Autor: I.AMsterdam
veröffentlicht am: 22.11.2012
- Tag 4 -
Ein feiner, appetitanregender Duft hängt in der Luft, als wir das Restaurant betreten. Es ist ein schönes Lokal - ruhig, hell erleuchtet und warm. Alles besitzt seine Ordnung, ist sauber und glänzt. So, wie es meine Eltern lieben.
Wir werden von einem gutgepflegten Mann empfangen, welcher mit einem freundlichen Lächeln hinter einem Pult steht und unsere Reservierung überprüft. Wie in einem Film.
„Familie Brandt“, erklärt mein Vater. „Wir sitzen zusammen mit Familie Manders an einem Tisch“
Der Maître d’hotel - so wie der Mann bezeichnet wird - wirft einen kurzen Blick auf das große Notizbuch vor ihm, ehe er uns mit einem strahlenden Lächeln anschaut und nickt. Anschließend taucht eine etwas kompaktere Kellnerin auf, die (ebenfalls mit gehobenen Mundwinkeln) uns den Platz zuweist.
Ich habe das Gefühl, dass hier jeder lächelt.
Meine Mutter streicht mit ihrer Hand kurz meinen Unterarm entlang, so dass ich ihr automatisch einen fragenden Blick zuwerfe. Durch ihre dunklen Augen schaut sie mich warnend und eindringlich an. Beinahe glaube ich, ihre scharfe Stimme zu vernehmen, die mich noch einmal an die Benimmregeln erinnert.
Ich straffe die Schultern.
An dem Tisch, der uns zugewiesen wird, befinden sich bereits vier Personen, die mir allesamt unbekannt sind. Mutter, Vater, Tochter, Sohn.
„Guten Abend!“, begrüßt uns Herr Manders euphorisch und steht ein wenig zu abrupt auf. Hastig drückt er uns jedem die Hand und klopft Papa auf die Schulter. Das Spiel beginnt. „Schön, dass ihr da seid!“
„Wir freuen uns auch“, erwidert mein Vater und verzerrt seine Lippen dabei zu einem unechten Lächeln. „Darf ich dir vorstellen, Edgar? - Meine Frau, Susanna, und unsere gemeinsamen Töchter Lydia und Leona!“
„Sehr reizende Damen“, schmeichelt Edgar und nickt. „Setzt euch doch!“
Wir kommen seiner Aufforderung nach und lassen uns auf den bequemen Stühlen nieder. Tief atme ich durch.
Mein Blick schweift einmal kurz unauffällig über die restlichen Mitglieder der Familie Manders, die uns Papas Freund auch sogleich vorstellt. Seine wunderbare Ehefrau, die dreizehnjährige Tochter und sein männliches Erbe namens Yoel.
Aha.
Desinteressiert lasse ich meine Augen über die Tischdekoration wandern und bleibe mit meinem Blick dabei an der flackernden Kerze, die wohl für eine harmonische Stimmung sorgen soll, kleben.
Ich fühle mich alles andere als behaglich.
Das übliche Geschwätz fängt an; ich kann geradezu sehen, wie Edgar und mein Vater sich ereifern, sich bei dem anderen einzuschmeicheln und von sich zu prahlen. Und so etwas nennt man Freundschaft?
Ich schüttele kaum merklich mit dem Kopf.
Schöne, aber leider nur gelogene Worte, fallen, werden als Kompliment aufgefasst. Meine Mutter beginnt mit Edgars Ehefrau zu plaudern, beide schauen sich mit einem eingefrorenen Lächeln an, recken ihr Kinn.
Lächerlich.
Das ist absolut erbärmlich und unerträglich.
Bemerkt denn keiner außer mir diesen Schein? Fällt jeder auf dieses Schauspiel herein? Das ist doch absurd!
Ich zupfe an dem Saum meines schwarzen, knielangen Rockes.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich die einzige bin, die diese Lüge bemerkt. Vielleicht liegt das einfach daran, dass ich den Hintergrund kenne. Auf der Bühne mag meine Familie die Zuschauer täuschen können, doch hinter den Vorhängen, Backstage, da kommt ihr wahres Gesicht zum Vorschein, da können sie keine scheinheilige Maske mehr aufsetzen.
