Autor: Aven
veröffentlicht am: 06.08.2012
Hey Leute,
hier gibts mehr zum Lesen ;D Diesmal befinden wir uns in etwas ruhigerem Fahrwasser, ein bisschen Abwechslung also. Tausend mal Danke für eure Kommentare, es ist wirklich klasse, wenn ihr Freude an der Geschichte habt!
Viel Spaß beim Lesen und sagt mir, was ihr davon haltet :D
LG Aven
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Sie fuhren die ganze Nacht hindurch. Sie alle wollten so weit weg, wie möglich. Viktor machte einen großen Bogen um Berlin und lenkte den Wagen weiter Richtung Nordosten. Seit die Vereinigten Staaten von Europa in den 2020er Jahren gegründet worden waren, gab es keine Landesgrenzen mehr innerhalb von Europa, weswegen sie schnell und ohne Zwischenstopp voran kamen. Da sie im Moment weder dem Rat noch seinen Verbündeten trauen konnten, mussten sie sich auf persönliche Seilschaften berufen. Viktor, der im Jahre 1695 in Königsberg geboren war hatte im Laufe der Jahrhunderte viele nützliche Freundschaften geknüpft und gepflegt. Uns so war ihm als erstes ein Freund aus seiner Jugend eingefallen, der sich mit seiner Frau und seinem Kindern Ende des 18. Jahrhunderts aus dem politischen Geschehen um die Elevender zurückgezogen hatte. Er war früher ein Ratsmitglied der Legion gewesen und als er sich aufgrund seiner Gefährtin, seines Gegenstücks, aus dem aktiven Dienst zurückgezogen hatte, hatte Viktor ihm Markus als seinen Nachfolger empfohlen. Ezekiel hätte den jungen, kalten, undurchsichtigen Mann bestimmt nicht von selbst in Betracht gezogen, wenn Viktor nicht so heftig insistiert und sich für ihn eingesetzt hätte. So wurde Markus zum jüngsten Ratsmitglied aller Zeiten und erfüllte seine Pflichten zu größter Zufriedenheit. Wie so viele setzte Ezekiel blindes Vertrauen in Viktor und er hoffte, dass ihn dies auch jetzt empfangen und verstecken würde.
Im Auto wurde wenig gesprochen. Es herrschte eine düstere Stimmung, überlagert von dem kurzen Hochgefühl der Befreiung ihrer Kameraden, aber schon wieder untergraben von der Gewalt, die ihnen angetan worden war. Sie befanden sich in einer verzwickten Lage und sie mussten erst sichten, was Aiden hatte aus dem Zentralrechner entwenden können. Daraus und aus all den anderen Geschehnissen mussten sie nun irgendwie schlau werden und einen Schlachtplan entwerfen, zunächst ohne den Rat. Erst wenn sie wussten, wie genau sie mit der Sache weiter verfahren sollten, wollten sie sich wieder mit Markus in Verbindung setzen. Aurelia war erschüttert darüber, welch großen Aufwand Markus betrieben hatte, um an die Steine zu kommen und ihr Geheimnis zu lüften, aber für ihre Kameraden und Freunde hatte er keinen Finger gerührt. Sie hatte bisher ein ganz anderes Bild von dem Ratsmitglied gehabt. Viktor war sein Vertrauter gewesen und daher hatte sie noch nicht einmal nachgefragt. Alles was Viktor gesagt hatte, hatte sie ohne Widerstand als Realität akzeptiert, doch wie sich die letzten Tage gestaltet hatten, schien darauf hinzudeuten, dass sie es sich da zu leicht gemacht hatte. Sie konnte Viktors Verhalten noch in gewissen Zügen nachvollziehen, aber die Überlegenheit, die alles kennzeichnete, was er tat, war nicht ganz so lupenrein, wie sie geglaubt hatte. Alles, was sie bisher erreicht hatten, was die Steine betraf, war trügerisch. Nichts daran passte wirklich zusammen, und wenn es das tat, und sie eine Spur verfolgten, führte es sie ins absolute Chaos. Sie dachte an Syrus, der ihr einmal erzählt hatte, dass alle Dinge im Kosmos danach streben, ihre Entropie zu vergrößern, das bedeutete dass die Unordnung die natürlichste Form des Universums war. Dinge in eine Ordnung, oder ein System zu packen bedurfte eines Energieaufwandes. Natürlich hatte er das naturwissenschaftlich gemeint und über Moleküle gesprochen, aber nun schien es Aurelia, als würde dieses Naturgesetz nicht nur materielle Stoffe betreffen. Sie empfand eine unglaubliche Schwere in ihrem Geist, die alle Gedanken langsamer ziehen ließ und verhinderte, dass sie sich zu einem kompletten Puzzle zusammen legten.
Sie befand sich in einem Zustand, der ihr seltsam fremd war. Es war eine Mischung aus der neuerlangten, pulsierenden Stärke, die sie aus der Kontrolle ihres Ungeheuers und der Rettung ihres Liebsten zog, sowie der neuen Frucht darum, dass er ihr wieder genommen werden könnte. Die Möglichkeit Pareios zu verlieren hatte Tür und Tor für viele andere verrückte Sorgen geöffnet und als wäre ihr Gedankenkarussell nicht schnell genug, begann sie nun auch noch ernsthaft an Viktor zu zweifeln, was sie niemals auch nur eine Sekunde in Betracht gezogen hätte. Sie wusste, dass er keine schlechten Absichten hatte, aber seine Besonnenheit hatte sich verändert, genauso wie ihre Vorbehaltlosigkeit. Ein Teil von ihr hasste ihn noch immer für seine Sturheit. Damit musste sie nun zu Recht kommen. Sie und ihr Team hatten alles zurück gelassen, standen ohne Ausrüstung und Hilfe da. Die Welt war auch so schon kompliziert genug, ohne dass es in ihren eigenen Reihen kriselte.
