Die Kunst zu lieben - Teil 12

Autor: I.AMsterdam
veröffentlicht am: 10.01.2013


Da bin ich wieder!
Ich hoffe, ihr hattet schöne Weihnachten und seid gut ins neue Jahr gekommen ;-)
Dieses Kapitel ist etwas länger, aber - wenn ich es mal so sagen darf - nicht sehr actionreich. Nur „der Morgen danach“. :-)
Viel Spaß beim Lesen!
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- Tag 12 -

Als ich die Augen öffne, sehe ich nichts.
Absolut gar nichts.
Die Dunkelheit um mich herum drückt mich ein und für einen kurzen Moment glaube ich blind zu sein. Aber das ist lächerlich.
Ein unangenehmes Pulsieren in meinem Schädel lässt mich schmerzverzerrt eine Grimasse verziehen, dazu kommt noch, dass mein Nacken wehtut und mein linker Fuß eingeschlafen ist.
Ich runzele die Stirn. Wo zur Hölle bin ich?
Ächzend setze ich mich in meiner verdrehten Position auf, ramme meinem Ellenbogen gegen eine dünne Wand und spüre im nächsten Moment mehrere weiche Stoffe in meinem Gesicht.
Was zum…?
Erschrocken fuchtele ich mit meinen Händen an dem Gewebe rum, stoße mir dabei den Kopf an der Wand hinter mir und schaffe es einfach nicht, die Textilien aus meinem Gesicht zu bekommen. Erst dann trifft mich blitzartig die Erkenntnis, die mich stöhnend an den Kopf fassen lässt. Das kann doch nicht wahr sein!
Tief atme ich durch.
Ich befinde mich in einem Kleiderschrank. Warum ich hier hineingegangen bin, will ich mich erst gar nicht fragen. Meine Gedanken sind völlig durcheinander und nur mühsam schaffe ich es, mein Gehirn einzuschalten.
Das ist überhaupt nicht gut.
Mit einem Ruck stoße ich die Schranktür auf und kneife zischend die Augen zusammen, weil die plötzliche Helligkeit im Raum mich überrascht. All meine Glieder schmerzen und protestieren, als ich mit wackligen Knien aus dem Kleiderschrank krabbele und mich schließlich vorsichtig erhebe. Mein ganzer Kreislauf ist KO, ich seufze schwer.
Langsam schaue ich mich um.
Dass ich mich in einem Schlafzimmer befinde, ist keine Verwunderung. Vielmehr lassen mich die beiden Gestalten auf dem Doppelbett eine Augenbraue zücken. Ich kenne sie nicht und ehrlich gesagt, will ich sie mir auch gar nicht näher anschauen.
Wie zwei Leichen liegen sie auf den Matratzen und ein kalter Schauer fährt meinen Rücken hinab. Ich schüttele mich.
Hastig verlasse ich das Schlafzimmer, jeder Schritt sendet einen Impuls an meinen Kopf, welcher daraufhin einen fiesen Giftzwerg animiert mit seinem Hammer gegen meine Schädelwand zu klopfen.
Ich streiche mir ein paar verfilzte Strähnen aus dem Gesicht und wage es das erste Mal an mir hinabzuschauen: Laufmaschen befinden sich in der Strumpfhose, der Rock ist zerknittert, das Oberteil besitzt einen eigenartigen, großen, dunklen Fleck und ich stinke.
Das ist absolut furchtbar.
Als ich die Tür hinter mir schließe, lehne ich mich stöhnend an die Wand und vergrabe in einem Anflug von Scham und Verzweiflung mein Gesicht in den Händen.
Das kann alles nicht wahr sein!
Ich erinnere mich an nichts, überhaupt nichts und ich fühle mich schmutzig! Was habe ich mir nur dabei gedacht?

Mit einem frustrierten Seufzen werde ich mir der Tatsache bewusst, dass ich mich in einer miesen Situation befinde. Der Wunsch, nach Hause zu gehen, mich duschen zu können und anschließend in mein Bett zu flüchten, wird übermächtig.
Ich stoße die Luft aus.
Es ist sehr still im Haus. Unwillkürlich frage ich mich, wie viele leichenähnliche Opfer des Drogenkonsums hier noch liegen, sich an nichts mehr erinnern können und sich beim Aufwachen wohl genauso schmutzig fühlen wie ich mich.
