten des Sonnenuntergangs gefärbt sind. Die knorrigen Äste erzittern unter der heftigen Windböe, der leise über die Landschaft pfeift.
Wie ein Ruf.
Ich laufe in den naheliegenden Wald, meinem Lieblingsort. Es scheint, als würde die kühle Brise ihre imaginären Hände nach mir ausstrecken, mich sanft im geröteten Gesicht streicheln und versuchen, sich unter der Jacke zu verstecken.
Gemächlich marschiere ich den kleinen Waldweg für Besucher entlang. Zu meiner Linken plätschert der breite Fluss, welcher sich ziemlich nah am Pfad entlang schlängelt. Gleich dahinten befindet sich die Brücke - mein Todesurteil.
Ich gehe langsam.
Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich sterben will. Eigentlich wollte ich mir eine Überdosis Schlaftabletten einflößen, meine Mutter hat davon tausende Zuhause, und es kam mir nicht so schrecklich vor. Doch diesen Plan habe ich schnell wieder vergessen, als ich mich darüber genauer im Internet erkundigt habe. Ein paar Leute haben von ihren Erfahrungen berichtet und erzählt, dass es sehr schmerzvoll sein kann. Außerdem stirbt man nicht unbedingt.
Also habe ich mich anders entschieden. Denn ich will sicher sein.
Mit geschlossenen Augen lausche ich dem tobenden Wind, vernehme das Rascheln der Blätter und das aufmüpfige Rauschen des Flusses, dessen starke Strömung säuselnd der Brücke entgegenfließt.
Ich sauge diese Geräusche tief auf, denn es werden die letzten sein, die ich höre. Als ich die Augen wieder öffne, bin ich dem hölzernen Übergang schon ein Stück näher gekommen. Ich bekomme Gänsehaut.
In mir drin ist alles ruhig und still, als wäre ich schon tot. Diese Entschlossenheit gibt mir irgendwie Mut und Sicherheit. Dennoch würde ich am liebsten noch gerne von jemandem hören, dass ich das Richtige tue. Dass es nicht falsch ist. Dass jeder mich verstehen kann und genauso handeln würde.
Mein Herz wird ein wenig schwerer, als ich nun die Brücke hinaufgehe. Ein leichtes Zittern erfasst mich, schroff presse ich meine bebenden Lippen aufeinander. Viele Leute begehen in einer unüberlegten Handlung Selbstmord, überstürzen das Ganze. Doch ich habe mir alles ganz genau überlegt, habe drei Wochen lang auf diesen Tag gewartet.
Niemand kann mir Vorwürfe machen.
Als ich den höchsten Punkt der Brücke erreiche, werfe ich einen vorsichtigen Blick nach unten auf das Wasser. Dort befindet sich eine gefährliche Stromschnelle, Steine ragen heraus, erheben sich gegen das schäumende Gewässer. Ich weiß, dass es dort sehr flach ist und es viele Brocken gibt.
Mit bebenden Händen stütze ich mich auf dem Geländer ab, schwinge zuerst das eine Bein rüber, dann das andere, so dass ich schließlich auf dem Balken sitze und die Füße frei in der Luft baumeln.
Eine kühle Windbrise lässt mich schaudern. Mein Blick schweift zum Horizont, wo der Himmel sich allmählich ein Beispiel an den herbstroten Blättern nimmt und sich in ein helles Orange, Gelb und Rot verfärbt, die allesamt ineinander verlaufen.
Ich werde diesen schönen Anblick nie vergessen.
Tief hole ich Luft, kneife fest die Augen zusammen und umklammere meine Finger fest um das Holz. Mein Herz pocht laut und schnell gegen die Brust.
Ich hoffe, dass ich sofort sterben werde. Und mich niemand sieht. Denn Zeugen sind wirklich das letzte, was ich gebrauchen könnte.
Noch schlägt mein Herz.
Noch pulsiert das Blut durch meine Adern.
Noch.

Mit einem Ruck stoße ich mich ab, falle nach vorne.
Das Blut rauscht in meinen Ohren, ich höre meinen Herzschlag wummern, als würde er wie ein Echo durch meinen ganzen Körper hallen. Ich denke an nichts, konzentriere mich einzig und allein auf den freien Fall, der mir endlich Erlösung verschaffen wird.
Ich fliege, erwarte den Aufprall mit zusammengekniffenen Augen.
