Gifted - Die Befreiung - Teil 24

Autor: Aven
veröffentlicht am: 22.08.2012


So,
und schon gibt's mehr zu lesen. Mit euren lieben Kommis im Rücken gings recht schnell ;D Tausend Mal Danke dafür, Leute!
Also viel Spaß, ich hoffe, es gefällt euch weiterhin! :D
LG, Aven



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Kurz bevor die Nacht hereinbrach hatten sie die Stadtgrenzen von Paris erreicht und Aurelia nutzte die Gelegenheit, noch ein Mal den Kopf aus dem Fenster zu strecken, um sich die frische Nachtbrise um die Nase wehen zu lassen. Ein Hauch von Schicksal lag in der Luft, der ihr deutlich machte, dass sie sich auf dem richtigen Weg befanden. Sie zog sie gierig ein, versuchte zu schmecken, was sie nicht sehen konnte.
Die Stadt war, im Gegensatz zu Berlin, immer noch reich an Jugendstilbauten und –elementen. Die alten Gebäude mit dem verschnörkelten und geschwungenen Dekor hatten trotz ihrer dicken Mauern etwas Graziles, fast Feminines. Sogar an Metroeingängen zeigte sich der Stil des Endes des 19. Jahrhunderts. Die Metallelemente an den überdachten Treppenaufgängen wanden sich anmutig zu einem fantasievollen Geflecht zusammen und hatten Teil an dem Zauber, den dieser Ort für Aurelia ausstrahlte. Dieser Umstand hatte für sie immer den Reiz an der Stadt ausgemacht, nicht dass man sie lästiger Weise als Stadt der Liebe bezeichnete. Damit hatte sie nie viel am Hut gehabt, bis jetzt. Denn wenn sie kurz nach rechts zu Pareios schaute, fielen ihre hunderte von Gründen ein, warum es die Stadt der Liebe sein musste, wenn ihr Weg sie gerade jetzt hier her führte.
Evrill steuerte den Wagen bis tief ins Zentrum hinein und hielt dann vor einem Privatgebäude im Quartier La Villette. Die Straßen, die in das Licht der bronzegoldenen, untergehenden Sonne getaucht waren, waren ruhig. Es schien eine Wohngegend zu sein, aber die Kinder hatte man um die Uhrzeit, wo es jetzt Ende September immer früher dunkel wurde, schon nach Hause gerufen. Aurelia konnte den Herbst riechen, als sie aus dem Auto auf die mit kleinen Buchen gesäumte Straße kletterte.
„Ein Freund hat uns seine Wohnung überlassen. Es ist für einige Wochen in eine Fabrik in Reims versetzt worden.“ erklärte Evrill, als er die große hölzerne Tür mit den zwei Flügeln aufschloss. Sie folgten ihm die gewundene Treppe hinauf bis ins Dachgeschoss, wo es nur noch eine einzige Wohnungstür gab. Hinter dieser eröffnete sich ihnen ein kleines, spärlich ausgestattetes Appartement. Es war von Armut gezeichnet, aber trotzdem gepflegt. Es besaß einen kleinen Flur, ein quadratisch geschnittenes Zimmer, Wohnzimmer samt Küchenzeile und ein winziges Bad.
Aurelia stellte ihre Sachen auf der grünsamtenen Couch im Wohnzimmer ab und klappte dann ihr Handy auf. Auf dem Display erwartete sie eine Nachricht von Viktor.
„Sind gut angekommen. Bis jetzt keine Probleme. Haben Daten übergeben, warten ab.“
Sie tippte eine kurze SMS mit ähnlichem Inhalt und verstaute dann das Handy wieder. Sie hatte sich dagegen entschieden, Viktor von Evrills Kontakten und dem Venusorden zu erzählen. Sie hatte das Für und Wider abgewogen, den Nutzen gegenüber den Gefahren abgeschätzt und war zu dem Schluss gekommen, dass sie im Moment lieber mehr Infos von Viktor beziehen, als ihm herausrücken wollte, vor allem wegen Markus. Und wenn sich da doch was im Rat abspielte, konnte sie sich bei ihrem nächsten Telefonat unauffällig danach erkundigen.