Und so etwas findet Yoel toll?
Ich kann mir nicht vorstellen, wie man daran Gefallen finden soll, es ist mir unbegreiflich. Aber andererseits habe ich mich selbst auch verführen lassen, jedoch zum ersten und - ganz sicher - letzten Mal.
Noch immer ein wenig wacklig auf den Beinen gehe ich den Flur entlang und schließlich die Treppe hinunter, wo ich mit jeder Stufe ein wenig mehr von dem Chaos entdecke.
Das sieht überhaupt nicht gut aus.
Überall liegen Pappbecher, die Möbel sind verrückt worden, Reste von leckeren Knabbereien liegen zerstreut auf dem Teppich, ein miefiger Gestank hängt in der stickigen Luft, alles ist aus dem Ruder gelaufen.
Und mein Verdacht bestätigt sich: Auf einen Schlag kann ich neun Leute erkennen, die in einem Krimi gut als Leiche fungiert hätten. Mit blassem Gesicht, offenem Mund und scheinbar schon den Winterschlaf vorziehend, liegen sie auf dem einst beigen Teppichboden oder auf der Couch.
Ich schaudere.
Dieser Anblick ist nicht schön. Wäre ich urplötzlich per Teleportation hier gelandet, ich hätte wahrhaftig geglaubt, diese schlafenden Partygäste seien tot. Und da mich nun doch ein mulmiges Gefühl beschleicht, beuge ich mich zu der erstbesten Person auf dem Sofa hinunter und suche am Hals nach seinem Puls.
Erleichtert atme ich aus, als ich das stetige Pulsieren unter meinen Fingern spüre. Ich ziehe meine Hand wieder weg und lasse meinen Blick kurz über den Körper und das Gesicht streifen.
„Oh mein Gott!“, wispere ich heiser.
Scharf sauge ich die Luft ein und stolpere erschrocken ein paar Schritte rückwärts. Meine Augen weiten sich ungläubig.
Yoel sieht furchtbar aus.
Sein blondes Haar klebt ihn im bleichen, erschlafften Gesicht. Die Mundwinkel sind heruntergezogen und schwarze Ringe befinden sich unter seinen Augen.
Dieser Anblick stimmt mich traurig.
Was ist aus dem blonden Schönling geworden, welcher solch eine sympathische Ausstrahlung besitzt und jedem ein gewinnendes Lächeln schenkt? Ist dies etwa sein wahres Gesicht, welches er hinter der Fassade versteckt? Die traurige Realität?
Ich kann es nicht glauben.
Sind wir denn alle zum Scheitern verdammt? Besitzt jeder von uns eine Hauptrolle im Theater, die er meisterhaft spielt, nur um von dem Elend und der Trostlosigkeit hinter dem Vorhang abzulenken?
Meine Lippen bilden eine schmale Linie.
Urplötzlich spüre ich, wie sich eine Erinnerung von der Party in meinem Kopf anbahnt. Ich weiß, dass ich gestern mit Yoel getanzt und irgendeinen Unsinn vom Gewitter gefaselt habe. Dann setzte mein Filmriss ein.
Doch nun überrollt mich langsam ein Flashback, zögernd und schleichend wie eine Ringelnatter. Alles, was ich während der Erinnerung sehe, ist nichts als Dunkelheit. Dafür ist das Gefühl umso intensiver, welches ich bei dem Rückblick verspüre. Mein Bauch kribbelt vor Aufregung und Glücksgefühle durchströmen mich, als wäre… als würde ich…
– Mein Herz setzt einen Schlag aus.
Ruckartig kommt die Erkenntnis - einem Schlangenbiss ähnlich - und siedend heiß läuft es mir den Rücken hinab. Meine Wangen fangen an zu glühen; ich muss meinen Blick von Yoel abwenden.
Die Dunkelheit in meiner Erinnerung ist logisch, denn ich habe die Augen geschlossen. Ich habe die Augen geschlossen, um zu genießen. Weil dieses Gefühl mich berauscht hat, mich alles vergessen ließ.
Yoel…
Er hat mich geküsst.
Oder ich ihn? - Egal. Wir haben rumgeknutscht, uns aneinander festgeklammert, als hätten wir Angst zu ertrinken, von dem Strudel der Gefühle mitgerissen zu werden, zu schnell in die Wirklichkeit wiederzufinden.
