Die Kunst zu lieben - Teil 13

Autor: I.AMsterdam
veröffentlicht am: 31.01.2013


Halli Hallo :-)
Erst einmal vielen lieben Dank wieder für eure Kommentare! Diesmal hat es etwas länger gedauert, ich mache zurzeit ein Praktikum und habe dementsprechend - mal wieder - nur wenig Zeit.
Aber hier ist er nun, der nächste Teil! Violà! Und diesmal wird auch Milan wieder auftauchen…
LG


- Tag 13 -

In 8 Tagen habe ich Geburtstag.
In 8 Tagen stehe ich wohl vor der - bisher - schwersten Entscheidung meines Lebens.
Schnell und unaufhaltsam kommt das Datum auf mich zu und ich kann nichts dagegen tun. Absolut gar nichts.
Kopfschüttelnd richte ich meinen Blick wieder auf den Geschichtslehrer, versuche seinen Worten zu lauschen und den Sinn darin zu verstehen. Doch das ist gar nicht so einfach, wenn die Gedanken immer wieder abschweifen - und zwar ständig zu dem ein und demselben Thema.
Beinahe automatisch wandern meine Augen zu Nia, welche eine Reihe schräg vor mir sitzt und gelangweilt etwas auf ihrem Block kritzelt. Ihr braunes Haar hängt wie eine Gardine vor ihrem Gesicht und macht es mir somit unmöglich, Blickkontakt mit meiner besten Freundin herzustellen. Zu gerne würde ich etwas in ihrer Mimik sehen wollen, wenn sie kurz zu mir schauen würde. Ein Indiz, eine Emotion, irgendetwas. Aber Nia hält ihren Blick gesenkt.
Ich presse die Lippen aufeinander und atme tief durch.
Dies ist die letzte Schulwoche. Dann fangen - zur Freude aller Schüler und Lehrer - die Herbstferien an, sprich: Zwei Wochen lang einfach nur die Augen schließen und sich zurücklehnen. So zumindest sieht es in der Vorstellung aus.
Für mich sind Ferien Himmel und Hölle zugleich. Einerseits profitiere auch ich wie jeder andere von den freien Tagen, habe mehr Zeit für mich, kann gehässigen Leuten aus dem Weg gehen und einfach mal den Kopf abschalten. Doch zugleich ist genau das - die Ruhe für mich selbst - mein Untergang. Ich denke zu oft, zu lange, zu intensiv nach. Zudem hocke ich zu sehr mit meinen Eltern und meiner Schwester zusammen. Das ist alles andere als gut.

••

Nachdem ich heil den Nachmittagsunterricht überstanden habe, mache ich mich auf den Weg nach Hause. Ein eisiger Wind weht mir in das noch immer gerötete Gesicht, welches aufgrund der anstrengenden Sportstunde eine tomatenähnliche Farbe angenommen hat. Diese werde ich wohl nicht so schnell los.
Doch im Moment ist das mein kleinstes Übel, denn das mysteriöse Verschwinden meines Notizblockes ist nach wie vor der Kerngedanke meiner wirren Grübeleien. Noch immer hoffe ich, dass Nia nichts damit zu tun hat. - Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr schrumpft auch die Hoffnung.
Eigentlich brauche ich mir nichts vorzumachen.
Nia hat es gelesen.
Da führt kein Weg dran vorbei. Es muss einfach so sein.
Schluss. Aus. Ende.