Leona!
Erschrocken reiße ich die Augen auf.
Die Stimme, welche verzweifelt meinen Namen ruft, kommt mir vertraut vor. Es scheint, als hätte der Ruf urplötzlich die aufgebaute Mauer um mich herum zum Fallen gebracht, meinen innerlichen Schutz mit einem einfachen Windstoß zerstört.
Ich öffne meinen Mund zu einem stummen Schrei.
Die Steinbrocken kommen in rasanter Schnelle auf mich zu; ich will mich in einem Impuls heraus festhalten, irgendwo. Aber es ist bereits zu spät.
Unerträglicher Schmerz durchzuckt blitzartig meinen Körper, so qualvoll, dass es mir die Sinne raubt. Augenblicklich wird es dunkel um mich herum, mein Herz setzt einen Schlag aus – und bleibt dann schließlich stehen.
Für immer.
Die Stille um mich herum ist ohrenbetäubend.

•°•°•

Keuchend schrecke ich aus dem Bett hoch.
Mit einer Hand fasse ich mir an die Brust und stelle erleichtert fest, dass mein Herz noch immer funktioniert, schnell und aufgeregt donnert es unter meinen zittrigen Fingern. Ich überprüfe, ob jedes Glied noch vorhanden ist und befühle mein Gesicht, wische die Tränen weg.
Nur langsam realisiere ich, dass das alles nur ein Traum war. Ein schrecklicher Alptraum. Oder vielmehr eine Vision, wie es hätte sein können, wenn das Schicksal nicht dazwischen gefunkt hätte. Die Erleichterung darüber, dass es nicht der Realität entspricht, heiße ich mit einem Seufzen willkommen.
Heilige Maria! Ich schlucke hart und versuche mich zu beruhigen, aber mein ganzer Körper bebt unkontrolliert. Fahrig belecke ich meine Lippen und rede mir selbst beschwichtigend ein, dass es mir gut geht. Dass ich lebe.
Schnaufend schwinge ich meine Beine über die Bettkante und fahre mir mit der Hand durch das unordentliche Haar. Ich bin schweißgebadet, meine Schlafkleidung klebt wie eine zweite Haut an mir.
Ein flüchtiger Blick auf den Wecker verrät mir, dass es sechs Uhr in der Früh ist. Müde reibe ich mir über die Augen und mache mich schließlich mit wackligen Knien auf den Weg ins Bad.
Mein Geburtstag kann beginnen.



Ich schweige betreten, während sich die Gäste am Tisch aufgeregt unterhalten.
Viele Verwandte sind gekommen, um mit mir bei Kaffee und Kuchen das 17. Lebensjahr zu feiern und sich beiläufig zu erkundigen, ob auch alles im Lot ist. Ich komme mir wie in einem Wolfsrudel vor, in dem sich jeder behaupten will und sich mit viel Prahlerei darum bemüht, den Platz des Alphatiers zu übernehmen, während alle anderen eingeschüchtert winseln.
Dieses Szenario ist einfach grotesk.
„Leona, was sind denn eigentlich deine Pläne für die Zukunft?“, höre ich auf einmal meine Tante fragen und schrecke auf.
Mit einem Mal ist es stumm am Tisch, nur die leisen klassischen Melodien aus der Musikanlage erfüllen das Schweigen. Ich zerknülle die Serviette in meinem Schoß zusammen und versuche krampfhaft die vielen Augenpaare zu ignorieren. „Ich weiß noch nicht genau“
Tante Ellinor hebt spöttisch eine Augenbraue. „Kind, du bist nun 17 Jahre alt, da sollte man wissen, was man später werden will!“
„Ach, zur heutigen Zeit hat man so viele Möglichkeiten, dass einem bei all den vielen Angeboten schon schwindelig werden kann“, schaltet sich plötzlich meine Großmutter ein und schenkt mir ein Lächeln.
Ich atme auf.
Meine Oma ist das einzige Familienmitglied, welches ich wirklich mag. Sie interessiert sich nicht so sehr für den Ruhm und das Ansehen, obwohl sie eine Dame ist, die sehr auf ihr Äußeres achtet.