Es war ein aufregendes, ungewohntes Gefühl. Und doch hatte ich gleichzeitig den Eindruck auf der Jagd zu sein, mich beeilen zu müssen. Dass uns nicht sehr viel Zeit blieb. Vielleicht, weil wir beide wussten, dass dies nur ein einmaliger Augenblick war? Ein einziger Moment, um zu vergessen, was uns auf den Schultern lastet, um das Gefühl vortäuschen zu können, geliebt zu werden.
Ich kann es nicht in Worte fassen.
Das war mein erster Kuss. Mein erster Kuss!
In meinen kindischen Vorstellungen habe ich ihn mir immer sehr romantisch vorgestellt, sanft und vorsichtig. Aber dies war kein Kuss der Liebe. Es war ein Kuss der Verzweiflung, weil Yoel und ich beide verdrängen wollten.
Traurig schüttele ich mit dem Kopf.
Ein neuer Gedankenstrom bricht über mich ein und ich frage mich, ob das alles, die Party, überhaupt sinnvoll war. Ich war übermütig, wollte mich aus meinen Fesseln befreien, etwas riskieren. Eine Zeitlang einfach nur leben.
Habe ich versagt?
Einerseits rede ich mir ein, dass es richtig war hierherzukommen. Ich habe mich meinem Vorsatz wiederstellt, alle Regeln und Normen über Bord geworfen, meine Erfahrung erweitert, die Courage aufblühen lassen.
Das war mutig.
Und gleichzeitig sehr dumm.
Was nützt es mir, für ein paar Stunden glücklich zu sein, wenn ich dieses Gefühl der Freude nur ungenau in Erinnerung habe? Wenn alles für die Katz war?
– Vielleicht das Wissen?
Das Wissen, dass ich es gewagt habe? Dass ich mich getraut habe?

Ich seufze schwer.
Irgendetwas ist mit mir passiert, das weiß ich.
Hätte ich nicht Cloe kennengelernt, nicht die Tablette geschluckt, dann wäre ich wohl weiterhin die brave Musterschülerin aus der reichen Familie gewesen. Unerfahren. Unbeliebt. Das verklemmte Mädchen, welches sich nicht traut, gegen ihre egoistischen Eltern zu rebellieren und sich lieber hinter dem Schein verkriecht, als diesen Augenblick zu nutzen, um sich selbst zu befreien.
Aber ich habe es getan.
Ich habe gegen die Prinzipien die Hand gehoben, habe mich für ein paar Stunden gemocht gefühlt. Ich habe die Blockade… gelöst?
Sollte ich mir sie dann nicht wieder aufbauen, nur weil die jetzige Situation mir Angst einjagt? Weil ich mich vor diesem ungewohnten Umstand fürchte und lieber in die alte Verhaltensregel zurückfalle?
Ich schüttele den Kopf.
In meinem Kopf herrscht ein heikles Durcheinander, ich bin total verwirrt.
War es gut, dass ich es getan habe?
Was es falsch?
Ich befinde mich in einem Zwiespalt, der mich nicht mehr loslässt. Und doch muss ich mich bald auf eine Seite schlagen.

Mit einem letzten Blick auf Yoel drehe ich mich um und gehe schnellen Schrittes durch das Wohnzimmer, weg von dem Chaos, der Erinnerung.
Meine Hände zittern, als ich die Tür öffne, welche zum Waschraum des Hauses führt, wo die Gäste all ihr Hab und Gut ablegen durften. Ein ganzer Haufen voll Jacken kommt zum Vorschein.
Es dauert nicht sehr lange, bis ich meinen Mantel und die Handtasche gefunden habe. Ich zücke mein Handy hervor und staune nicht schlecht, als ich die Ziffern der Uhr erkenne. Halb Elf.
Mein Mobiltelefon teilt mir mit, dass ich 6 verpasste Anrufe von Nia habe, dazu kommen noch zwei Nachrichten von ihr.
»6:48 Uhr - Alles okay, Leona? Ich mache mir Sorgen! Warum kommst du nicht nach Hause, ist etwas passiert?«
»7:16 Uhr - Ruf mich sofort an, sobald du die SMS liest!«
Ich beiße mir auf die Unterlippe und tippe hastig ihre Nummer ein. Ein sehr schlechtes Gewissen beschleicht mich, weil ich meine Freundin so im Unwissen gelassen habe und sie mit Sicherheit mehr als beunruhigt war. Verständlicherweise.