Ich höre Schritte, die mir folgen. Verwundert drehe ich mich um und sofort schnellen meine Augenbrauen gen Haaransatz. Wenn man vom Teufel spricht…
Meine beste Freundin zuckt ertappt zusammen, als sie meinem fragenden Blick begegnet.
„Hey“, begrüßt sie mich mit einem unsicheren Lächeln.
„Hi“
Ihr Verhalten ist der komplette Gegensatz zu gestern. „Ich, ähm… können wir reden?“
Ach, auf einmal will sie doch mit mir kommunizieren?
Ich unterdrücke ein Schnauben und komme nicht drum rum ihr einen kurzen finsteren Blick zuzuwerfen. Doch meine Verärgerung verfliegt schnell.
Augenblicklich wird mir bewusst, worauf Nia überhaupt hinaus will, so dass sich mein Herzschlag rasant beschleunigt. Ich straffe die Schultern und versuche eine neutrale Miene aufzusetzen. Aber das nervöse Zucken meiner Mundwinkel verrät meine Unruhe. Ich räuspere mich.
„Klar“, erwidere ich und schlucke hart. Ich weiß nicht, wo das Gespräch hinführen wird, doch eines ist sicher: Es wird in einer Katastrophe enden.
Nia kommt ein paar Schritte auf mich zu, spielt nervös mit ihren Händen und senkt verlegen den Blick. „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll…“
Ich halte in stillem Erwarten die Luft an.
„Gestern, da… habe ich mich ziemlich mies dir gegenüber verhalten. Das war gemein von mir“, seufzt sie.
Mit einem Seufzen stoße ich den Atem wieder aus. Beinahe hätte ich aufgelacht. Sie will sich nur entschuldigen. Sie war gestern müde, enttäuscht und hatte einfach einen schlechten Tag. Das hat nichts mit dem Notizblock zu tun, welcher urplötzlich verschwunden ist.
Sie will sich nur entschuldigen.
„Ist schon okay“, sage ich. „Ich nehme es dir nicht übel. Man kann nicht immer gut gelaunt sein, das verstehe ich“
Fahrig beleckt sich die Brünette die Lippen. Ihre Augen huschen kurz zu mir, ehe sie schnell wieder ihren Blick auf den Boden heftet und nickt.
Eine eigenartige Stille dehnt sich zwischen uns aus, die die Nackenhaare bei mir aufstellt. Ich habe das mulmige Gefühl, dass Nia noch nicht ganz die Sprache rausgerückt hat. Dass ihr immer noch etwas auf dem Herzen liegt.
„Sonst noch etwas?“, frage ich also freundlich.
Nia beißt sich auf die Unterlippe, auf einmal wirkt sie sehr verzweifelt. Sie schaut zu mir hoch und sieht mich mit einem beinahe schon flehenden Ausdruck in den Augen an. Sie hält meinem erschrockenen Blick stand.
„Willst du dich … Hast du vor dich…“, beginnt sie stotternd, stockt dann jedoch und presst die Lippen aufeinander.
Aufgeregt donnert mein Herz gegen die Brust und ich spüre, wie es mir eiskalt den Rücken hinab läuft - und das nicht wegen des kühlen Windes.
Nia setzt auf einmal ihre Tasche auf den Boden ab und kramt darin rum.
„Hier. Das gehört dir“, sagt sie.
Ich reiße die Augen auf und ziehe scharf die Luft ein, als ich das Notizbuch in ihren Händen sehe. Mein Herz setzt einen Schlag aus.
Ach du Scheiße!


„I-ich, also ich… Das ist…“, stammele ich mit leichenblassem Gesicht und starre dabei unentwegt auf den Notizblock. Mir fehlen die Worte.
„Es ist aus deinem Rucksack gefallen, als ich ihn vom Boden aufgehoben habe. Kurz bevor Mama und ich losgefahren sind, um dich abzuholen“, erklärt Nia mit bebender Stimme. „Deswegen war ich gestern auch so garstig. Ich war komplett durch den Wind und… Ich wollte wirklich nicht reinschauen, aber als diese eine Seite aufgeschlagen war, da… Ich kann es einfach nicht fassen!“
„Du hast es gelesen?“
„Ja. Alles“, gesteht sie. „Am Anfang war ich noch verwirrt, was das zu bedeuten hat. Dann bin ich dahinter gestiegen, dass der 28. Oktober dein Geburtstag ist. Und schließlich habe ich verstanden, was du an diesem Tag… vorhast.“
Bei mir dreht sich alles Karussell. Das kann nicht wahr sein. Das ist irgendein schlimmer Alptraum! Bitte!
Mit ernstem Gesichtsausdruck schaut Nia mich an. Es fällt ihr sichtbar schwer, die nächste Frage zu stellen.
„Leona. Ist das wahr, dass du... dass du…“, sie bricht ab, kann die scheinbar so schockierenden Worte nicht aussprechen.
Mein Mund ist staubtrocken, als würde eine Wüste darin leben. Ich schlucke hart, es tut in meinem Hals weh. Aber noch viel mehr schmerzt mein Inneres.