Dort befindet sich die Realität - eiskalt und unbarmherzig.
Ich schlucke hart.
Nachdem sich jeder von uns für ein Menü entschieden hat, wird uns die Speisekarte abgenommen und alte Gesprächsthemen werden wieder aufgegriffen.
Unruhig trommele ich mit den Fingern auf dem Tisch und bekomme prompt einen missbilligenden Blick von Lydia geschenkt. Abrupt höre ich auf.
„Leona?“
Überrascht hebe ich den Kopf, als meine Mutter mich anspricht. Sie und Edgars Ehefrau schauen mich erwartungsvoll an.
„Erzähl Maria doch von deinem Politikvortrag, für das du 15 Punkte bekommen hast“, fordert sie mich mit einem hinterlistigen Lächeln auf.
Oh nein. Ich erstarre. Bitte zieht mich nicht in eure Unterhaltung mit rein.
Nervös spiele ich mit meinem Trinkglas und beiße mir auf die Unterlippe. Augenblicklich steigt meine Herzfrequenz, lässt mich fahrig und zappelig werden.
Ich hasse es.
„Nun, ich… habe mich sehr ausführlich informiert und gute Arbeit geleistet“, antworte ich mit roten Wangen.
Meine Mutter schnalzt tadelnd. „Untertreib doch nicht, Liebes“
Sie nennt mich nie Liebes.
„Du hast sehr gute Arbeit geleistet, ansonsten hättest du nicht die beste Punktzahl bekommen!“, meint sie und wendet sich mit einem falschen, stolzen Lächeln wieder an Maria, die Ehefrau von Edgar.
Ich presse die Lippen aufeinander und weiche dem düsteren Blick meiner Schwester aus. Im normalen Alltag würde Mama nie etwas Gutes über mich sagen. Niemals bekomme ich auch nur ein Fünkchen Zufriedenheit von ihr zu sehen, wenn ich ihr von meiner guten Leistung berichte. Nie.
Als würde es dieses Gefühl nicht geben.
Erst in solchen Momenten wie diesen, wo ein stiller Wettbewerb stattfindet, holt meine Mutter die ganzen Asse aus dem Ärmel und versucht damit andere Leute zu beeindrucken.
Das ist einfach nicht fair.
Ich spüre einen Blick auf mir ruhen.
Als ich meinen Kopf hebe, begegne ich zwei himmelblauen Augen, die mich - so habe ich das Gefühl - in einer stummen Frage anstarren.
Doch ich weiß die Antwort nicht.
Yoel - so lautet der Name des Jungen, wenn ich mich recht entsinne.
Der Sohn der Familie Manders kann nicht sehr viel älter sein als ich, vielleicht siebzehn. Aber im Raten von dem Alter anderer Leute bin ich schon immer sehr schlecht gewesen.
Ein paar Strähnen seines hellblonden Haares hängen ihm wirr im markanten Gesicht, welches schöne, männliche Züge aufweist. Ich bin mir sicher, dass Yoel ein arroganter Schnösel ist. Einer, der sich seines guten Aussehens zu sehr bewusst ist.
Oder bin ich einfach zu vorurteilhaft?
Ich schüttele den Kopf und nippe an meinem stillen Wasser.
In einer klischeehaften Liebesgeschichte würde es nun so vonstattengehen:
Das Mädchen kann den Jungen, ein totaler Macho, überhaupt nicht leiden, doch auf unerklärlicherweise fühlt sie sich zu ihm hingezogen und beide verlieben sich.
Oder: Mädchen und Junge finden sich beide total sympathisch, sie flirten sogar offensichtlich miteinander und beide verlieben sich.
Oder: Mädchen und Junge bleiben beide stumm am Tisch sitzen.
– So wie bei mir.
Bloß, dass dies absolut gar nichts mit einer Liebesgeschichte zu tun hat.