Pareios war herein gekommen und hatte sich auf die Sofalehne gesetzt. „Du solltest dich fertig machen. Wir treffen uns in einer Stunde mit Evrills Informanten. Er sagt, wir sollen uns passend kleiden.“
Missmutig erinnerte sich daran, dass ihr Treffpunkt ausgerechnet eine Tanzbar war und schnappte sich seufzend ihr Gepäck. Velvet hatte ihr ein paar ihrer Kleider zur Verfügung gestellt und auch wenn sie nicht perfekt saßen, passten sie doch wenigstens ungefähr. Perücken hatten sie nur noch die, die sie aus ihrem zerstörten Zimmer hatten mitnehmen können. Da sie diese nun aber schon in heiklen Situationen benutzt hatten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sie wegzulassen. Sie zog sich in das kleine, quadratisch geschnittene Zimmer zurück. Darin war gerade genug Platz für ein etwas breiteres Bett, einen schmalen Schrank und ein Spiegel. Sie ließ ihr Gepäckstück auf die zerschlissene Patchwork-Decke fallen und suchte nach dem Kleidungsstück, das ihr am Wenigsten auffällig erschien. Velvet hatte einen eher exquisiten Geschmack, wie sie nun erschrocken feststellen musste. Zwischen bordeauxrotem Chiffon und indigoblauer Spitze entdeckte sie endlich ein schlicht geschnittenes Stück aus blasser, eisblauer Seide. Der Ausschnitt war ebenfalls nicht zu tief, also entschied sie sich in Ermangelung einer besseren Auswahl für dieses Kleid. Passende Schuhe hatte Velvet in weiser Voraussicht ebenfalls eingepackt, aber als sie sie herauszog, hätte sie ihr gerne gesagt, dass sie wohl übergeschnappt war! Winzige Pumps mit fiesen hohen Absätzen. Sie wollte wohl, dass Aurelia sich schon vor dem eigentlichen Auftrag den Hals brach! Aber ihre Allzweckstiefel waren einfach zu verräterisch zu diesem Kleid, also was blieb ihr anderes übrig?
Nachdem sie sich umgezogen hatte, ging sie ein paar Mal mit den Fingern durch die Haare. Das musste reichen, dachte sie zuerst, aber dann entdeckte sie ein kleines Täschchen mit diversen Döschen und ein wenig Schmuck, nichts Besonderes, aber irgendwie verspürte sie plötzlich den Wunsch sich zurecht zu machen. Es war ein unbekanntes Gefühl und dass es mit dem großen, gutaussehenden Elevender jenseits der Tür zu hatte, war ihr sonnenklar!
Sie schmunzelte über die vielen ersten Male, die er ihr in den letzten Tagen bereitet hatte und untersuchte still die veränderte Landschaft in ihrem Inneren. Währenddessen hantierte sie ungeübt mit Wimperntusche und Rouge und fluchte, nachdem sie sich zum wiederholten Mal mit der kleinen Bürste in die Augen gestochen hatte. Zum Glück hatte es diesen Kram in ihrer Jugend noch nicht gegeben! Eins war sicher, damit würde sie sich wahrscheinlich nie vollends anfreunden!
Sie widerstand dem Drang, sich die schmerzenden Augen zu reiben, um ihr mühevoll hervorgebrachtes Werk nicht zu verschmieren, dann betrachtete sie sich nachdenklich im Spiegel. Mit der Tusche wirkten die Augen groß und ausdrucksstark. Das Eisblau leuchtete umso mehr, da es von der Farbe des Kleides betont wurde, das sie in seidigen Wellen über die Rundungen ihres Körpers ergoss. Diese gletscherblauen Augen, die sie immer gequält hatten, schauten ihr jetzt wieder aus ihrem eigenen Gesicht im Spiegel entgegen und der schneidende Schmerz, den sie verursachten, ließ nicht lange auf sich warten.
Aber heute war es anders.
Kein eisiger Griff um ihrer Kehle, der ihr die Luft abschnürte, keine Panikattacken, die ihr Herz zum Rasen brachten. Keine unkontrollierbare Wut auf sich selbst.
Nur ein dumpfer tiefsitzender Schmerz, vermischt mit einer Prise Schuldgefühl.
Sie nahm den Schmerz an, ertrug ihn leise, fühlte die Schuld und trauerte einfach nur. Obwohl es anstrengend war, mit diesen Gefühlen umzugehen, sie zu zulassen und die Schuldgefühle ihr die Lippen und die Finger kurz erzittern ließen, war es doch weitaus erträglicher, als noch vor ein paar Tagen. Sie setzte sich aufs Bett, legte ihre Hände auf den Schoß und sah erstaunt zu, wie sie schon bald wieder zur Ruhe kamen. Es war merkwürdig, dass der Selbsthass sie nicht wie sonst überwältigte, aber sie nahm es dankbar an, wissend, wer diese Veränderung verursacht hatte. Ein breites Lächeln stahl sich auf ihre Lippen und schon hatte sie das Licht gelöscht, um ihrem Retter entgegen zu gehen.