Es war alles umsonst.
Mein ganzer Plan, der Countdown - alles für nichts.
Es ist überhaupt nicht so gelaufen, wie ich es mir vorgestellt habe. All diese plötzlichen Veränderungen in meinem Leben haben dazu geführt, dass mein Wunsch zu sterben ziemlich geschrumpft ist.
Das war so nicht vorgesehen.
Ich beiße mir auf die Unterlippe, so dass ich Blut schmecke.
„Ja, du hast es richtig interpretiert“, beantworte ich Nias unausgesprochene Frage flüsternd und senke den Blick. Da wollte ich ein einziges Mal mein Leben selbst in die Hand nehmen - und alles geht den Bach hinunter.
Nia sieht mich entgeistert an. „Das kann doch nicht dein ernst sein, Leona! Das ist verrückt, völlig hirnlos!“
Trotzig presse ich meine Lippen zu einer schmalen Linie und ziehe die Augenbrauen zusammen. Sie versteht es nicht.
„Wie kannst du es wagen, überhaupt daran zu denken, dich umzubringen?!“, brüllt meine Freundin mich voller Entsetzen an.
Wenn Nia alles gelesen hat, dann sollte sie auch meine Lage verstanden haben. Dann sollte sie meine Beweggründe nachvollzogen haben! Ich trete einen Schritt zurück. Eine unglaubliche Enttäuschung macht sich in mir breit, die mir die Tränen in die Augen treibt. Ich fühle mich hilflos, missverstanden. Sogar Nia will es nicht begreifen.
Die ganze Situation überfordert mich.
Ich balle die Hände zu Fäusten und spüre, wie meine Lippen anfangen zu beben.
„Du verstehst das nicht! Du verstehst überhaupt nichts!“, werfe ich ihr vor und reiße das Notizbuch aus ihren Händen.
„Du hättest es mir erzählen müssen!“, blockt Nia ab und hält mich an meinem Handgelenk fest. Ihr Blick ist eindringlich.
„Das war aber nicht der Sinn dabei“, fauche ich. „Niemand sollte je davon erfahren oder Verdacht schöpfen! Ich habe alles genau geplant, bis…“
Ich beiße mir auf die Zunge.
…bis ich Nia kennenlernte.
...bis ich Milan kennenlernte.
…bis ich Yoel kennenlernte.
Mit einem betroffenen Gesichtsausdruck lässt Nia meine Hand los, ihr Mund weitet sich vor Empörung.
„Wie kannst du so etwas nur tun?“, haucht sie und ich sehe die Fassungslosigkeit in ihren Augen. „Wir sind Freunde, Leona! Ich bin für dich da, wann immer du mich brauchst. Wie kannst du nur hinter meinem Rücken einfach… sterben wollen? Mich allein lassen?“
Mein Herz wird von vielen kleinen Pfeilen durchbohrt.
„Du bist meine beste Freundin!“, schreit sie aufgebracht. „Wie stellst du dir das vor, alles einfach zurückzulassen? Was meinst du, was du mir damit antun würdest? Wie kannst du so etwas nur wollen?“
Sie presst sich die Hand auf den Mund und unterdrückt ein Schluchzen. Tränen funkeln verdächtig in ihren Augen.
Langsam setzt Nia einen Schritt zurück, entfernt sich immer weiter mit kleinen Schritten von mir, sieht mich dabei mit einem so tieftraurigen Blick an, dass es mir das Herz zerbricht.
Ich senke den Blick, halte mich an dem Notizblock fest, so dass meine Knöchel weiß hervortreten. „Ich wollte euch allen nur einen Gefallen tun“
Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter, schaue Nia nicht an. Noch nie in meinem Leben hat mein Herz so wehgetan. Nie.
Tief hole ich Luft, ehe ich mich ruckartig umdrehe - und laufe. Die Flucht ergreife.
Einfachen rennen, rennen, rennen. Vor den Problemen davon laufen.


