Die Kunst zu lieben - Teil 15

Autor: I.AMsterdam
veröffentlicht am: 31.05.2013


Ich hoffe, ihr habt mich nicht vergessen!
Nach einer ewig langen Zeit habe ich nun endlich wieder einen neuen Teil für euch, den ich persönlich nicht sehr zufriedenstellend finde. Aber wie gesagt, meine Festplatte ist schrott gegangen, so dass ich das ganze Kapitel noch einmal schreiben durfte, wofür mir meistens zugegeben die Lust gefehlt hat…
Es tut mir wirklich sehr, sehr, sehr leid, dass ihr so lange warten musstet! Aber nun ist es endlich vollbracht und ich hoffe, ihr seid nicht allzu böse und enttäuscht.
Viel Spaß beim Lesen! :-)
Liebe Grüße

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„Da wären wir!“, verkündet Nia euphorisch.
Verwirrt betrachte ich das unscheinbare Eckhaus in der Innenstadt, vor dem meine Freundin stehen bleibt. Es ist in einem typischen altmodischen Stil gehalten – braune Backsteine, viele Fenster und einzelne Ornamente verzieren die Mauer.
Auf den ersten Blick sieht es ziemlich ordinär aus; mit Sicherheit bin ich schon oft daran vorbeigelaufen ohne dem Eckhaus große Bedeutung geschenkt zu haben. Demnach frage ich mich also, was Nia mit mir vorhat.
Erst die Stelltafel vor dem Eingang zieht meine Aufmerksamkeit auf sich – und lässt meinen Atem stocken. Auf dem Plakat befindet sich ein tanzendes, anmutiges Pärchen, welches in die Kamera lächelt.
»Katrins Tanzstudio« steht dort in goldenen Lettern als Überschrift geschrieben. Dazu wirbt das Plakat für Tanzkurse in der Kategorie Gesellschaftstanz.
Mit offenem Mund schaue ich meine beste Freundin entgeistert an. Diese grinst nur schelmisch und scheint diese Art der Reaktion meinerseits offensichtlich erwartet zu haben.
„Mund zu, Leona! Sonst kommen noch die Fliegen rein“, bemerkt sie neckend und prustet im nächsten Moment los.
„Das ist nicht witzig, Nia!“, empöre ich mich. Im Stillen bete ich, dass das alles nur ein Scherz ist, wir gleich weiter gehen werden und meine Freundin nie im Sinn hatte, dass ich das Tanzbein schwingen soll. Doch schon im nächsten Moment zerstört Nia eiskalt meine Hoffnungen.
„Katrin ist meine Tante“, erklärt sie. „Jeden Mittwoch findet der Kurs für Pärchen statt und heute dürfen wir – oder eher gesagt: Darfst du – einmal hineinschnuppern. Dann werde ich dir beweisen, dass Tanzen sehr schön sein kann“
Vehement schüttele ich den Kopf. „Aber, was… was hat das mit den Freuden des Lebens zu tun?“
Nia schnalzt mit der Zunge und wirft mir einen tadelnden Blick zu. „Das wirst du schon selber herausfinden, Leona“
Oh je…
Ich und tanzen? Niemals! Das passt genauso gut zusammen wie eine Orange und ein Kleiderschrank. Unmöglich. Ich habe Berührungsängste, das Rhythmusgefühl einer Tomate und bin viel zu tollpatschig dafür. Mein Tanzpartner wird nach Hause kriechen müssen, weil ich sooft auf seine Füße getreten bin.
„Nia, ich glaube nicht, dass das so eine gute Idee ist. Wirklich nicht“, versuche ich ihr im ernsten Tonfall klar zu machen. Nervös beiße ich mir auf die Unterlippe.
Ich habe Angst.
Angst vor einer Blamage, Angst Nia zu enttäuschen.
„Und ich glaube, dass es gerade deswegen, aufgrund deiner Furcht, so hervorragend geeignet ist“, entgegnet die Brünette und mustert mich eingehend. „Warum lässt du es zu, dass deine Unsicherheit dir wieder im Weg steht?“
Ich weiche ihrem forschen Blick aus und öffne meinen Mund zu einer Antwort – finde sie aber nicht.