Er und Evrill saßen im Wohnzimmer und unterhielten sich angeregt über den Fahrer, den sie treffen wollten. Sie sahen beide auf, als Aurelia den Raum betrat. Ihre Augen wurden groß, während sie ihre Erscheinung musterten. Evrill hielt sich zurück und wandte sich bald wieder der Karte zu, die vor ihnen ausgebreitet auf dem kleinen Wohnzimmertischen lag. Pareios stand auf und kam zu ihr herüber. Er legte seine Hand an ihre Hüfte und trat noch einen Schritt näher heran. Er strich mit dem Daumen über ihre Lippen und durchdrang sie mit einem hungrigen Blick. Wie von selbst fanden ihre Hände seine starken Schultern und glitten hinunter auf die Brust. Ihre Lippen brannten unter seiner Berührung, sie erfüllte sofort wieder jede Faser mit der unstillbaren Sehnsucht nach ihm.
„So kann ich dich nicht mitnehmen! Kannst du mir mal verraten, wie ich mich heute Abend auf irgendwas anderes konzentrieren soll, als auf dich in diesem Kleid?“ flüsterte er gespielt empört, obwohl ihm klar war, dass Evrill ihn so oder so hören würde. Die zwischen ihnen entflammende Hitze knisterte heiß um sie herum und ließ die Temperatur im Raum schlagartig ein paar Grad ansteigen. Evrill hob verwirrt den Kopf, als er es registrierte. Sie musste plötzlich Schmunzeln, da sie sich an den Club in Berlin erinnerte und sich fragte, ob Pareios ihn vielleicht auch wegen der stickigen Wärme im Inneren ausgesucht hatte. Dort war das plötzlich Aufkochen seiner Gabe nicht so deutlich zu spüren gewesen, wie hier in diesem kleinen, normal temperierten Raum.
Pareios kümmerte sich nicht um ihren unfreiwilligen Zuschauer, sondern legte seine Hand knapp unter ihr Ohr, die Fingerspitzen in ihrem Haaransatz vergraben. Er zog sie fester in seine Umarmung, dann küsste er sie mit einer Intensität, die ihr die Luft wegbleiben ließ. Kurz und voller Leidenschaft presste er die weichen Lippen auf ihre und wie eine aufzischende Zündschnur zog sich die Welle der Begierde ihren Hals bis tief in die Eingeweide hinab. Als er sie freigab, taumelte sie atemlos gegen ihn. Die Macht die er über ihren Verstand und über ihren Körper besaß, ließ sie kurz stutzen, aber der Strom ihrer aufwallenden Empfindungen war so süß, dass sie sich nur noch mehr wünschte, sich an ihn zu verlieren.
„Ähm,…, ich denke, wir ähm…, sollten dann mal los…. uns schon mal die Gegend rund um die Bar ansehen!“ stammelte sie, nur mit der Hälfte ihres Gehirns anwesend und erntete dabei amüsierte Blicke von ihren Kollegen. Nur am Rande registrierte, dass das ganze ihr wohl hätte peinlich sein sollen. Das war aber wohl eins der wenigen Gefühle, die sich im Moment so gar nicht einstellen wollten. Völlig aus der Fassung fischte sie nach ihrer Lederjacke, in deren Innentasch sich mittlerweile das blaue Glaskreuz befand. Herrgott noch mal, er fühlte sich so gut an, dass Pareios ihr den Verstand raubte! Viel zu gut, schließlich würde sie den noch brauchen!

Sie verließen die Wohnung und stiegen in den Wagen, um sich auf den Weg weiter ins Zentrum hinein zu machen. Die Bar, in der sie sich verabredet hatten, lag in der Nähe des Seineufers und war um die Uhrzeit gut besucht. Sie waren zuerst ein Mal am Eingang vorbei gefahren und hatten neugierige und aufmerksame Blicke durch die bunte Menge vor dem Lokal schweifen lassen. Einige rauchten und unterhielten sich, andere drückten sich in eine dunkle Ecke und fummelten, wobei ihr das noch lieber war, als den Dealer zu entdecken, der an der Ecke einem Jugendlichen die Hand reichte. Sicher fand gerade ein Geschäft statt. Verärgert kniff, sie die Lippen zusammen. Hätte sie nicht gerade ein anderes Ziel vor Augen, hätte sie sich ein wenig Zeit für dieses Arschloch genommen. Und es hätte ihm wahrscheinlich nicht so viel Vergnügen bereitet, wie ihr! Angst war vielleicht keine edle Motivation, aber eine wirkungsvolle!
Evrill parkte den Wagen. Er würde vorerst noch ein paar Minuten im Auto warten und ihnen dann folgen. Ein Sicherheitsseil so zu sagen, falls die Dinge aus dem Ruder laufen sollten.