„Aber man sollte stets ein Ziel vor Augen haben“, echauffiert sich Tante Ellinor zu sagen und presst ihre rotbemalten Lippen zu einem Strich zusammen. „Ich wusste schon mit zwölf, dass ich in die Fußstapfen meines Vaters treten will“
„Nicht jeder ist wie du“, kontert Oma missbilligend und verdreht die Augen. Nur mühsam verkneife ich mir ein Grinsen, denn es ist jedes Mal das Gleiche: Meine Großmutter und Tante Ellinor, welche beide Mutter und Tochter sind, geraten aneinander. Ihr Verhältnis war noch nie sehr innig.
Meine Tante schnaubt, sagt jedoch nichts mehr dazu, so dass wieder eine bedrückende Stille herrscht. Fast scheint es, als wäre alles genauso wie immer.
Fast.
Oma legt den Kopf schief und scheint sich auf etwas zu konzentrieren, denn ihre Stirn kräuselt sich nachdenklich. „Hm, diese Melodie… Wie heißt sie gleich noch?“
„Das ist »Der Blumenwalzer« von Tchaikovsky“, erklärt Lydia sofort.
Die Miene meiner Großmutter hellt sich auf. „Oh, ja! Natürlich, die Epoche der Romantik!“ Ihr Blick huscht zu mir und automatisch versteife ich mich bei ihrem geheimnisvollen Lächeln. „Leona, würdest du mit mir zu diesem Walzer tanzen?“
Synchron wird am Tisch scharf die Luft eingesaugt.
Ungläubige Blicke treffen meine Oma und schweifen dann erwartungsvoll zu mir. Ich muss hart schlucken und kralle meine Fingernägel fest in meinen Rock.
„Mutter, Leona kann gar nicht tanzen“, wirft Mama etwas widerwillig ein. „Sie hat nie Tanzunterricht genommen“
Tante Ellinor wird hellhörig. „Keine einzige Tanzstunde? Also wirklich, Susanna, du hast deiner jüngsten Tochter nicht das Tanzen beigebracht?“
Meine Mutter presst die Lippen zu einer bleistiftdünnen Linie zusammen und schweigt. Und dann platzt es einfach aus mir heraus: „Ich kann sehr wohl tanzen!“
Erstaunte Blicke treffen mich, doch ich recke trotzig mein Kinn.
„Na, das ist doch wunderbar!“, ruft meine Oma aus und erhebt sich. „Komm, mein Kind, gehen wir ins Wohnzimmer, dort haben wir mehr Platz. Meinetwegen kann ich auch den männlichen Part übernehmen“
Sie kichert und nimmt mich bei der Hand. Überrumpelt folge ich ihr, der Rest der Familie eilt uns hastig nach. Meine Schwester läuft neben mir und wirft mir einen mütterlichen Blick zu. „Leona, du musst das nicht tun, wenn du–“
„Keine Sorge, ich weiß, was ich tue“, unterbreche ich sie und zwinkere ihr zu.
Lydia will etwas erwidern, schließt ihren Mund jedoch wieder.
Das Lied wird auf den Anfang zurückgestellt und meine Großmutter und ich nehmen die Tanzhaltung ein. Schnell rufe ich mir noch einmal die Tanzschritte ins Gedächtnis und atme tief ein. Kurz kreuzt sich mein Blick mit dem von Lydia, die mich zweifelhaft anschaut und auch meine Mutter sieht mehr als besorgt aus.
Stumm lächele ich in mich hinein.
Dann beginnt meine Oma sich zu bewegen und eilig komme ich ihren Schritten nach. Wo ich mich zu Beginn noch sehr steif bewegt habe, werde ich mit jeder Sekunde ein wenig entspannter. Es ist ganz einfach.
Meine Großmutter wirbelt uns durch das Wohnzimmer und lacht dabei freudig auf. Auch ich kann nicht verhindern, dass meine Lippen sich zu einem breiten Grinsen formen, als ich die ungläubigen Gesichter der anderen bemerke.
Es ist ein gutes Gefühl, ihnen etwas beweisen zu können. Mein Herz blüht auf, während meine Oma die Augen schließt und leise zur Melodie summt.
Ja, damit haben die anderen nicht gerechnet.

••

Mittlerweile sind schon einige Stunden vergangen.
Nur noch mein Onkel und meine Cousine väterlicherseits, sowie Tante Ellinor sitzen am Tisch. Schon wieder klingelt das Telefon und seufzend erhebe ich mich, um den obligatorischen Anruf entgegenzunehmen.