Mein Magen beginnt leise zu knurren, so dass ich ertappt meine Hände auf den Bauch lege. Doch niemand scheint es gehört zu haben.
Ich stoße die Luft aus, lasse meinen Blick durch das Nobelrestaurant schweifen und halte ruhelos nach den Kellnern Ausschau. Vielleicht kommen sie bald mit unserem bestellten Essen. Hoffentlich!
Die Zeit zieht sich dahin.
Ich weiß nicht, wie lange wir schon hier sitzen, ehe ich endlich drei Personen mit schwarzer Schürze und unseren Gerichten auf den Händen balancieren sehe. Augenblicklich hellt sich meine Miene auf und in einer unbewussten Geste lecke ich mir über die Lippen.
Mein Gemüseauflauf verströmt einen leckeren Duft und sieht dazu auch noch sehr appetitlich aus. Ich bin mir sicher, dass dieses Restaurant auch hält, was es verspricht.
Nachdem jeder von uns seine Mahlzeit vor sich stehen hat, lassen wir noch einmal kurz die Gläser erklingen, ehe wir zum Besteck greifen und in fachmännischer Haltung unser Essen zum Mund führen. Eine kleine Dampfschwade geht von meiner Köstlichkeit aus, doch ich störe mich nicht daran.
Nur schwer unterdrücke ich ein wohliges Seufzen und hindere mich mühsam daran, nicht wie in einer typischen Werbung für leckere Gerichte genüsslich die Augen zu schließen. Ebenso mühsam schaffe ich es im nächsten Moment, meinen Mund nicht wie ein Pelikan weit zu öffnen und dabei zu hecheln als wäre ich ein Hund, weil der Gemüseauflauf so heiß ist. Heilige Maria
Hastig schlucke ich den Bissen hinunter und greife nach meinem Glas, welches jedoch - so muss ich erschüttert feststellen - schon leer ist.
„Hier, du kannst etwas von mir haben“
Yoel, der scheinbar mein Problem bemerkt hat, schenkt mir etwas von seiner Wasserflasche, die er zu seinem Glas dazubekommen hat, ein.
Überrascht schaue ich ihn an. „Ähm, danke“
Ich spüre die skeptischen Blicke von Mama und Lydia auf mir ruhen und versteife mich sofort. Kerzengerade und mit zusammengepressten Lippen sitze ich auf meinem Stuhl, und wage es nicht zu ihnen zu schielen. Ich habe das Gefühl, dass meine Mutter jede einzelne Bewegung von mir genau inspiziert, mich beobachtet. Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken hinab.
„Auf welche Schule geht Ihr Sohn?“, fragt sie Maria und hebt interessiert die Augenbrauen.
Edgars Ehefrau lächelt überheblich. „Auf die Jungenschule hier in der Nähe. Dort gibt es eine große Auswahl an Kursen, die man belegen kann“
„Ach?“ Mama blinzelt. „Ich wollte meine beiden Töchter auch immer an einer reinen Mädchenschule anmelden, doch in unserer alten Heimatstadt gab es keine geeignete Schule, die ihren Fähigkeiten gerecht wäre“
„Nun, das ist sehr schade“, meint Maria und zeigt beim falschen Lächeln, wie weiß ihre Zähne sind. Ein typisches Zahnpastalächeln.
Ich höre ihnen nicht mehr zu und wende mein Gesicht von den beiden Frauen ab. Als ich die Gabel mit einer Portion Gemüseauflauf zum Mund führe und kurz puste, hebe ich den Blick und schaue Yoel direkt in die blauen Augen.
Seine Lippen kräuseln sich.
Hastig lasse ich den Happen in meinem Mund verschwinden und richte meinen Blick auf den Teller. Schon recht schnell ist mein Magen gefüllt.
„Darf ich mich erheben?“, frage ich eine halbe Stunde später.