Pareios und Aurelia traten zusammen durch die breite Eingangstür, über der in geschwungenen Lettern ‚Caveau de la Huchette‘ geschrieben stand.
Im Inneren herrschte gedämpftes Licht und auf einer Bühne gegenüber spielte eine kleine Jazzband. Die Tanzfläche davor war gefüllt mit tanzenden Paaren und rund herum standen unzählige kleine runde Tische. Die Einrichtung hatte etwas Zeitloses, wobei die Stühle und Tische alle bunt zusammengewürfelt waren und die einzelnen Polsterbezüge nicht zu einander passten. Der rustikale Scharm zog sich auch an den rohen Backsteinwänden weiter, die mit verschiedenen Kunstwerken in satten Farben verhangen waren. Die Musik erfüllte ihre Ohren mit einer tragenden Jazzmelodie, die von gedämpften Saxophon- und Trompetenklängen unterlegt war.
Sie schoben sich durch die Menge und suchten sich einen kleinen Tisch in der hinteren Ecke, von dem aus sie den ganzen Saal und den Eingang im Auge behalten konnten.
Pareios legte ihr Erkennungszeichen, die Stadtkarte von Paris, für alle ersichtlich auf den Tisch vor ihnen und stand auf, um ihnen etwas zu trinken zu bestellen. Stadtkarten benutzte heute eigentlich keiner mehr, die meisten Leute bezogen das Internet über ihre Smartphones und hatten so Zugriff zu Straßennetzen und GPS, weswegen sie weit und breit die Einzigen waren, die mit einem solchen gefalteten Stück Papier durch die Gegend liefen.
Aurelia untersuchte die Menge der Barbesucher, fragte sich, ob ihr Kontakt auf die selbe Idee gekommen war wie sie, und früher eingetroffen war, um sich umzusehen. Die Bedingungen ihres Treffens waren ihr immer noch unheimlich. Sie konnte es nicht leiden, hier wie das Kaninchen auf dem Präsentierteller auf die Schlange zu warten und durch ihr Erkennungszeichen auch noch quasi ein Leuchtschild hoch zu halten, das ihre Anwesenheit verriet und sie identifizierte. Sie hätte sich wohler gefühlt, den Mann mit dem sie sich treffen wollten, erst ein Mal aus sicherer Entfernung betrachten zu können, aber das hatte dieser geschickt verhindert, indem er diese Regeln diktiert hatte. Nervosität ergriff sie, angesichts der Möglichkeit, dass er hier direkt neben ihr sitzen und einen Hinterhalt planen konnte, ohne dass sie auch nur die geringste Ahnung davon hatten. Aurelia konzentrierte sich. Sie entließ ihre Intuition, schickte sie durch den Raum, auf der Suche nach einem Gesicht, das ihr irgendeine Form von Aufruhr durch die Knochen jagte. Aber im Moment war alles ruhig. Keine Person, die irgendeine Emotion in ihr verursachte, bis ein gewisser, verführerisch lächelnder Mann wieder an ihren Tisch kam. Pareios hatte zwei Gläser Gingerale dabei und glitt anmutig neben ihr auf den Stuhl.
Währenddessen nahm Aurelia aus den Augenwinkeln war, wie Evrill die Bar betrat. Der Elevender schritt langsam durch die Tische und zog dabei mit seinen schicken Klamotten, blass mintgrünes Hemd kombiniert mit eleganten schwarzen Hosen, und mit seinem exotisch guten Aussehen mehr als nur einen Blick auf sich. Er machte einen Abstecher an den Bartresen und ließ sich kurz darauf mit einem klaren Getränk an einem runden Tisch in ihrer Nähe nieder.

„Das ist jetzt schon unser zweites Date, ist dir das eigentlich bewusst?“ fragte Pareios heiter und legte unter dem Tisch seine Hand auf ihr Knie. Augenblicklich wurde sie ruhiger, fühlte die Wärme seines Griffs durch den hauchdünnen Stoff, so nah an noch empfindlicheren Stellen ihres Körpers. „Ich dachte ein Date beinhaltet nur zwei Personen!“ gab sie sie lächelnd zurück, meinte damit nicht nur Evrill sondern auch ihren Informanten, und rutschte mit ihrem Stuhl näher zu ihm heran. Er seufzte voller Sehnsucht und fixierte sie mit diesem unwiderstehlich aufreizenden Grinsen. „Ich fürchte, wenn es danach geht, werden wir lange auf ein zweites Date warten müssen!“ erwiderte er dann wehmütig. „Ich hoffe du lässt es trotzdem zählen! Schließlich hab ich mir doch solche Mühe mit meinem Outfit gegeben!“ scherzte er jetzt, wobei ihm Aurelia ernsthaft beipflichten musste. Es sah zweifellos blendend aus in der dunkeln Denimjeans und dem schwarzen Hemd, dessen beiden oberste Knöpfe er offen gelassen hatte. Die Ärmel waren lässig bis zum Ellenbogen hochgekrempelt. Sie musste sich vom Anblick des Ansatzes seiner perfekten Brustmuskulatur losreißen, der schon begonnen hatte, ihre ganze Aufmerksamkeit zu fesseln. Doch sie wollte wachsam bleiben, schließlich waren sie nicht nur zum Vergnügen hier.