Meine Lungen brennen.
Keuchend stoße ich die Luft aus, fahre mir mit der Hand über das Gesicht und stütze mich schließlich mit den Händen an meinen zittrigen Knien ab. Schon im Sportunterricht musste ich heute wieder laufen. Und jetzt kommt noch ein kleiner Marathon dazu. Ich bin völlig fertig.
Als ich mich aufrichte, schaue ich mich stirnrunzelnd um. Meine Beine haben mich automatisch hierher geführt: In den Wald, meinem Lieblingsort, zu der Bank. Dankbar für die Sitzmöglichkeit lasse ich mich darauf nieder, stelle meine Schultasche auf den Boden und lege den Kopf in den Nacken. Seufzend schließe ich die Augen.
Mir steigt einfach alles über den Kopf. Ich kann nicht mehr klar denken, bin orientierungslos, verirre mich in meinen eigenen Gedanken. Es gibt keinen Weg raus, keinen Weg zurück.
Es gibt überhaupt keinen Weg mehr.
Ich seufze.
Das alles hätte nie passieren dürfen. Niemals hätte Nia von meinem Vorhaben wissen sollen, denn mir war schon vorher klar, wie so reagieren würde. Und heute hat sich meine Vermutung bestätigt.
Es tut mir im Herzen weh, sie so gekränkt zu sehen. Aber andererseits hätte ich auch gerne ein wenig Verständnis von meiner Freundin gehabt. Doch für einen Menschen ihrer Sorte ist es womöglich unbegreiflich sich den Tod zu wünschen.
Ich habe auch nie über die Konsequenzen meines Handelns nachgedacht. Was ich meinen Mitmenschen damit antun würde. Im Grunde genommen war es mir am Anfang auch egal, doch… mein Leben hat sich geändert.
Es ist zu einem totalen Chaos geworden. Die vorherige Routine, der normale Alltag scheinen vergessen zu sein. In so kurzer Zeit habe ich neue Leute, neue Facetten des Lebens kennengelernt und ich spüre, dass da noch mehr auf mich wartet. Dass das Leben mir noch so viel zu bieten hat, alles offen steht und ich einfach nur zugreifen muss.
Vor zwei Wochen gab es für mich nur Schwarz und Weiß im Leben. Wobei Schwarz wohl überwiegend war. Doch jetzt habe ich die berühmt berüchtigten Grauzonen kennengelernt, die alles anders machen. Vielleicht ist mein Leben gar nicht so schlimm. Es gibt so viel Unglück auf der Welt, im Vergleich zu anderen geht es mir doch eigentlich ganz gut. Das Leben ist nicht perfekt und womöglich–
Ich schrecke zusammen, als sich plötzlich jemand neben mich setzt. Irritiert hebe ich den Kopf und starre stirnrunzelnd den schwarzhaarigen Jungen an, welcher vorgebeugt mit den Ellenbogen auf den Knien gestützt, neben mir sitzt. Ich habe sein Auftauchen gar nicht bemerkt. Naja, ich hatte ja auch die Augen geschlossen, aber trotzdem…
Das ist ziemlich gruselig. Das letzte Mal habe ich Milan am Donnerstag im Zug gesehen und selbst das war schon ein extrem großer Zufall, der mich verstört hat. Irgendetwas stimmt doch nicht mit ihm.
„Verfolgst du mich etwa?“, frage ich perplex.
„In diesem Fall schon“
Verwirrt blinzele ich ihn an. „Ach, tatsächlich?“
Er wirft mir einen undefinierbaren Blick über die Schulter zu, der mich fahrig die Lippen belecken lässt. Mein Herz pocht aufgeregt gegen die Brust und für einen kurzen Moment vergesse ich sogar meine Debatte über das Leben.
Milan lehnt sich zurück. Seine grauen Augen huschen über die Landschaft, mit scharfer Miene beobachtet er das Treiben im Wald. Er kommt mir ziemlich streng vor. Sein ernster Blick und dazu nun auch die verschränkten Arme vor seiner Brust - ich habe das Gefühl neben einem Lehrer zu sitzen.
„Keine Angst, Leona. Ich bin kein Stalker oder so was. Ich wollte sowieso noch zu meiner Großmutter, die wohnt hier in der Nähe“, beginnt er und für einen Wimpernschlag wird seine Miene sanfter und ein kurzes Lächeln huscht über das Gesicht.
Ich ziehe die Stirn kraus. „Wieso bist du mir gefolgt?“
Ein gedehntes Seufzen entweicht seinen Lippen. Er lockert die gekreuzten Arme ein wenig, sein Blick huscht durch den Wald. Nur mich schaut er nicht an. „Ich habe gesehen, wie du dich mit Nia gestritten hast. Ihr saht beide total aufgelöst aus. Und dann bist du einfach weggelaufen“
Oh Gott, hoffentlich hat er nichts mitgehört!
Der Schwarzkopf rutscht ein wenig unbehaglich hin und her. „Ich… bin dir gefolgt, weil ich… nun, ich wollte sicher gehen, dass… dass es dir gut geht“
Fängt Milan gerade an zu stottern?