„Leona Brandt, hallo?“
„Guten Tag, Frau Brandt. Hier spricht Ihre Agentur und–“, höre ich die mehr als verstellte Stimme meiner besten Freundin, die um einen ernsten Tonfall bemüht ist.
„Oh, Nia. Gott sei Dank“, seufze ich erleichtert.
„Mist, du hast mich viel zu schnell erkannt“
„Das war auch nicht schwer“, entgegne ich lächelnd und verschanze mich lautlos in der Küche, um ihren Worten gespannt zu lauschen. Meine beste Freundin wünscht mir alles erdenklich Gute zu meinem Geburtstag, plaudert aufgeregt los und ermöglicht mir zumindest für ein paar Minuten aus diesem Trott zu fliehen, so dass ich für einen kurzen Moment freier atmen und Luft holen kann. Aber es kommt leider wieder viel zu schnell zum Ende.
„Halte durch, Leona. Bald sind alle Gäste gegangen und der Geburtstag ist vorbei“, meint sie aufmunternd, ehe sie glucksend hinzufügt: „Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der diesen Tag sosehr verabscheut“
„Naja“, entgegne ich. „Um ehrlich zu sein, habe ich ihn mir schlimmer vorgestellt“
„Das hört sich doch gut an. Trotzdem hoffe ich, dass du ihn lebend überstehst“, erwidert Nia in einem bemüht lockeren Tonfall, dennoch ist die Doppeldeutigkeit in ihren Worten nicht zu überhören.
Ich presse die Lippen aufeinander. „Das werde ich. Mach’s gut, Nia!“
„Mach’s besser!“
Mit diesen Worten legt sie auf.
Als ich in das Esszimmer gehe, empfängt mich gähnende Leere. Die Stühle sind in ordentlicher Manier an den Tisch gerückt worden, sämtliches Geschirr wurde aber noch nicht abgeräumt, Kuchenkrümel verteilen sich auf der Tagesdecke und die Kuchenplattformen stehen noch auf dem Tisch. Aber keine einzige Person befindet sich im Raum.
Erstaunt hebe ich die Augenbrauen, ehe ein verkniffener Zug meine Lippen einnimmt, als mich die Erkenntnis durchzuckt: Die restlichen Verwandten haben sich während meiner Abwesenheit schnell aus dem Staub gemacht ohne auch nur ein Wort zu sagen.
Ich seufze und setze mich auf einen der Stühle, während mein Blick nach draußen schweift und ich durch den Wintergarten hindurch die untergehende Sonne beobachte. Aus dem Wohnzimmer vernehme ich die Stimmen von Mama und Lydia, die leise miteinander reden und zögere nicht lange. Ich springe vom Stuhl auf und laufe schnell die Treppe nach oben in mein Zimmer, ehe ich wieder nach unten gehe – mit einer dicken Strickjacke um den Schultern – und schließlich die Haustür leise hinter mir schließe.


Ein mehr als heftiges Déjà-Vu überkommt mich, als ich den Pfad im Wald entlang marschiere. Es ist ziemlich kalt, allmählich verwandelt sich der Herbst zum Winter, das Jahr neigt sich dem Ende zu.
Zum ersten Mal erlaube ich mir, dass meine Gedanken abschweifen, während ich den Fluss entlang gehe. Augenblicklich taucht der Freitagabend wieder vor meinen Augen auf. Milan, ich, der Kuss und die darauffolgende bittere Enttäuschung.
Ich schlinge die Arme um meinen Körper und kann nicht verhindern, dass ich mir wieder diese eine prägnante, aber schier unlösbare Frage stelle: Warum? Warum ist er abgehauen?
Kopfschüttelnd stoße ich die Luft aus und schiebe mühsam die Gedanken beiseite. Als ich am Fuße der Brücke stehe, beginnt mein Herz aufgeregt schneller zu schlagen. Ich streiche mit meiner Hand über das glatte Holzgeländer und will gerade ansetzen, die Verbindung zu überqueren, als ich plötzlich am anderen Endpunkt eine mir bekannte Person ausmache.
Mein Herz bleibt einen ungläubigen Moment lang stehen. Mit großen Augen schaue ich Milan an, welcher am gegenüberliegenden Ende der Brücke steht und mich sieht. Sein Gesicht ist eine einzige versteinerte Maske.