„Leona“, fährt Nia bestimmend fort. „Sieh es als eine Chance. Heute kannst du dir selbst beweisen, dass du kein Feigling bist. Dass du dich etwas traust, was du zuvor immer vermieden hast. Dass du keine Angst mehr vor dem Leben hast“
Bei dem letzten Satz schnellt mein Kopf hoch und ich erwidere Nias eindringlichen Blick unverwandt. Mit fester Stimme entgegne ich: „Ich habe keine Angst vor dem Leben“
Ihre Mundwinkel heben sich zu einem süffisanten Grinsen. „Beweise es. Heute. Morgen. Jeden Tag“
Prüfend schaue ich sie an. Mir ist klar, was Nia damit bezwecken will. Sie hat mich mit ihrem Köder gelockt und ich habe zugebissen. Sie grinst provozierend, ich blicke düster. Wir schauen uns an, lauernd wie Raubkatzen.
Auf einmal höre ich, wie sich Schritte nähern, welche die aufkommende Spannung zwischen Nia und mir zerstören. Ihre Augen schweifen ab und fixieren etwas hinter meinem Rücken, wobei sich ein erfreutes Lächeln auf ihrem Mund ausbreitet.
Fragend drehe ich mich um und spüre, wie mein Herz für einen Moment erstarrt stehen bleibt, als ich Milan sehe. Die Hände in den Hosentaschen vergraben und mit einer für ihn typischen Gelassenheit schlendert er auf uns zu. Als sich unsere Blicke kreuzen, schlucke ich hart. Ungläubig schaue ich ihn an.
Er ist hier.
Er ist tatsächlich hier.
„Hey“, begrüßt er uns und schaut skeptisch zwischen mir und Nia hin und her. Mein Mund wird staubtrocken, als mir plötzlich bewusst wird, warum genau er hier ist. Milan ist mein Tanzpartner.
„Hi! Schön, dass du da bist“, flötet meine Freundin und strahlt über das ganze Gesicht. Sie geht die drei Treppenstufen zum Eingang hinauf und öffnet die Glastür.
Noch immer starre ich den Schwarzkopf an, welcher meinen Blick mit einer gezückten Augenbraue erwidert. Weiß er, worauf er sich eingelassen hat? Stört es ihn nicht, dass wir beide tanzen werden? Was denkt er wohl?
Tausend von Fragen stürzen wie eine Welle auf mich ein, wie immer, wenn ich Milan sehe. Dieser Junge ist für mich ein unlösbares Mysterium – und es hat seinen Reiz. „Na kommt schon! Die anderen werden schon längst angefangen haben!“, meint Nia, welche noch immer die Glastür aufhält.
Ertappt löse ich meinen Blick von Milan und hole tief Luft, bevor ich meinen Fuß auf die erste Treppenstufe setze. Rein in die Höhle des Löwen…


Die Musik verstummt, als wir eintreten.
Ich habe das Gefühl, als würde mein Herz wie ein schneller Trommelschlag gegen meine Brust donnern und so laut klopfen, dass es das ganze Tanzstudio erfüllt.
Flüchtig lasse ich meine Augen über die sechs Pärchen schweifen, welche uns Neuankömmlinge neugierig mustern, ehe mein Blick an einer kleinen Frau im mittleren Alter hängen bleibt, die die Musikanlage ausgeschaltet hat. Nun schreitet sie mit großen, selbstbewussten Schritten auf uns zu, während sich ihre Lippen zu einem breiten Grinsen verziehen.
„Nia, meine Große! Freut mich, dass ihr gekommen seid!“, sagt sie entzückt und mir ist sofort klar, dass dies Nias Tante ist. Katrin.
Sie umarmet ihre Nichte herzlich, ehe sie Milan und mir ihre Hand reicht. Ich hoffe sie bemerkt nicht, wie schweißnass meine Hand ist. Am liebsten würde ich sofort wieder umdrehen und weglaufen.