Meine Mutter runzelt argwöhnisch die Stirn und bedenkt mich mit einem kritischen Augenausdruck, so dass ich seufzend hinzufüge: „Ich möchte ein wenig frische Luft schnappen“
Mama setzt zu einer Antwort an, als Yoel ihr plötzlich zuvorkommt und mit einem galanten Lächeln aufsteht. „Das ist eine gute Idee. Ich glaube, mir würde eine kühle Brise auch guttun“
Und wieder einmal bin ich erstaunt.
Kurz danach spüre ich allerdings so etwas wie Ärger in mir aufwallen, denn eigentlich wollte ich einen Moment für mich allein sein, um dieser beklemmenden Atmosphäre zumindest für ein paar Minuten zu entkommen.
Doch scheinbar ist mir mal wieder nichts vergönnt.
Ätzend.
Eine kurze Stille folgt und ich kann die vielen Fragezeichen über den Köpfen geradezu sehen. Die Augenpaare ruhen auf uns.
„Nun“ Papa räuspert sich. „Dann geht nach draußen, wenn ihr unbedingt wollt“
Dankbar nicke ich, erhebe mich und werfe dem Blondschopf einen kurzen, fragenden Blick zu. Yoel lächelt.
Wir entfernen uns von dem Tisch, automatisch zupfe ich an meinem Rock und streiche die marineblaue Bluse gerade. Wie ein Gentleman hilft Yoel mir in meinen schwarzen Military Coat, ich versuche mich dabei an einem Lächeln, was jedoch kläglich scheitert.
Der Maître d’hotel lächelt freundlich, als wir an ihm vorbeigehen. Erst, als uns ein kühler Abendwind um die Nase weht, entspanne ich mich ein wenig, streiche mir durch das rote Haar und seufze.
„Ganz schön langweilig so ein Essen, was?“, fragt Yoel plötzlich und lächelt keck.
Er kramt in seiner Jackentasche und holt auf einmal eine Zigarettenschachtel und Feuerzeug hervor. Dieser Junge steckt voller Überraschungen.
„Du rauchst?“ Ich kann meine Verblüffung nicht verbergen.
Er zuckt mit den Schultern und hält mir die Packung mit den Glimmstäben entgegen, doch ich lehne kopfschüttelnd ab.
„Ich bin Nichtraucher“, erkläre ich trocken.
„Es stört dich doch nicht, oder?“, fragt er mit hochgezogenen Augenbrauen und deutet auf die Zigarette in seiner Hand, die er sogleich anzündet.
Eigentlich schon.
Aber wieder schüttele ich nur den Kopf.
„Wissen deine Eltern, dass…?“, hake ich nach, als er den ersten Zug nimmt und lasse den Rest des Satzes in der Luft hängen.
„Nö“, erwidert er gleichgültig. „Denen ist das doch völlig egal, was ich mache. Hauptsache ich bin gut in der Schule und benehme mich angemessen. Das ist das A und O“
„Ach, wirklich?“, frage ich erstaunt.
„Ist das bei dir etwa anders?“, entgegnet er und wirft mir einen spöttischen Blick zu.
Ich beiße mir auf die Unterlippe und schaue weg.
Nein, bei mir ist es nicht anders.
Aber schwieriger.
Fröstelnd, weil es nun doch ein wenig kalt wird - und damit meine ich nicht nur die Temperaturen -, vergrabe ich meine Hände in den Manteltaschen und ziehe die Schultern hoch. Meine Beine sind nur mit einer blickdichten Strumpfhose bedeckt, damit man die Wunden nicht sieht.
„Weißt du, es gibt nicht viele Leute, die auf dem Boden der Tatsachen bleiben“, fährt Yoel fort und saugt an seiner Zigarette. „Meine Eltern sind Snobs, meine kleine Schwester ebenfalls. Da muss man dann eben ein wenig… tricksen“
„Wie meinst du das?“, bohre ich verwundert nach.
„Ich spiele ihr Spiel mit“, erklärt er. „Sie glauben, mich zu kennen, doch in echt bin ich ein ganz anderer Mensch. Schon irgendwie traurig, aber wie soll man das alles sonst überstehen?“
Das alles.