Ich schlucke hart, balle meine Hände zu Fäusten und schreite dann mit zielsicheren Schritten über die Brücke – und bleibe in der Mitte stehen. Ich stütze mich an der Brüstung ab, umfasse krampfhaft das Holz und schaue hinab in die schnelle Strömung.
Mein Atem geht flach, als mir wieder die Bilder des Alptraumes durch den Kopf schießen, wie ich falle, mich jemand ruft und ich schließli–
„Leona“
Ich zucke zusammen.
Milan steht hinter mir, ich kann seine Präsenz deutlich spüren. Doch ich reagiere nicht, starre auf den Fluss unter mir und halte mich am Balken fest, bis meine Knöchel weiß hervortreten.
„Was willst du?“, presse ich mühsam hervor. Eine unbändige Wut hat mich gepackt, die mich zum Zittern bringt. Als Milan meine Schulter berührt, schüttele ich seine Hand hastig ab, als hätte sie mich verbrannt und zische leise.
„Leona, bitte“
Ich wirbele herum und piekse ihm mit dem Zeigefinger in die Brust, während meine Sicht zu verschwimmen beginnt. Etwas lauter wiederhole ich: „Was willst du von mir, Milan?“
Meine Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen.
Auf einmal stürzt alles auf mich ein. Ohne ihn antworten zu lassen, poltere ich weiter mit bebender Stimme. „Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Glaubst du, du kannst mich mal eben um den kleinen Finger wickeln und mich dann einfach fallen lassen? War das dein Plan?“ Ich schnaube verächtlich, kann meinen Redefluss nicht mehr aufhalten. „Das ist wirklich das allerletzte. Ich habe geglaubt, dass zwischen uns… dass wir… ich… - ach verdammt!“
Ich wische mir grob die Tränen weg und wende ihm wieder meinen Rücken zu, hole zitternd Luft. Neben der Wut tauchen auf einmal Frustration und Enttäuschung auf.
Schluchzend stütze ich meine Ellenbogen auf dem Geländer ab und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Ich habe das Gefühl, dass mich urplötzlich die ganzen Emotionen der vergangenen Wochen überrollen und das Fass zum Überlaufen bringen.
„Warum muss alles immer so kompliziert sein?“, jammere ich.
„Leona, es tut mir–“
„Nein, hör auf!“, unterbreche ich ihn grob und schüttele den Kopf. „Du hast ja überhaupt keine Ahnung, keinen blassen Schimmer“
„Dann erklär’s mir“
Ich lache freudlos auf und drehe mich zu ihm um. Aufmerksam schaut er mich an, dabei spiegeln sich so viele Emotionen gleichzeitig in seinem Blick wider: Besorgnis, Angst, Frust, Reue.
Seine grauen Irden fesseln mich. Ungewollt. Ich weiß nicht, wie lange wir uns so schweigend anschauen, ehe auf einmal der nächste Satz über meine Lippen schlüpft, einem Donnerschall gleich: „Eigentlich hätte ich heute sterben sollen“
Milan runzelt die Stirn, dabei zuckt sein Adamsapfel verdächtig. „Wie… wie meinst du das?“
„Ich habe das alles genau geplant und vor drei Wochen meinen Entschluss gefasst, dass ich heute sterben will“, erkläre ich emotionslos.
„Du… du wolltest…“ Milan blinzelt ungläubig. „Du wolltest Selbstmord begehen?“
„Ja“
Mein Herz wummert laut gegen die Brust und ich spüre, wie mich leichter Schwindel erfasst. Jetzt ist es also raus, jetzt habe ich ihm die Wahrheit gesagt.
Milan schüttelt zunächst langsam, beinahe apathisch den Kopf, ehe er immer heftiger seiner Fassungslosigkeit Ausdruck verleiht. „Das glaube ich dir nicht, Leona. Warum solltest du dich umbringen wollen?“
„Weil mich alle gehasst haben!“, brülle ich und schaue ihn wütend an. „Auch du. Und Nia und meine Familie. Am Anfang hat mich doch niemand gemocht, jeder hat mich wie Dreck behandelt“
Bestürzt setzt er einen Schritt zurück.
„Ich konnte einfach nicht mehr. Ich wollte nicht mehr“, fahre ich fort und lehne mich erschöpft an die Brüstung. „Aber dann… dann war auf einmal alles anders“
Schweigen breitet sich aus.