„Hallo, mein Name ist Katrin“, stellt sie sich mit einem sympathischen Lächeln vor. Ihre kurzen, blonden Haare, welche zu einer modernen Bob-Frisur geschnitten sind, werden mit einem einfachen Stirnband zurückgehalten.
Ich räuspere mich. „H-hallo, ich bin–“
„Leona!“
Verwirrt schaue ich zur Seite, als eine mir entfernt bekannte Stimme plötzlich meinen Namen ruft. Sobald ich die zugehörige Person zur Stimme sehe, fällt mir auch wieder ein, woher ich sie kenne.
Lange Beine, schwarze Haare, Schneewittchenhaut.
Entgeistert schaue ich die wunderschöne Amazone an, welche auf mich zukommt, und bin wie zu einer Salzsäule erstarrt. Ich dachte, ich würde sie nie wieder sehen.
Tja, falsch gedacht.
Mit einem Mal tauchen sämtliche Erinnerungen an jene Nacht in meinem Kopf auf, stürzen wie eine Lawine auf mich ein, überfluten mich. Ich kann nicht verhindern, dass ich eine gewisse Antipathie für Cloe empfinde. Immerhin spielt sie keine unwichtige Rolle bei meinem Absturz auf der Drogenparty.
Hätte sie mir nie diese Metalldose mit den Kapseln gezeigt, dann wäre ich auch nie in Versuchung gekommen, hätte nie diesen beängstigenden Rausch verspürt – und hätte nie meinen ersten Kuss an Yoel verloren.
Vielleicht wäre ich dann auch nie in einen Streit mit Nia geraten, sie hätte nie meinen Notizblock gefunden und wir würden heute nicht hier stehen.
Aber nun ist es zu spät.
Ich versuche mich vergeblich an einem Lächeln, als Cloe – so schön wie eh und je – vor mir stehen bleibt und in mich in eine kurze Umarmung zieht. Steif erwidere ich die Umarmung und presse meine Lippen aufeinander.
„Wow, Leona. Schön, dich zu sehen!“, freut sich Cloe und ihre grünen Katzenaugen schweifen einmal über meine Erscheinung. „Du warst auf der Party so schnell verschwunden, dabei wollte–“
„Ich weiß“, sage ich schnell, um sie am Weiterreden zu hindern. Kaum vorstellbar, was Milan von mir halten würde, wenn er erfährt, dass ich auf einer exzessiven Party hemmungslos mit einem Jungen herumgeknutscht habe. Bei dem Gedanken färben sich meine Wangen rot vor Scham.
Glücklicherweise schaltet sich Katrin in diesem Moment wieder ein.
„Also gut. Ich denke, es wäre am besten, wenn ihr erst einmal zuschaut, ehe wir in die Praxis übergehen“, schlägt sie vor.
Ich nicke nur, dankbar mich von Cloe zu entfernen und setze mich mit Nia und Milan an den Rand, um uns an die Wand zu lehnen. Das Tanzstudio ist nicht sehr groß, aber schön hell und übersichtlich. Glänzender Parkettschwingboden, weiße Tapeten, sowie eine komplett verspiegelte Wand machen den Raum aus.
„Wer ist das?“, fragt mich Nia auch sogleich, sobald die Musik wieder eingeschaltet wird und Katrin das Kommando übernimmt.
„Cloe“, antworte ich knapp und weiche Nias fragendem Blick aus. Starr beobachte ich die hübsche Amazone, wie sie sich lächelnd die Haare über die Schulter wirft, ehe sie sich zu einem jungen Mann stellt und mit ihm in Tanzposition geht. Katrin zählt laut im Takt mit, während die sechs Pärchen über den Boden schweben.
Ich muss zugeben, dass das ziemlich beeindruckend aussieht. Sie alle strahlen Selbstsicherheit und Eleganz aus, scheinen so gelassen und geübt zu sein – was meine sowieso schon sehr geringe Motivation noch ein wenig tiefer sinken lässt.
Wie sollen Milan und ich da nur mithalten können?