Überrascht schaue ich ihn von der Seite an und bemerke, dass er seine Lippen zu einer schmalen Linie gepresst hat. Unweigerlich huscht ein kleines Lächeln über mein Gesicht. „Du hast dir Sorgen gemacht?“
Das ist irgendwie… süß.
Milan lehnt sich wieder nach vorne, so wie vorhin: Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, die Hände hängen locker zwischen den Beinen. Einzelne schwarze Strähnen fallen ihm ins Gesicht. Er dreht seinen Kopf in meine Richtung und ich kann einen kleinen Funken Verlegenheit in seinen Augen erkennen. Mein Herzschlag schießt in die Höhe.
„Wenn du so willst… ja“, gesteht er und das darauffolgende Lächeln, wo er seine Grübchen zeigt, haut mich sowas von aus der Bahn, dass ich ihn mit offenem Mund anschaue.
Milan lächelt!
Milan zeigt Verlegenheit!
Er hat sogar gestottert!
Mein Herzrasen nimmt an Tempo auf.
„Ich meine, du sahst wirklich aufgebracht aus“, fährt Milan fort. Er sieht sich scheinbar gezwungen, seine Sorge zu erklären. „Und in solchen Situationen sind die Menschen ja meistens immer ziemlich–“
Ich hebe die Hand, um ihn zu stoppen. „Du brauchst es mir nicht zu erklären“
Er stößt erleichtert die Luft aus.
Ich versuche mir ein Grinsen zu verkneifen. Diesen Moment muss ich mir unbedingt gut ins Gedächtnis einprägen, das ist ja schon beinahe Premiere!
„Ich mag den Wald sehr gerne“, fängt Milan an. Offensichtlich will er einen Themenwechsel starten und ich lasse es zu. „Ich gehe hier oft lang, wenn ich meine Großmutter besuche. Und das ist sehr oft“
„Wieso bist du so häufig bei ihr?“, frage ich neugierig.
Milan zögert einen kurzen Moment. „Nun, ich esse meistens bei ihr. Fast jeden Tag“
Argwöhnisch kräusele ich meine Stirn. „Und warum tust du das nicht…“
„…Zuhause?“, vollendet er meine Frage und lächelt zerknirscht. „Weil es Zuhause nun mal nicht so einfach ist. Du glaubst jetzt sicherlich, dass dort ein Alkoholiker-Vater auf mich wartet, der den Verlust von meiner Mutter nicht verkraften kann, mich deswegen schlägt und um sich brüllt. Aber so ist das nicht, meine Familie erfüllt dieses Klischee nicht. Ganz im Gegenteil. Mein Vater hat sich in die Arbeit gestürzt, er ist viel unterwegs. Meine Großmutter kann das überhaupt nicht leiden und zwingt mich deswegen quasi dazu, bei ihr vernünftiges Essen zu bekommen“
Ein trauriges Lächeln huscht über seine Lippen.
„Ich mag meinen Vater, keine Frage. Er ist ein guter Mann, der seine Frau verloren hat. Er findet Ablenkung bei der Arbeit. Manchmal bekommt er hin und wieder Gewissensbisse, weil wir nicht so viel miteinander reden. Dann kauft er mir irgendein unnützes Zeug, um sein Gewissen zu beruhigen“
„Das klingt traurig“, bemerke ich.
„Es ist okay. Es ist wirklich okay. Nichts, worüber ich mich schämen müsste“
Ich lächele und schaue Milan von der Seite an. Er hat meinen Respekt - aber den hat er von vielen. Doch er hat auch noch mein Verständnis und meine Bewunderung.
Dieser Junge ist so ganz anders, als ich zuvor gedacht habe. Er ist so… nett. Und irgendwie passt das nicht in das alte Bild.
Mit einem Lächeln schüttele ich den Kopf. „Warum bist du so freundlich zu mir?“
Überrascht hebt Milan die Augenbrauen und schaut mich verwundert an. Dann zuckt er mit den Schultern und lässt seinen Blick wieder durch die Bäume schweifen. „Weil ich dich mag, schätze ich“
„Du magst mich?“, wiederhole ich irritiert.
„Das ist keine Krankheit, Leona“, entgegnet er augenverdrehend. Schließlich seufzt er ergeben. „Ich weiß auch nicht. Ich hatte eigentlich noch nie etwas gegen dich, du bist für mich kein rotes Tuch“
„Und dennoch hast du manchmal so mürrisch reagiert“
„Schutzmechanismus. Dadurch hält man sich ungemütliche Leute vom Hals, indem man ebenfalls ungemütlich ist. Aber das habe ich dir schon einmal erklärt“
Stimmt, beim Kunstprojekt.
Damals war alles noch irgendwie anders…
„Heißt das, du findest mich auch ›ungemütlich‹?“, frage ich mit gezückter Augenbraue.
Er schaut mich abschätzend an. „Nein. Ich war einfach nur misstrauisch. Aber–“
Milan stockt.
Gespannt schaue ich ihn an. „…aber was?“
Er räuspert sich. „Mein Misstrauen war umsonst. Du bist hartnäckig geblieben, Leona. Du hast aufgehört mich mit den Gerüchten zu sehen. Das mag ich an dir“
Aus irgendeinem Grund verursachen seine Worte eine wohlige Gänsehaut bei mir. Ich lächele.
„Ich… mag dich auch, Milan“






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