Er ist also auch verbittert und findet dieses Leben nicht so traumhaft, wie man durch den äußeren Schein vielleicht denken könnte.
Viele Menschen wünschen sich Reichtum, Ehre und Ansehen. Aber was nützt einem das, außer vielleicht Sicherheit? - Gar nichts. Hätte ich die Qual der Wahl, ich würde mich in ein anderes Leben, ein ganz normales Teenagerleben mit ganz normalen Problemen, wünschen, so wie man es aus Büchern und Filmen kennt.
Ja, das wäre schön.
„Und… wie erträgst du es?“, hake ich vorsichtig nach.
Yoel grinst und hält seine Zigarette zum Beweis hoch. „Mit denen hier und noch ein paar anderen von der Sorte. Die beruhigen mich“
„Du nimmst Drogen?“, frage ich entsetzt.
„Nichts Hartes“, beschwichtigt er mich und mustert mich prüfend. „Du sagst es doch niemanden, oder?“
Verblüfft öffne ich den Mund, schließe ihn jedoch wieder.
Ich schüttele mich.
„Nein, natürlich nicht“, gebe ich ihm mein Wort.
Er lächelt zufrieden.
Auf einmal habe ich das Gefühl jemand anderem gegenüberzustehen.
Der Yoel im Restaurant war ein wenig charakterloser - Reserviert, zuvorkommend, nett. Sehr oberflächlich. Doch hier draußen zeigt er offenbar sein wahres Gesicht, mit Stärken und Schwächen.
Ich lege meinen Kopf in den Nacken und betrachte den dunklen Himmel. Dichte Wolken bedecken die Sterne dahinter, lassen diesen Abend noch düsterer erscheinen als ohnehin schon. Ich schaudere.
In meinem Kopf zähle ich die Tage bis zu meinem Geburtstag, bis zu meinem Todesdatum. Es sind 17.
In knapp 408 Stunden werde ich mir keine Gedanken mehr über solche Personen machen wie Yoel, der scheinbar genauso unter dem Druck leidet, jedoch auf eine völlig andere Art und Weise. Sicherlich hat er Freunde und Spaß im Leben, irgendwie. Zumindest sieht er einen Sinn in seiner Existenz.
Ich seufze.
„Du kommst mir ein wenig verhalten vor“, meint Yoel auf einmal und bedenkt mich mit einem nachdenklichen Blick. „Hast du eigentlich schon einmal etwas Verbotenes gemacht?“
„Etwas Verbotenes?“, wiederhole ich verblüfft.
„Ja, du weißt schon. Sich dem Willen deiner Eltern gesträubt“, erklärt und lächelt geheimnisvoll.
„Ähm, nein“, gebe ich zu.
Er wirft die Zigarette auf den Boden und zermahlt sie mit seiner Schuhspitze. Im Schein der Laternenlampe wirkt sein blondes Haar schon beinahe weiß.
„Das solltest du mal tun“, meint er. „Glaub mir, dass kann wirklich guttun“
„Ich denke nicht, dass–“
„Nicht denken“, unterbricht er mich und macht einen Schritt auf mich zu. „Nur fühlen. Das hilft, sehr sogar“
Ich schlucke hart und spüre das Pulsieren meines schneller schlagenden Herzens. Wie angewurzelt bleibe ich stehen, als Yoel sich direkt vor mich stellt, so dass ich den Geruch von Nikotin, der an ihm haftet, einatme.
Er ist größer als ich, was aber auch keine Leistung ist, und schaut auf mich herab.
„Du hast eine Blockade in deinem Kopf“, meint er und tippt mit seinem Finger gegen meine Schläfe. „Aber die ist nur sehr klein, zum Glück“
„Eine Blockade?“, frage ich verwirrt und runzele die Stirn.
„Unsere Eltern lehren uns von klein auf an Dinge, die uns an sie fesseln, uns unbeweglich machen. Du verstehst, was ich meine?“
Ich nicke.
Ja, ich verstehe es genau. Ich bin ihre Marionette.
„Du musst einen Weg finden, um diese Blockade loszuwerden“, meint Yoel und schaut mich ernst an.