Ich stoße die Luft aus und wende mich an den Schwarzkopf, welcher links von mir sitzt und konzentriert die Tänzer beobachtet. Meine Frage an ihn liegt mir schon auf der Zunge, doch als er plötzlich seinen Kopf zu mir dreht und mich mit so einem intensiven Blick bedenkt, vergesse ich die Frage wieder.
Ich halte den Atem an.
Seine Augen… jedes Mal erinnere ich mich selbst wieder, dass ich so wunderschöne, graue Augen noch nie gesehen habe. In ihnen kann ich so viele Emotionen ablesen, mal sind sie eiskalt, wütend und voller Ernsthaftigkeit und dann wieder in seltenen Momenten sanft und besorgt.
Seine Augen würde ich unter Tausend wieder erkennen. Mit Sicherheit.
„Leona“, flüstert er.
„Hm?“
„Ich hoffe, du verzeihst mir, wenn ich dir auf die Füße trete“ – Und in diesem Augenblick hebt sich sein rechter Mundwinkel zu diesem einzigartigen, leicht spöttischen Lächeln. Ich unterdrücke ein Auflachen und stoße ihn leicht mit der Schulter an.
„Glaub mir, um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Vielmehr solltest du schon mal die Nummer des Krankenwagens wählen, deine Füße werde nachher nicht mehr tauglich sein“, grinse ich. In diesem Moment fällt mir auch wieder meine vergessene Frage ein. „Hast du schon einmal getanzt?“
„Nein“, gibt er offen zu. „Ich habe weder Tanzstunden gehabt, noch auf irgendwelchen Veranstaltungen mich je dazu überzeugen lassen. Tanzen war für mich immer etwas Fremdes“
„Dito“, entgegne ich und kann nicht verhindern, dass ein zufriedenes Lächeln meinen Mund einnimmt.
Ich weiß nicht warum, aber mit einem Mal fühle ich mich unglaublich erleichtert. Milan kann also genauso wenig tanzen wie ich, was bedeutet, dass ich nicht die einzige sein werde, die mit lauter Fragezeichen über dem Kopf und einem Stock im Arsch ein komplett neues Genre für das Tanzen erschaffen wird.
Dennoch…
„Wenn Tanzen so etwas Befremdliches für dich ist, warum tust du dir das dann heute freiwillig an?“, frage ich Milan.
Er lässt seinen Blick zu den tanzenden Pärchen schweifen und schweigt für einen kurzen Moment. Schließlich antwortet er: „Ich weiß nicht. Vielleicht hat es mich einfach gereizt zu wissen, dass ich mit jemandem Tanzen lerne, der genauso unerfahren ist wie ich, so dass wir beide auf gleicher Augenhöhe sind. Jemanden, den ich kenne und den ich mag“
Er dreht seinen Kopf zu mir und schaut mich nachdenklich an.
„Und jemanden, dem ich vielleicht dadurch helfen kann. Ich weiß nicht, warum Nia dich dazu zwingt zu tanzen und was die genaueren Hintergründe sind, aber das geht mich auch nichts an. Ich weiß nur, dass sie dir helfen will – und das will ich auch. Man sollte eine neue Erfahrung, die einem vor die Füße gelegt wird, nicht zertrampeln, aus Angst man könnte sich blamieren oder etwas falsch machen. Man sollte zugreifen und die Chance nutzen. Um das einzusehen, habe ich auch etwas länger gebraucht, aber heute will auch ich mir einen Ruck geben. Was kann schon schlimmes passieren, außer ein paar blaue Flecken?“
Ich schaue Milan an, erwidere seinen offenen, ehrlichen Blick und wiederhole die Worte in meinem Kopf. Ich habe die Sicht der Dinge noch nie auf diese Art und Weise gesehen, wie es Milan tut.
Aber er hat Recht.
Was kann schon schlimmes passieren? Er und Nia sind bei mir, sie helfen mir. Ich bin nicht allein – und ich sollte die Chance nutzen, auch wenn es mir schwer fällt.
Zögernd lächele ich ihn an.
Seine Worte wärmen mich von innen, sorgen dafür, dass mein wild pumpendes Herz sich beruhigt und meine Muskeln sich etwas entspannen. Seit wann kann ein einziger Mensch dafür sorgen, dass ich mich so schnell überzeugen lasse?