„Ich hab dich übrigens noch nie geschminkt gesehen! Gibt es einen besonderen Anlass?“ erkundigte er sich beiläufig, während er ihr eine Strähne ihres offenen Haares hinters Ohr strich, was bei ihr eine Gänsehaut auf Wange und Hals hervorrief. Sie versuchte vieldeutig zu lächeln und konnte nicht widerstehen, ihrerseits ihre Hand unter dem Tisch auf sein Knie zu legen. Er schien sofort zu begreifen, dass er der einzige Grund für ihre Aufmachung war und schmunzelte fröhlich. Er beugte sich vor, sein Mund schwebte an ihrem Ohrläppchen, berührte es nicht ganz, aber als er mit rauer Stimme sprach, übertrug sich die tiefe Vibration auf ihre Haut, jagte ihr Schauer um Schauer den Nacken hinunter. „Du musst mich nicht beeindrucken, ich bin dir schon voll und ganz verfallen!“
Bei seinen Worten begann ihr Herz zu singen, jede Ader, jede Sehne, jeder Muskel prickelte im Takt, während sie seiner unvergleichlichen Anziehungskraft folgte und ihren Kopf drehte, sodass ihr Mund auf seinem landete. Sie presste die geschlossenen Lippen auf seine, aber als er die Hand um ihren Nacken legte und sie mit sanftem Druck festhielt, öffnete sie sie begierig. Vorsichtig und behutsam strich seine Zunge über ihre, beinahe andächtig passten sie ihre Bewegungen an einander an, küssten sich langsam und gefühlvoll, mitten in dieser lauten, belebten Bar, vollgestopft von Menschen. Erst nach ein paar Minuten trennten sie sich widerwillig von einander, vor allem weil sich irgendwo in Aurelias vernebeltem Hirn ein Rest von Pflichtgefühl meldete. Trotzdem war all das merkwürdiger Weise weder fremd noch unangenehm, es fühlte sich einfach normal an. Was für eine Seltenheit in ihrem Leben, wie sie fand.
Sie tranken still ihre Getränke und beobachteten weiter die Menschenmenge um sie herum, es war mittlerweile kurz vor elf Uhr. Der Kontaktmann musste bald eintreffen.

Schon als die Tür aufging, und ein Schwall der kühlen Septemberabendluft herein drang, ließ die Intuition sie aufblicken. Bingo! Das musste er sein, alle ihre Sinne waren sich ganz sicher!
Ein hochgewachsener, breitschultriger Mann mit strohblondem Haar trat ein. Er trug eine sandfarbene Jacke über schlichten schwarzen Stoffhosen mit Bügelfalte und einem schwarzen Hemd, offensichtlich eine schnieke Montur, die er bei seiner Arbeit trug. An der Garderobe entledigte er sich der Jacke und sah sich suchend im Raum um. Sie hielt ihn mit ihrem Blick fixiert, bis er sie an ihrem Tisch ganz hinten am anderen Ende des Raumes samt ihrer Karte entdeckte. Er untersuchte kurz ihre Gesichter, bevor er sich zielstrebig durch die vielen Tanzenden auf sie zu bewegte. Sie rechnete damit, dass er sich setzen würde, aber er blieb vor ihrem Tisch stehen.
„Wenn der Herr erlaubt, würde ich ihre reizende Begleiterin gerne für einen Tanz entführen. Was meinen sie?“ sagte er laut und charmant, während er ihr einen undeutbaren Blick samt einem freundlichen Lächeln zuwarf. Sein jugendliches Gesicht und die topasfarbenen Augen verrieten einen offenen, wachen Charakter und jemand der wusste worauf er achten musste, konnte sofort erkennen, dass er ein Elevender war. Pareios‘ Griff um ihr Knie verstärkte sich, aber sie hatte schon, einem Impuls ihres sechsten Sinnes folgend, genickt und war im Begriff aufzustehen, bevor dieser einen Mucks von sich geben konnte. An seiner Schulter vorbei konnte sie sehen, dass Evrill die Szene keinen Moment aus den Augen ließ.