Die Schuldgefühle schießen vorwurfsvolle kleine Pfeile in mein Herz.
Es dauert ein paar Sekunden, ehe ich Nias verschlafene Stimme am anderen Ende der Leitung wahrnehme. Mein lebenswichtiges Organ donnert aufgeregt gegen die Brust.
„Hallo?“, murmelt sie und seufzt in den Hörer hinein.
„Nia? - Ich bin’s, Leona!“, melde ich mich hektisch zu Wort.
„Leona?“, fragt sie verwirrt, ehe sie - scheinbar mit einem Schlag hellwach - meinen Namen wiederholt, in dem sie laut ausruft: „Leona!“
Ein kleines Lächeln huscht über mein Gesicht.
„Oh mein Gott! Ist alles okay bei dir, geht es dir gut? Ist etwas passiert, wo bist du? Sag schon!“, sprudelt sie auch schon gleich los.
Sofort beschwichtige ich sie: „Mir geht es gut - naja, ich habe Kopfschmerzen, aber mir ist nichts passiert. Abgesehen davon, dass ich es wohl ein wenig übertrieben habe. Die ganze Party ist aus dem Ruder gelaufen“
„Wo bist du?“
„Immer noch hier. Ich habe die Nacht in einem Kleiderschrank verbracht“
„Was…?“
„Frag mich nicht! Ich kann mich nur an die Hälfte erinnern“, gestehe ich und fahre mir mit einer Hand über das Gesicht. „Nia, es tut mir so leid, dass ich mich nicht bei dir gemeldet habe. Wirklich. Diese Party, sie… ich… - es ist alles anders gekommen, als gedacht“
Kurz herrscht Stille am anderen Ende. „Ich habe mir richtige Sorgen gemacht, Leona. Ich dachte, dir wäre etwas passiert und du kannst mich deswegen nicht anrufen“
Der leise Vorwurf in ihrer Stimme verstärkt die Schuldgefühle in mir.
Nervös fummele ich an dem Saum meines Shirts rum und nage an meiner Unterlippe.
„Es tut mir leid“, erwidere ich kleinlaut.
Nia stößt einen langen Seufzer aus. „Belassen wir es einfach dabei, du hast dich ja nun gemeldet. Viel wichtiger ist, wie du wieder nach Hause kommst. Deine ganzen Sachen sind noch bei mir“
„Das wäre meine nächste Frage gewesen“, antworte ich. „Ich denke, ein Taxi wäre das Sinnvollste, oder nicht?“
„Hast du dir die Adresse des Hauses gemerkt?“
„Sophie-Scholl-Straße 27“
„Oh, die Widerstandskämpferin“, bemerkt Nia, bezüglich des Straßennamens.
Überrascht hebe ich die Augenbrauen, das ist mir vorher gar nicht aufgefallen.
In einem kleinen Anflug von Naivität frage ich mich, ob der Name - Sophie Scholl - etwas zu bedeuten hat. Doch im nächsten Moment schüttele ich energisch den Kopf, was für ein Unsinn! Und selbst wenn es so sein sollte, sehr schön wäre die Bedeutung ohnehin nicht, immerhin ist die gute Frau am Ende mit dem Kopf auf der Guillotine gelandet. Also verwerfe ich diese Idee schnell wieder.
„Pass auf, Leona“, beginnt meine beste Freundin und befreit mich so aus meinen sinnlosen Gedankengängen. „Ich will dich nicht alleine rumfahren lassen. Mama und ich werden dich abholen“
„Ist das dein ernst?“, frage ich erstaunt.
„Natürlich. Wir fahren gleich los und sind dann in einer Viertelstunde bei dir, okay?“
„Ähm“, überrumpelt mit der Situation, kratze ich mich am Kopf. „Also schön. Wenn es deiner Mutter nichts ausmacht…“
„Ach, Quatsch. Die ist wegen Céline sowieso schon seit ein paar Stunden auf den Beinen. Wir sind also gleich bei dir, okay?“
„Das ist lieb von euch. Danke!“
Wir verabschieden uns und kurz darauf lasse ich mein Handy wieder in der Handtasche verschwinden.