Ich seufze.
Allmählich sollte ich begriffen haben, dass Milan anders ist als die anderen Personen. Er ist den meisten Leuten in seiner Denkweise schon weit voraus.
Unglaublich.
Unglaublicher.
Milan.

••

„Wir beginnen mit dem Langsamen Walzer“, erklärt Katrin und lächelt Milan und mir aufmunternd zu.
Wir stehen in der Mitte des Raumes, die anderen Paartänzer haben es sich am Rand gemütlich gemacht und gönnen sich eine kurze Pause, während sie uns neugierig beobachten.
Ich presse die Lippen zu einer schmalen Linie und komme mir wie ein Tier in einem Zoo vor, welches von Schaulustigen angestarrt wird. Mein Blick wandert zu Nia, die noch immer an der Wand gelehnt sitzt und mir zunickt.
Ich straffe die Schultern.
„Der Langsame Walzer ist ein einfacher, klassischer Standardtanz im Dreiviertel-Takt“, fährt Katrin fort. Ich bin mir sicher, dass ihr zuversichtliches Lächeln gleich vergehen wird, wenn sie Milans und meine nicht vorhandenen Tanzkünste entdecken wird. Aber noch lasse ich sie im Schein walten.
„Cloe? Henry? Würdet ihr vielleicht den Langsam Walzer vortanzen, während ich den beiden erkläre, wie die Schritte funktionieren?“, wendet sie sich an die hübsche Amazone und ihren Tanzpartner.
Bei dem Namen Henry klingelt es irgendwo in meinem Kopf. Den Namen habe ich schon einmal gehört, auch in Verbindung mit Cloe. Aber im Moment will mir einfach nicht einfallen, wer dieser junge Mann ist.
Henry ist mir vom Äußeren her fremd – dunkelblonde, kurzgeschorene Haare, hellbraune Augen, großgewachsen und athletisch gebaut – doch sein Name…
Sie stellen sich gegenüber und ich beobachte genau, wie und wo sie sich berühren. Auf Katrins Anweisung hin setzen sie sich in Bewegung, währenddessen erklärt Nias Tante uns, wie wir unsere Füße zu setzen haben. Im Großen und Ganzen tanzt man einfach nur ein Viereck, wie ich feststellen muss.
„Zuerst mit dem rechten Fuß einen Schritt vor, dann mit dem linken Fuß einen Schritt seitwärts gehen und das rechte Bein zum Schließen heranziehen. Danach mit dem linken Fuß einen Schritt zurückgehen, mit dem rechten Fuß einen Schritt seitwärts und das linke Bein heranschließen“, erläutert Katrin, während Cloe und Henry genau diese Schrittfolge vorführen.
Skeptisch runzele ich die Stirn. Das sieht eigentlich gar nicht so schwer aus.
Eigentlich.
Anschließend fordert Katrin Milan und mich auf, zuerst einmal die Tanzschritte trocken nachzumachen, ohne dabei schon in Tanzhaltung zu gehen. Wir stellen uns also parallel nebeneinander – und wissen beide nicht, wie wir anfangen sollen.
Mit vor Verlegenheit geröteten Wangen schaue ich mich in dem Raum um, sehe, wie uns alle gespannt anschauen, erwartungsvoll, neugierig, und habe plötzlich eine große Blockade in meinem Kopf.
Mit welchem Fuß sollte man noch einmal beginnen? Ich schiele zu Milan und sehe, wie er mit dem rechten Fuß einen Schritt vorwärts geht. Zögernd setze ich ebenfalls meinen rechten Fuß nach vorne und schaue verwirrt zwischen meinem linken und rechten Bein hin und her, als jemand plötzlich meine beiden Hände nimmt und sie mit seinen verschließt.
Erschrocken schaue ich auf und begegne den freundlichen, hellbraunen Augen von Henry. Er steht vor mir, meine Hände in seine gelegt, als würden wir Händchen halten, und legt den Kopf schief.