Ich hebe eine Augenbraue. „Ich habe bereits einen Weg gefunden“
„Ach ja?“
„Ja“
Und zwar den Tod.
Aber das muss er ja nicht wissen.
Mit hochgezogenen Augenbrauen schaut Yoel mich an und mustert mich eingehend, er scheint skeptisch zu sein.
Ich starre zurück.
Die kühle Stille zwischen uns ist ohrenbetäubend.
– Auf einmal bewegen sich seine Mundwinkel ganz langsam gen Norden, bis sie sich schließlich zu einem spitzbübischen Grinsen verzogen haben.
„Das ist echt…“, beginnt er schmunzelnd und sucht nach dem richtigen Wort. „… irre“
„Irre?“, echoe ich verwundert.
„Ich meine“, versucht er zu erklären. „Wir reden hier über Dinge, die man eigentlich nicht beim ersten Treffen anspricht.“
Meine Augenbrauen schnellen nach oben.
So gesehen, hat er recht.
Ich habe noch nie mit jemanden darüber gesprochen - über das Leben als Kind einer reichen Familie, dessen Eltern nichts im Kopf haben außer ihren Ruf, das Geld und ihr Ansehen. Yoel ist die erste Person. Und mir total fremd.
Also ist das wirklich ein wenig komisch.
Ein seltsamer Laut, ähnlich wie ein Glucksen, entwischt meiner Kehle. Ich presse die Lippen aufeinander, um nicht erneut so ein komisches Geräusch ertönen zu lassen. Ein Schmunzeln kann ich mir jedoch nicht verkneifen.
Der Blondschopf grinst. „Wir sollten unbedingt ein Treffen wiederholen, wo wir nicht über solche viel zu ernsten Dinge sprechen“
Augenblicklich versteife ich mich. „Ein zweites Treffen?“
„Ja, wieso nicht? Du scheinst cool zu sein, nicht so arrogant. Das gefällt mir“, erklärt er und lächelt freundlich.
Das geht mir nun doch zu schnell.
Ein bisschen Plaudern ist ja in Ordnung, aber gleich ein Treffen vereinbaren? - Nein, ohne mich. Da bin ich immer sehr skeptisch.
„Aber wir… das geht doch nicht!“, blocke ich sofort ab.
„Natürlich geht das“, lacht er, als hätte ich einen Witz gemacht.
„Wir kennen uns doch gar nicht!“
„Das ist ja der Sinn einer solchen Verabredung: Um diese Lückenstelle zu schließen“
Zweifelnd schaue ich ihn an.
Das gefällt mir nicht, überhaupt nicht. Möglicherweise bin ich zu zimperlich, aber selbst wenn ich es wollte, würde ein Treffen mit Yoel nichts bringen. Vielleicht, wenn wir uns früher kennengelernt hätten. Wenn ich noch nicht beschlossen hätte zu sterben. Vielleicht.
Mein Gegenüber bemerkt, dass ich nicht so begeistert bin von seiner Idee und räuspert sich verlegen. Zum Glück lenkt er ein. „Nun, wahrscheinlich ist das ein bisschen zu überstürzt. Sollen wir wieder reingehen?“
Dankbar nicke ich.
Ich bin froh, dass er mich nicht drängt, denn so etwas finde ich keineswegs toll oder gar überzeugend. Drängen ist etwas, was meistens gegen meinen Willen geschieht. Zudem ist der Blondschopf mir noch immer fremd, ich kenne ihn gar nicht. Ein zweites Treffen wäre schlichtweg zu früh.
Oder besser gesagt: Zu spät.
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Ich weiß, dass dieser Teil nicht sonderlich spannend ist, jedoch wird Yoel nachher noch eine bestimmte Rolle haben, so dass ich dieses Kapitel nicht einfach weglassen konnte. :-)
& noch einmal vielen, vielen lieben Dank an all jene, die fleißig kommentieren! Ich hätte nie gedacht, dass meine Geschichte - bisher - so gut ankommen würde! ♥
LG
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