Der unbekannte Blonde streckte ihr den Arm über den Tisch entgegen und sie legte ihre Hand entschlossen in seine, ließ sich von ihm um die Stühle herum, hinein in die Menge auf der Tanzfläche führen. Es war eine instinktive Trance, die ihre Schritte bis zu diesem Punkt leitete, ihr das Denken abnahm, aber dort angekommen wurde ihr bewusst, was sie da eigentlich tat – und dass sie schon zum zweiten Mal in ein paar Tagen vor dem Problem stand, dass sie nicht tanzen konnte! Wobei die Sache heute auch noch durch ihr halsbrecherisches Schuhwerk verkompliziert wurde!
Jedoch war sie im Moment fest entschlossen, es sich in keinster Weise anmerken zu lassen und hoffte auf ein langsames Lied, bei dem es genügte, wenn sie einfach nur hin und her wippte. Der Fremde stoppte in der Mitte der Parketts, wandte sich um und zog sie schwungvoll an sich heran, so dass sie fast gegen seinen Körper geprallt wäre. Doch er fing sie mit dem anderen Arm auf und begann sich mit ihr zu drehen. Sein Griff war der eines erfahrenen Tänzers, wie er sie so leichtfüßig mit sich wirbelte. Die Musik war einnehmend - nicht zu schnell, Gott sei Dank - und der geheimnisvolle Fremde musterte ihren Gesichtsausdruck bei jeder Bewegung. Seine Mundwinkel zuckten freudig zu einem charmanten Lächeln, während er sie weiter drehte und dabei immer wieder ihre Hüften berührte. So langsam fragte sie sich, wie lange er dieses Spielchen noch treiben wollte und worauf das Ganze wohl hinaus lief. Mit zweifelhaft unbekannten Männern zu tanzen, war nicht gerade ihre Lieblingsbeschäftigung und ihr Geduldsfaden spannte sich allmählich gefährlich an.
Sie entdeckte Evrill am Rand der Tanzfläche. Er hatte eine hübsche, junge Blondine aufgefordert und tanzte mit ihr jetzt immer näher an Aurelia und ihren Kontaktmann heran. Evrill bewährte sich gerade als umsichtiges Teammitglied und sein lässiger Ausdruck zeugte von einer ungeahnten Professionalität. Er fiel nicht auf, beruhigte sie aber doch mit seiner Anwesenheit im Getümmel.
Nach einer Weile verlangsamte ihr Tanzpartner das Tempo und zog sie enger zu sich. Auf die Tuchfühlung war sie nicht vorbereitet gewesen und ihr Körper versteifte sich automatisch, als er ihre Arme nahm und sie sich um den Hals legte. Seine eigenen schlang er um ihre Taille und wiegte sich jetzt nur noch mit ihr hin und her. Sie ließ es geschehen, bemühte sich, ihre Rolle, glaubwürdig zu spielen, auch wenn sie sich ein Wenig unwohl fühlte.
Als der Fremde den Kopf seitlich an ihr Gesicht legte, konnte sie Pareios‘ sengenden, besitzergreifenden Blick im Nacken spüren.
„Oh Mann, ich habe mir vorher wirklich den Kopf zerbrochen, wie ich am Unauffälligsten mit euch Kontakt aufnehmen könnte, aber dass es so angenehm werden würde, hätte ich nicht gedacht!“ flachste er jetzt an ihrem Ohr und sie fühlte wie sich seine Wangen zu einem Lächeln verzogen. Dann wurde sein Ton entschuldigend. „Verzeih bitte die Vorsichtsmaßnahmen, aber heut zu Tage weiß man nie, wer zusieht!“ Sie musste zugeben, dass er damit wohl Recht hatte und entspannte sich ein Bisschen. Ihre Körper berührten sich, aber er übte keinen Druck aus, als wolle er einen letzten Funken geschäftlichen Abstandes wahren. „Ich nehme an, ihr seid Juliens Freunde!“ Das letzte Wort betonte er vielsagend, wobei ein Hauch seines feuchten Atems über ihren Hals strich. Sie nickte.