„Wenn man den Tanz einmal verstanden hat, ist er wirklich nicht schwer“, meint er und schweift mit seinen Augen über mein Gesicht. Ich fühle mich ein wenig beklommen und bin erstaunt, dass er mir helfen will, wo er mich doch gar nicht kennt.
Oder etwa doch?
„Komm, ich zeige es dir noch einmal langsam“, sagt er und schnell richte ich meinen Blick wieder auf die Füße, während er mir erneut erklärt, wie die Schrittfolge lautet. Konzentriert lausche ich seinen Worten, folge seinen Anweisungen – und tatsächlich! Nach sieben Versuchen habe auch ich endlich begriffen, wie ich meine Füße koordinieren muss.
Glücklich über diesen in meinen Augen großen Erfolg strahle ich Henry an, welcher mich amüsiert mustert. Lächelnd betrachte ich ihn genauer und lasse mir seinen Namen erneut durch den Kopf gehen.
Und mit einem Schlag fällt mir plötzlich ein, woher ich ihn kenne. Obwohl „Kennen“ wohl das falsche Wort ist, vielmehr habe ich von ihm gehört.
Cloe hat mir von ihm erzählt.
Er war der Gastgeber von der Party.
Bei dieser Erkenntnis entgleisen mir die Gesichtszüge und schnell wende ich meinen Blick von ihm ab. Ich schaue zu Milan, der – zu meiner Überraschung – ebenfalls mit Cloe noch einmal die Schritte übt. Auch sie hat ihn an beiden Händen genommen und zeigt ihm den Langsamen Walzer.
Aus irgendeinem Grund gefällt mir dieser Anblick nicht. Zu sehen wie Milan mit dieser wunderschönen Gazelle tanzt, sorgt bei mir für ein ungewohntes, beißendes Gefühl, welches ich am liebsten abschütteln würde.
Ich wende meinen Blick von den beiden ab und schaue wieder zu Henry, welcher mich aufmerksam beobachtet.
„Seid ihr eigentlich… zusammen?“, fragt er mich und deutet dabei zu Milan.
„Was? Oh Gott, nein!“, erwidere ich hastig und schüttele den Kopf. Hitze steigt in meine Wangen auf.
„Nicht?“, er hebt erstaunt die Augenbrauen. Dann schleicht sich auf einmal ein kleines, wissendes Grinsen auf sein Gesicht. „Aber ich bin mir sicher, da fehlt nicht mehr viel, bis es soweit ist“
Empört öffne ich den Mund und balle meine Hände zu Fäusten. Doch noch ehe ich etwas darauf erwidern kann, schaltet sich Katrin wieder ein, die Milan und mich zufrieden anschaut: „Ich denke, dass ihr nun soweit seid, dass ihr zusammen tanzen könnt“
Das ist wohl das Stichwort für meine Eingeweide, sich krampfhaft zusammenzuziehen. Meine Wut über Henry wird mit einem Mal weggefegt, stattdessen macht sich Nervosität in mir breit. Mit klopfendem Herzen schaue ich zu Milan, welcher mich ebenfalls mit einem fragenden Blick bedenkt, sich scheinbar still nach meinem Einverständnis erkundigt.
Langsam nicke ich.
Auf einmal ist es sehr still um uns herum, zumindest habe ich das Gefühl, dass mein stoßartiger Atem den ganzen Raum erfüllt. Fahrig belecke ich meine trockenen Lippen und zucke kurz zusammen, als Katrin plötzlich die Musik einschaltet.
Nun ist es also soweit.
Milan nimmt meine rechte Hand in seine, während ich die linke auf seinen Oberarm lege. Die Situation macht mich ganz nervös, noch nie habe ich in irgendeiner Weise mit einem Jungen getanzt.
Ich schaue auf und blicke unsicher in seine Augen.
„Bereit?“, fragt er mich leise.
Nein. „Ja“
Er wartet noch ein paar Takte, ehe er auf einmal seinen Fuß in Bewegung setzt und mich somit nach hinten dirigiert. Überrumpelt folge ich der Richtung, schaue dabei auf unsere Füße, um mir mehr Sicherheit zu geben.