Ich fühle mich unglaublich leer und ausgelaugt, als hätte mich dieses Geständnis jegliche Kraft geraubt. Müde fahre ich mir über das Gesicht und hebe vorsichtig wieder den Blick, um Milan anzuschauen. Er hat sich mir gegenüber an das Geländer gelehnt, sein Blick bohrt sich in meinen.
Ich kann sehen, wie er mit sich kämpft, eine innerliche Diskussion in ihm vonstattengeht. Er wirkt so aufgewühlt und durcheinander, dass es mir bei beinahe Leid tut, ihn so urplötzlich und unvorbereitet mit meiner Aussage konfrontiert zu haben. Aber nun ist es zu spät. Und es gibt kein Zurück.
Milan öffnet den Mund und setzt zum Reden an, schließt ihn dann jedoch abrupt wieder, ehe er ihn wieder öffnet.
„Ich war feige“, beginnt er auf einmal völlig zusammenhangslos.
Verwirrt hebe ich die Augenbrauen, ehe mir klar wird, wovon er spricht.
„Ich weiß, dass es sich nicht gehört, ein Mädchen nachts allein in einer Kneipe zu lassen. Vor allem, wenn man sie vorher geküsst hat. Aber es war alles so… überraschend. Ich hatte das nicht geplant. Ich war verwirrt und hatte Angst vor deiner Reaktion“
„Und deshalb bist du abgehauen?“
Er presst die Lippen aufeinander. „Ich bin Problemen schon immer aus dem Weg gegangen“
„Du siehst mich also als ein Problem?“, frage ich herausfordernd.
Milan seufzt und fährt sich verzweifelt durch das rabenschwarze Haar. „Natürlich nicht, aber - man, für mich ist das alles doch auch ganz neu, du, der Kuss. Ich… ich musste mich erst einmal sortieren und das alles begreifen. Ich hätte nie gedacht, dass du… dass du womöglich das gleiche für mich empfinden würdest. Ich hatte Angst, einfach nur Angst vor diesem unbekannten Gefühl“
Sprachlos schaue ich ihn an.
„Ich war feige. Und es tut mir Leid“, schließt er ab und lässt die Schultern sinken. Er sieht aus wie ein Häufchen Elend und dieser Anblick vom zerknirschten, hilflosen Milan lässt mein Herz zusammenziehen.
Laut stoße ich die Luft aus, während ich seine Worte verdaue.
In meinem Inneren tobt ein Sturm der Gefühle und ich bin hin und hergerissen zwischen meiner Wut und Verbitterung und meiner Anziehung zu Milan.
Ich beiße mir auf die Unterlippe.
„Leona“ Milan macht einige Schritte auf mich zu, ehe er dicht vor mir stehen bleibt. Er hebt seine Hände und umfasst behutsam mein Gesicht als sei es aus Porzellan. Ich zucke bei der Berührung zusammen und hebe stirnrunzelnd den Blick, schaue ihm in die grauen Irden – und erstarre. Die Tränen in seinen Augen lassen mein Herz einen Schlag aussetzen. Nie hätte ich gedacht, dass Milan mir dieses Zeichen von Schwäche und Angst zeigen würde.
Seine Stimme bebt, als er sagt: „Meine Mutter hat mir früher eine Weisheit gesagt, die ich nie vergessen werde“
Stumm schaue ich ihn an, warte darauf, dass er weiterspricht.
Milan holt tief Luft. „›Die Kunst des Lebens besteht darin, die Kraft zu besitzen, Dinge zu akzeptieren, die man nicht ändern kann, den Mut zu besitzen, Dinge zu ändern, die man ändern kann und die Weisheit zu besitzen, diese Dinge zu unterscheiden‹“
Mein Atem geht flach.
Ich bin wie gefesselt von seinen Augen und den Worten, die ich mir noch einmal auf der Zunge zergehen lasse. Ein wenig irritiert frage ich mich zunächst, was Milan mir damit sagen will.
Bin ich etwa stark, weil ich die Dinge akzeptiere, wo ich weiß, dass ich sie nicht – egal mit wie viel Mühe – umformen kann?
Bin ich mutig, weil ich die Dinge, die man ändern kann, tatsächlich eigenhändig in die Hand genommen und umstrukturiert habe?