Eine halbe Stunde später - ich befinde mich schon längst im warmen Auto - biegt Frau Ammedick in die Straße ein, in der ich wohne.
Nia hat während der ganzen Fahrt keine einzige Frage gestellt, mich nur einmal skeptisch gemustert, aber nichts dazu gesagt. Ich bin ihr dankbar dafür.
Sie hat mir angeboten, dass ich mich noch vorher bei ihr Zuhause umziehen kann, bevor ich nach Hause gebracht werde, doch ich habe abgelehnt.
Sollte meine Mutter Verdacht schöpfen und ihr Lieblingsspiel - Verhör - mit mir spielen wollen, dann werde ich ihr kurz und knapp die Wahrheit sagen. Zumindest habe ich es mir in der Theorie so vorgestellt.
Nun, wo ich mich kurz vor dem Ziel befinde, werde ich doch ein wenig nervös und finde meine Idee nicht mehr so schlau und mutig. Mein Herzschlag nimmt an Fahrt auf und aufgeregt belecke ich meine Lippen. Für einen Rückzieher ist es zu spät.
Das Auto bleibt vor dem Grundstück stehen, der Motor verstummt und die darauffolgende Stille kriecht mir unangenehm den Rücken hoch.
Tief hole ich Luft.
„Danke, dass Sie mich gebracht haben“, wende ich mich an Nias Mutter, welche freundlich lächelt.
„Oh bitte, nicht diese förmliche Anrede! Duze mich einfach, sonst komme ich mir immer so schrecklich alt vor“, lacht sie.
Nia verdreht die Augen. „In der Schule werden wir von den Lehrern auch gesiezt, Mama. Und trotzdem empfinden wir uns nicht als alt.“
„Das ist auch etwas anderes, außerdem seid ihr ja auch noch jung. Es geht darum, dass ich das so unpersönlich finde, vor allem bei Leuten, die man kennt“, erklärt sie und ich verkneife mir ein belustigtes Lächeln, weil diese Diskussion zwischen Mutter und Tochter einfach sinnlos ist.
Nia seufzt genervt und öffnet die Beifahrertür. Schnell beeile ich mich, ebenfalls aus dem Auto zu steigen und verabschiede mich noch hastig von ihrer Mutter.
Meine beste Freundin öffnet den Kofferraum und holt meinen Rucksack hervor, welchen sie mir ein wenig zu grob in die Hand drückt.
„Hier - ich hoffe, deine Mutter reißt dir nicht den Kopf ab“, sagt sie und schließt mit einem lauten Knall die Kofferraumtür.
Ich lächele unsicher. „Mein Testament habe ich vorsichtshalber schon geschrieben“
Ihre Mundwinkel zucken kurz.
Unangenehmes Schweigen dehnt sich zwischen uns aus und ich kann deutlich spüren, dass Nia etwas bedrückt. Doch scheinbar ist sie nicht gewillt, mit der Sprache rauszurücken.
Stattdessen presst sie die Lippen aufeinander und streicht sich fahrig eine Strähne hinter das Ohr. Es gefällt mir nicht, dass sie sich so… distanziert verhält. Am Telefon klang sie noch nett, doch nun sind ihr wohl während der Autofahrt viele Gedanken durch den Kopf gegangen.
„Also gut, wir sehen uns dann morgen in der Schule, im Geschichtsunterricht“, rattert sie schnell herunter und wirbelt - ohne meine Erwiderung abzuwarten - herum.
Ich blinzele überrascht. „Nia, warte kurz!“
Sie bleibt neben der Beifahrertür stehen und dreht sich zu mir um.
Traurig schaue ich sie an. „Es tut mir leid. Alles. Dass ich dich nicht angerufen habe, dass ich dich mit den Sorgen allein gelassen habe. Das war nicht richtig“
„Hast du bereits schon erwähnt“, murmelt sie.
Ich schüttele verständnislos den Kopf. „Was ist denn los? Warum bist du so… so griesgrämig?“
„Ich habe nun einmal einen schlechten Tag, okay?“, fährt sie mich an. „Ich habe weniger als zwei Stunden geschlafen - wegen dir! Da ist es kein Wunder, dass ich hundemüde bin und dementsprechend einfach keine Lust habe, Friede Freude Eierkuchen vorzutäuschen“
Ertappt presse ich die Lippen aufeinander und schlucke schwer.