„Er hat mir gesagt, ihr habt einige Fragen über die Versuchsreihe ‚New Dawn‘. Ich habe damals mehrfach einen Mann gefahren. Er sagte mir, er arbeite bei dieser Studie mit. Er hat mir nie seinen Namen gesagt, aber ich habe ihn immer von der selben Adresse in Kopenhagen abgeholt und wieder zurück gefahren.“
„Was noch? Alles was du weißt könnte wichtig sein!“ forderte sie eindringlich an seiner Schulter. Er schüttelte unmerklich den Kopf und seufzte bedauernd. „Ich fürchte, viel mehr ist da nicht. Er hat mir nie erzählt, worum es in den Tests ging, aber manchmal sah er ziemlich fertig aus. Er war groß und gut gebaut, als ich ihn zum ersten Mal gefahren habe, aber ein paar Wochen später sah er nur noch aus wie ein Penner, klapperdürr und ausgezehrt, hatte auch schon einige kahle Stellen auf dem Kopf.“ erzählte er weiter von allen Details, die ihm im Gedächtnis geblieben waren.
„War er ein Elevender?“ wollte sie wissen, einem unbewussten Schrecken auf der Spur. „Ich dachte es anfangs, aber als seine körperliche Konstitution rapide abnahm, habe ich angenommen, dass er nur ein ungewöhnlich gut gebauter Mensch war, der definitiv zu viel arbeitete. Ich habe ihn zu den unchristlichsten Zeiten durch die Gegend chauffiert, er schien mir wie ein Workaholic.“
„Wie sah er aus?“ Aurelia atmete flach, drehte sich mit ihm auf der Stelle und lauschte seinen Ausführungen. Ihr Herz schlug immer schneller. Wesentlich schneller als die Musik, die im Hintergrund rauschte. Sie spürte es tief in den Knochen, dass sie hier auf der richten Fährte waren. „Hm, vielleicht 1,85 groß, dunkle Haare, schwarz oder braun, ich weiß nicht mehr genau, aber dunkle Augen hatte er. Die sieht man am häufigsten, wenn man sich über den Rückspiegel unterhält. Und als ich ihn zum letzten Mal gefahren habe, hatte er eine frische lange Wunde seitlich am Ohr vorbei, den Hals hinunter. Falls er noch lebt, hat er da jetzt vielleicht eine Narbe.“
„Falls er noch lebt?“ Panik stieg in ihr auf, bei dem Gedanken, dass ihre einzige Spur möglicherweise bereits den Löffel abgegeben haben könnte.
„Ich sagte doch, er sah zu der Zeit wirklich schlecht aus. Er war nur noch der Schatten des Mannes, den ich beim ersten Mal abgeholt habe.“ In seiner Stimme schwang Bedauern mit, was ihren Eindruck verstärkte, dass sie es hier mit einem grundsätzlich guten Mann zu tun hatte. Warum er wohl für die Hegedunen arbeitete?
Aber sie war nicht hier, um sich über Beweggründe zu sorgen. Also erkundigte sie sich nach der Adresse die er erwähnt hatte und wohin er ihn jedesmal gebracht hatte.
„Ich habe euch beide Adressen aufgeschrieben. Du kannst sie haben, aber vorher muss ich noch etwas tun und ich entschuldige mich schon jetzt dafür!“ Er kicherte voller Vorfreude und machte sich keine Mühe, seine Absichten vor ihr zu verbergen. Sie waren in einem Raum voller Menschen und ihr Treffen gebot höchste Diskretion. Also waren Aurelia die Hände gebunden, obwohl sie ihm seine wahrscheinlich in Sekundenschnelle hätte brechen können, als er eine seitlich an ihre Wange legte. Dann zog er einen ihrer Arme von seinem Nacken und drückte ihre Hand mit seiner umschlossen gegen seine Brust. Aurelia fühlte die Ecken des gefalteten Stück Papiers in die Haut im Innern ihre Faust drücken, als er ihr dies während dieser Bewegung zu schob. Dabei blitzten seine Augen frech.
Das machte sie so perplex, dass sie, obwohl sie es geahnt hatte, dann doch keine Gegenwehr leistete, als sein Kopf sich hinab beugte und er ihr einen kurzen flüchtigen Kuss auf den Mund hauchte. Seine Lippen verweilten nur einen Augenblick, leicht geöffnet, und bevor sie angemessen reagieren konnte, ließ er von ihr ab, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verschwand in der Menge.
Keine Sekunde später fühlte sie Pareios‘ Hitze im Rücken, der wahrscheinlich bei dem Anblick wie ein geölter Blitz auf die Tanzfläche geschossen war. Dass er niemanden mehr an ihrer Seite vorfand, schien ihn noch wütender zu machen, als er es ohnehin schon war. Nirgends war mehr eine Spur von ihrem Informanten zu entdecken, auch die Jacke an der Garderobe fehlte bereits. „Dieser Bastard!“ grummelte Pareios und legte ihr besitzergreifend eine Hand auf die Schulter. Seine Berührung war heiß als seine Haut auf ihre traf. Es gefiel ihr, dass er sie offensichtlich als ihm zugehörig befand, denn genau das fühlte sie ebenso, wünschte sie sich von ganzem Herzen! So ließ sie sich von ihm zurück zu ihrem Tisch delegieren, wo Evrill, er hatte sich von seiner Tanzpartnerin verabschiedet, mit ungeduldiger Miene auf sie wartete.