Die Nähe zu ihm sorgt für viele kleine Schauer bei mir, ein angenehmes Kribbeln erfasst mich. Ich spüre meinen Herzschlag in meinem ganzen Körper, meine Hände und mein Rücken prickeln wegen Milans Berührung.
„Nicht auf die Füße schauen, Leona“, vernehme ich Katrins Anweisung und rucke mit dem Kopf ertappt hoch. Dabei gerate ich ein wenig aus dem Takt und trete Milan ungeschickt auf den Fuß, welcher daraufhin leise lacht.
„’tschuldigung“, murmele ich mit roten Wangen und presse fest die Lippen aufeinander, während ich an ihm vorbeischaue und so tue, als würde mich die Umgebung blendend interessieren.
Mein Blick gleitet zu der verspiegelten Wand, wo ich Milan und mich drin erkennen kann, wie wir uns an dem Langsamen Walzer versuchen. Es ist ein mehr als seltsamer Anblick, so fremd und ungewöhnlich. Ich, das kleine, rothaarige Mädchen – die Hexe – und er, der große, schwarzhaarige Junge – der Ripper – tanzen zusammen. Wenn das unsere Mitschüler erfahren würden, dann wären wir vor nichts und niemandem mehr sicher.
Auf einmal fordert Katrin die anderen Tanzpartner auf, sich uns und dem Langsamen Walzer anzuschließen. Ich bemerke, wie Milan sich ein wenig anspannt, weil wir auf einmal von den sechs Pärchen umzingelt werden und nicht in eine Kollision geraten wollen.
„Bei Standardtänzen wird immer rechts herum getanzt“, erklärt Katrin, die unsere Ratlosigkeit wohl gemerkt hat. „Der Mann führt die Frau, ihr könnt versuchen euch ein wenig zu drehen und euch dem Kreis anzuschließen“
„Lieber nicht“, entgegne ich ein wenig hitzig und renke meinen Hals, um in Katrins Richtung zu schauen. „Dass wir uns nicht auf die Füße treten, gleicht schon einem Weltwunder“
„Ihr macht das super“, meint Nias Tante und lächelt zufrieden.
Ich wende meinen Kopf wieder von ihr ab und beobachte mit gerunzelter Stirn, wie die anderen Pärchen beginnen einen Kreis um Milan und mich zu tanzen, so dass wir in deren Mitte herumdümpeln.
Aber das stört mich nicht. Es ist besser so, als wenn wir den lächerlichen Versuch starten würden, uns ihnen anzuschließen. Das hier reicht schon vollkommen aus, finde ich.
Das Lied, zu dem wir tanzen, kenne ich nicht, aber die ruhige Melodie und der langsame Rhythmus, welcher perfekt zum Langsamen Walzer passt, lassen mich allmählich etwas entspannter werden.
Schließlich hebe ich doch noch den Blick und schaue geradewegs in Milans graue Augen. Nie hätte ich gedacht, dass ich jemals mit ihm in solch einer Harmonie tanzen würde – oder dass ich überhaupt jemals einen Tanz mit einem Jungen hinlege.
Das ist alles so verrückt.
Wie in einem schlechten Film, der eigentlich gar nicht so schlecht ist, wie ich mir eingestehen muss. Ich fühle mich… gut. Besser als gedacht.
„Woran denkst du?“, fragt mich Milan, der meinen nachdenklichen Blick wohl gemerkt haben muss.
Ich zucke lächelnd mit den Schultern – soweit es mir in der Tanzhaltung erlaubt ist – und versuche, die richtigen Worte zu finden. „Das ist einfach so… grotesk. Ich meine, hättest du gedacht, dass wir jemals miteinander tanzen würden?“
Milans Mundwinkel heben sich minimal zu einem amüsierten Schmunzeln. „Nein, überhaupt nicht. Aber ich bin froh, dass es so gekommen ist“
„Ich auch“, gestehe ich.
Und das Gefühl in meinem Bauch wächst zu einem angenehmen Kribbeln, welches man wohl schlichtweg als… Schmetterlinge im Bauch bezeichnen würde?








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