„Weißt du, ich habe mir den heutigen Tag so anders vorgestellt“, gesteht sie und fährt sich durch die braune Mähne. „Wenn wir beide ausgeschlafen haben, frühstücken wir in Ruhe, reden ein bisschen, gucken vielleicht einen Film - oder machen irgendetwas anderes, was Freundinnen nun einmal tun“
Ihre Miene ist verbittert.
„Aber stattdessen wachst du verkatert in einem Kleiderschrank auf und ich werde von deinem Anruf geweckt. Meine Sorgen waren völlig umsonst. Alles war umsonst“
Ihre Enttäuschung ist nicht zu überhören und es tut mir im Herzen weh. Nia so traurig zu sehen und zu wissen, dass ich der Grund für ihre Erschütterung bin, das ist kein schönes Gefühl.
Mein Mund öffnet sich, schließt sich aber gleich darauf wieder. Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll, alle Worte kommen mir banal und falsch vor.
„Auf Wiedersehen, Leona“
Nia öffnet die Autotür und verschwindet im Wagen. Kurz darauf wird der Motor gestartet und das Auto setzt sich in Bewegung.
Eine seltsame Leere erfüllt mich, die ich nicht beschreiben kann.
Ausdruckslos starre ich dem silbernen Opel Corsa hinterher, beobachte, wie er in die nächste Straße einbiegt und verschwindet.


••

Das aufgeregte Gezeter meiner Mutter, nachdem ich ihr die Wahrheit erzählt habe, prallt an mir ab. Nur dumpf nehme ich ein paar Wortfetzen wahr.
„… so haben wir dich nicht erzogen!“
„… was hast du dir nur dabei gedacht?“
„… du bist eine Schande, wenn du…“
„… eine Woche Hausarrest!“
Es kümmert mich nicht.
Ich bin müde, mit den Nerven am Ende, möchte duschen und mich dann endlich - endlich! - in mein Bett kuscheln. Ist das zu viel verlangt?
Scheinbar schon.
Aber wahrscheinlich geschieht es mir auch recht, denn das schlechte Gewissen klebt nach wie vor wie Klettenlabkraut an mir - bloß sehr viel hartnäckiger.
Geschlagene zehn Minuten schimpft Mama mit mir, gestikuliert wild mit ihren Händen und hat sich in Rage geredet. Mit einer teilnahmslosen Maske lehne ich am Küchentresen, nippe ab und zu am Wasserglas und habe meine Ohren auf Durchzug gestellt.
Ihre laute Stimme scheint dem Giftzwerg hinter meiner Schädelwand mehr Ehrgeiz zu verschaffen, mich mit Kopfschmerzen zu quälen. Arrgh!
Ich versuche mich abzulenken, zähle in meinem Kopf bis ins Unendliche. Doch dann auf einmal tauchen während des keifenden Monologs meiner Mutter urplötzlich und ohne, dass ich damit gerechnet habe, weitere Erinnerungsfetzen der Party in meinem Kopf auf. Schnell kann ich sie zu seinem etwas verwirrten Bild zusammensetzen, welches wie folgt aussieht:
Nachdem Yoel und ich uns geküsst haben und atemlos gegenüber standen, wurde ihm auf einmal speiübel. Ich erinnere mich, wie ich ihn in gespielter Empörung gefragt habe, ob der Kuss so schlecht gewesen sei, er daraufhin nur mit einem quälenden Lächeln verneint hat und dann ins Badezimmer gestürmt ist.
Gott, ist das peinlich!
Ich habe eine gefühlte Ewigkeit darauf gewartet, dass er wiederkam. Aber er tauchte nicht mehr auf. Und als mich dann ausversehen jemand angerempelt hat, so dass sich der Inhalt seines Bieres auf mein Shirt verteilte - daher also der mysteriöse, dunkle Fleck! -, habe ich in meiner verdrehten Logik das fremde Schlafzimmer aufgesucht, um mich umzuziehen.