„Und war er es?“ erkundigte er sich schon, bevor sie sich gesetzt hatte.
„Jep!“ sagte sie leise und lehnte sich über das dunkle Holz zu Pareios rüber. „Der ‚Bastard‘ hat uns mit seiner Info gerade eine heiße Spur geliefert!“ Sie zückte das Stück Papier und schob es auf der Tischplatte unter ihrer Hand verdeckt zu ihm herüber. Beide steckten sie erstaunt die Köpfe zusammen und überflogen das Geschriebene einen Moment lang.
„Das ist ja in Kopenhagen!“ stellte Evrill fest. „Sieht so aus als kämen wir auf dieser Mission weit rum, was?“

Aurelia berichtete ihnen mit knappen Sätzen von ihrem Gespräch mit dem Kerl, der seinen Namen nicht preisgegeben hatte, genauso wenig wie er ihren wusste. Sie rätselten noch eine Weile, was ein Mensch mit der ganzen Sache zu tun hatte und kamen zu dem Schluss, dass es vielleicht ein Wissenschaftler gewesen war, der versucht hatte, die harten Zielvorgaben seiner hegedunischen Auftraggeber zu erfüllen. Er hatte seine Arbeit anscheinend mit aller Kraft vorangetrieben, was seinen sterblichen Körper in Mitleidenschaft gezogen hatte. Auf einer Ebene tat ihr der Mann Leid, der wahrscheinlich genauso in einem Fadennetz aus Zwang und Lügen festhing, wie so viele andere, aber gleichzeitig verabscheute sie ihn, an solchen Entwicklungen beteiligt gewesen zu sein, in welcher Form auch immer. Sie vereinbarten morgen früh nach Kopenhagen aufzubrechen, dann bezahlten sie ihre Rechnung und verließen das ‚Caveau de la Huchette‘.
Sie gingen zu Fuß zu ihrem Wagen, den sie nur eine Querstraße weiter abgestellt hatten, aber schon an der nächsten Gasse, die zwischen zwei Häusern anscheinend in einen Hinterhof führte, verlangsamte Aurelias Intuition ihre Schritte. Irgendwann stoppte sie, ganz von der düsteren Faszination gefesselt, die der schmale Weg zwischen den zwei Gebäuden dank ihrer Gabe auf sie ausübte. Es fühlte sich beinahe an, wie ein dunkler Schatten, der ihr die Beine hoch kroch, sich wie eine Haut um sie legte und sie tiefer ins Dunkel zog. Pareios und Evrill waren ebenfalls stehen geblieben, starrten sie verwirrt und entsetzt an, als sie sich Schritt für Schritt in die Gasse hinein bewegte. Beide folgten ihr jetzt wortlos, aber mit höchster Wachsamkeit. Sie hatten die Hände schon an die Waffen unter ihren Jacken gelegt, bereit sie zu ziehen und was immer da kommen mochte zu erledigen. Doch Aurelia fühlte keine unmittelbare Gefahr, sondern nur eine merkwürdige Leere, während sie weiter die dunklen Ecken nach der Ursache ihres Gefühls durchforstete.
Schließlich fanden ihre Augen schräg gegenüber, halb verdeckt von einem Müllkontainer, einen Haufen, aus dem verrenkte Glieder herausragten. Er lag in einer Lache aus dunkler, klebriger Flüssigkeit, die die Luft mit einem kupfrigen Hämoglobingeruch füllte. Ihre Kehle schnürte sich zu und sie versuchte, alte Bilder und aufkeimende Übelkeit zu verdrängen. Zu oft hatte sie tote und misshandelte Körper gesehen, aber es würde wohl nie ein Ende nehmen.
Sie ging weiter auf die geschundenen, menschlichen Überreste zu und suchte irgendwo nach einem Gesicht. Es war nicht mehr zu erkennen, wo genau ursprünglich eins hätte sein müssen. Doch mit jedem Zentimeter den sie weiter absuchte, sickerte die Gewissheit in ihren Schädel. Trotz der Finsternis erkannte sie winzige Fetzen sandfarbenen Stoffes an den wenigen Stellen, wo ihn das Blut nicht schwarz gefärbt hatte. Der Schreck ließ ihr das Blut in den Adern zu Eis kristallisieren.
Mein Gott, sie kannte diesen Mann!






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