Und bin ich weise, nur weil ich den Unterschied dieser beiden Dinge erkenne?
Stirnrunzelnd schaue ich Milan an.
Ich fühle mich nicht so, ganz und gar nicht. Dennoch dringen seine Worte direkt in mich ein und scheinen sofort in mein Herz zu übergehen. Bevor ich mich bremsen kann, entfährt mir eine Frage: „Und worin besteht die Kunst zu lieben?“
Milans Lippen kräuseln sich zu einem Lächeln. „Ich schätze, das musst du selber herausfinden“
Ich will gerade etwas erwidern, als sich seine Lippen plötzlich auf meine senken.
Ein Stromschlag durchfährt meinen ganzen Körper.
Sanft streichelt Milan mir über das Gesicht, während er mich so unschuldig und zart küsst, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Seine Hände fahren meinen Rücken hinab und bleiben auf meiner Taille liegen. In meinen Ohren rauscht es, ich nehme nichts anderes mehr wahr außer Milans sündige Lippen, die bei mir ungeahnte Empfindungen hervorrufen. Ein angenehmer Schauer jagt mir den Rücken hinab, während mein Herz aufgeregt gegen die Brust donnert.
Plötzlich zieht Milan mich ruckartig näher zu sich heran, so dass ich erschrocken aufkeuche. Ich pralle gegen seine Brust und klammere mich haltesuchend an seinen Schultern fest, kein Blatt findet mehr zwischen uns Platz. Augenblicklich gewinnt der Kuss etwas Verzweifeltes, wird leidenschaftlicher, berauschender. Meine Hände verirren sich in seinen erstaunlich weichen Haaren und ich lasse mich einfach nur noch in diesen Kuss fallen.
Schließlich löst sich Milan langsam von mir und schaut mich atemlos an. Ich belecke meine geschwollenen Lippen und spüre meinen Herzschlag in jedem einzelnen Muskel.
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Leona“, sagt Milan plötzlich und grinst.
Erstaunt schaue ich ihn an. „Du weißt davon?“
„Natürlich“, entgegnet er belustigt.
„Aber woher…“, setze ich an, ehe es mir dämmert. „Nia“
„Wer sonst?“
Lachend schüttele ich den Kopf.
Mit einem Mal scheint die ganze Anspannung verflogen zu sein, stattdessen fühle ich mich leicht, auch wenn ein bitterer Nachgeschmack bleibt.
Milan streicht mir eine Strähne hinter das Ohr und schaut mich nachdenklich an. „Glaubst du, dass das mit uns Zukunft hat?“
„Ich habe keine Ahnung, Milan“, gebe ich offen zu und seufze. „Aber ich denke, wir sollten es versuchen“
Er nickt zustimmend, sein Blick ist immer noch undurchsichtig. „Versprichst du mir etwas?“
„Was denn?“, frage ich und schaue ihn wachsam an.
„Komme nie wieder auf so einen unsinnigen Gedanken, dein Leben beenden zu wollen, okay? Versprich es mir“, fordert er in einem mehr als ernsten Tonfall.
Geräuschvoll stoße ich die Luft aus und drehe ihm den Rücken zu, so dass ich wieder einen Blick auf den Fluss unter uns werfen kann. Eigentlich bin ich nur deswegen hergekommen, um diese Sache endlich hinter mich zu bringen.
Aus meiner Strickjacke hole ich das Notizbuch hervor, welches mich auf den Weg zu meinem Tod begleiten sollte. Ich muss nicht lange überlegen oder zögern. Es fällt mir nicht schwer, dass Notizbuch fallen zu lassen, so dass es Sekunden später vom Wasser verschlungen wird.
„Ich verspreche es dir, Milan“




ENDE





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Nun ist es also vollbracht, die Geschichte ist zu Ende. Hui.
Ich hoffe wirklich, dass euch der Schluss gefällt, ich habe einige Stunden daran gesessen, immer wieder alles neu geschrieben, weil mir dieses und jenes nicht gepasst hat. Aber nun denke ich, dass ich mit einem guten Gefühl Leona und Co. der Zukunft überlassen kann. :-)

Und noch einmal vielen lieben Dank an alle, die immer fleißig kommentiert haben: Ihr seid die besten! ♥

Liebe, liebe Grüße
I.AMsterdam






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