Scheinbar ist ein Gedankensprung nach dem anderen gefolgt, denn nachdem ich die Kleiderschranktür geöffnet und skeptisch die vielen Kleider an den Bügeln gemustert habe, überkam mich eine seltsame Müdigkeit. Und ehe ich mich versah, habe ich es mir schon im Schrank gemütlich gemacht und bin einfach eingenickt. Obwohl drei Meter weiter ein Doppelbett stand.
Ich schüttele den Kopf.
Nur die Tatsache, dass mir immerhin nichts passiert ist, ich keinen Unsinn - außer vielleicht den Kuss - gemacht und mich vor den anderen nicht blamiert habe, beruhigt mich ein wenig. Im Grunde genommen kann ich doch stolz auf mich sein.
Ha-ha-ha.



Mit einem langen Seufzer lasse ich mich auf das Bett fallen.
Noch nie hat sich meine Matratze so wunderbar und gemütlich angefühlt wie jetzt und doch stimmt es mich nicht so heiter, wie ich es mir erhofft habe. Diese Gewissenbisse sind gemein, viel zu anhänglich und können einem wirklich die Laune verderben - obwohl meine sowieso schon im Keller war.
Ich drehe mich auf die Seite, taste träge mit meiner Hand über meinen Nachttisch entlang auf der Suche nach meinem Notizblock für den Countdown. Dabei schmeiße ich meinen Wecker um und betätige ausversehen das Licht meiner Lampe mit Touch-Funktion, die schon bei einer zaghaften Berührung für Helligkeit sorgt.
Doch das kleine Büchlein ertaste ich nicht.
Ächzend setze ich mich auf und runzele irritiert die Stirn, als ich mit meinen Augen den Nachttisch abtaste, aber den Block nicht finden kann. Erst dann kommt mir in den Sinn, dass ich ihn ja in den Rucksack gesteckt habe, mit zu Nia.
Also erhebe ich mich wieder, verlasse nur ungern meinen Wärmespender und wühle die Tasche durch. Ich muss heute einen Eintrag in das Buch machen, denn mir ist klar, dass sobald ich im Bett liege und die Augen schließe, sofort einschlafen werde. Obwohl ich mir meinem Vorhaben überhaupt nicht mehr sicher bin, will ich das Ganze nicht einfach abbrechen. Ich gebe mir selber Zeit zum Nachdenken und Überlegen, bis zu meinem Geburtstag. Dann muss ich eine Entscheidung getroffen haben. Und ich hoffe, dass es die richtige sein wird.
Eine leichte Unruhe packt mich, als ich den Notizblock nach mehrerem Durchstöbern nicht finden kann. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass ich ihn in die Seitentasche gesteckt habe, die eigentlich als Flaschenbehälter dient. Doch dort ist er nicht mehr vorhanden.
Ich schlucke hart und kippe schlussendlich den ganzen Inhalt einmal aus. Fahrig wühle ich in dem kleinen Haufen rum - finde aber nicht den Notizblock.
Das kann doch nicht sein!
Ich weiß ganz genau, dass ich das Büchlein da–
Nia.
Mir fällt es wie Schuppen von den Augen.
Hat sie es etwa daraus genommen und womöglich die Seiten durchgeblättert? Einfach gelesen? Oder ist der Block vielleicht rausgefallen, immerhin besitzt die Seitentasche eine Öffnung, die man nicht verschließen kann.
Zitternd streiche ich mir eine rötliche Strähne hinter das Ohr und verfluche mich im Stummen selbst. Oh, wie dumm von mir, dass ich das Buch genau darein getan habe! War doch klar, dass es dort unsicher ist!
Mein Herz fährt in einem rasanten Galopp gegen die Brust, allerlei schlimme Vorstellungen machen sich in meinem Kopf breit. Ich hoffe inständig, dass Nia dieses Buch nicht gelesen hat.
Denn ansonsten befinde ich mich eindeutig in großen Schwierigkeiten und Erklärungsnöten. Wie soll ich Nia in so einem Fall nur begreiflich machen, dass all die Zeichnungen, vor allem aber die letzte, der 27. Oktober, wo ich schon mit großen dicken Buchstaben »Mein Ende« hingeschrieben habe, nichts ist, worüber sie sich Sorgen machen müsste?
Verzweifelt reibe ich mir über das Gesicht und finde ich einfach keine Antwort. Es gibt keine raffinierte Lüge. Nur die grausame Wahrheit.







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