Aurelia starrte in die Dunkelheit hinaus. Je weiter sie sich von Berlin entfernten, desto ruhiger wurde sie. Sie betrachtete Pareios‘ friedliches Gesicht und strich ihm über die Stirn. Er hatte seinen Kopf in ihren Schoß gebettet und war eingeschlafen. Sie bewunderte die breiten massigen Schultern des hünenhaften Mannes, der mit seiner Aura einen Raum dominieren konnte und nun zusammengefaltet neben ihr auf der Rückbank lag. Seine Lebendigkeit und Stärke hatte sie an ihn gefesselt und er hatte ihr immer so unverwüstlich und gelassen geschienen. Auch in ihrem kurzen Gespräch vorhin hatte er sich in allen seinen Gefühlsäußerungen kontrolliert, hatte seine Verletzung und seine Sehnsucht nach ihr gezügelt, um sie zu trösten. Selbst in dieser Situation sorgte ER für SIE. Doch wie er nun so anmutig schlummerte, wirkte er so schutzlos und verwundbar, es tat ihr im Herzen weh. Jetzt konnte sie zusehen, wie kleinere Wunden langsam verheilten. Die größeren, tieferen waren immer noch mit verkrustetem Schorf bedeckt. Sein Körper konnte sich vielleicht erholen, aber konnte es auch seine Seele? Sie hatte keine Vorstellung davon, was die Hegedunen ihm angetan hatten. Sie fühlte sich schwach und machtlos gegenüber dessen und wünschte sich, seinen Schmerz auf sich nehmen zu können. Sie kannte sich schließlich damit aus, aber ihn eventuell gebrochen zu sehen, mit zu erleben, wie sein Feuer und seine Leichtigkeit vielleicht abgetötet worden waren, war zu viel. Er war wie die Essenz des Lebens, er war Leidenschaft, und die Möglichkeit, dass die Anderen es möglicherweise geschafft hatten, dies alles aus ihm heraus zu treiben, belegte sie mit tiefer Trauer. Auch wenn es im Moment nicht so schien, als hätte sich etwas verändert, so war sie sich sicher, dass so etwas nicht spurlos an einem Menschen vorbei gehen konnte.
Sie vermochte nicht zu glauben, dass irgendwelche Gefühle noch stärker sein konnten, als die, die sie nun für Pareios empfand. Bis zum letzten Atemzug, bis ihr letzter Herzschlag verklungen war, würde sie für ihn kämpfen. Und es gab nichts mehr, das sie hätte von ihm fernhalten können. Nicht einmal das Wissen darum, dass sie ihn verletzten könnte. Dieser harte, mächtige Krieger, der ihr eine so sanfte fürsorgliche und liebevolle Seite von sich zeigte, besaß sie nun mit Haut und Haaren. Trotz all der schrecklichen Erlebnisse und Befürchtungen über die Steine und das was ihnen möglicherweise bevorstand, überlegte sie nun, ganz untypisch, wie sie sein Herz gewinnen und es geborgen in ihren Händen halten konnte. Sie wusste, dass er sie mochte, sie begehrte, aber das reichte ihr nun nicht mehr aus. Sie wollte dass er ihr genau die gleichen Gefühle entgegenbrachte wie sie ihm, aber das Wort „Liebe“ hatte eine ganz andere Dimension. Wie könnte sie seine Liebe erobern und ihn an sich binden?
Wie ein helllichter Tagtraum schossen Bilder von einer lächerlich idyllischen Zukunft durch ihren Kopf. Sie sah seine Augen, das graue Wabern samt den Glühwürmchen in einem zierlichen Kindsgesicht. Ihre Kehle begann zu prickeln und zum aller ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich nichts sehnlicher als das, mit ihm als ihren Gefährten an ihrer Seite, obwohl sie wusste, dass der erste Teil dieser Vorstellung außerhalb des Erreichbaren lag. Erstaunt klappte ihr der Kiefer herunter.
Sie hatte nicht geahnt, was eine Zuneigung, frei von verträumter kindlicher Verliebtheit in ihr auslösen würde. Der Gedanke an ein Zusammensein mit Pareios hatte nichts von der träumerischen Verklärung, die sie damals vor so langer Zeit in ihrer Jugend verspürt hatte, als sie geliebt hatte, so glaubte sie damals zumindest. Ganz in Gegenteil, jetzt sah sie alles glasklar, nahm jede Veränderung, jede Farbe und jedes Geräusch in aller Schärfe und Deutlichkeit wahr und wieder fühlte sie das pulsierende Leben, das er in ihr geweckt hatte. So schien die Erinnerung an ihre Vergangenheit fast, die eines betäubten Zombies, der sie wohl auch gewesen war. Pareios hatte ihre Welt auf den Kopf gestellt und ihr gezeigt, dass in ihr Ungeahntes schlummerte. Er rief danach, mit jeder seiner Gesten und sie veränderte sich mehr als bereitwillig unter seinem Einfluss, wie eine aufblühendes Knospe wandte sie sich ihrer Sonne zu, ihm. Sie schmunzelte über die Übelkeit, die sie anfänglich bei seiner Berührung empfunden hatte und fand diese fast erbärmlich, da sie den Kontakt mit ihm nun mehr als genoss, sie verlangte danach.
Irgendwann lullte sie diese Wohligkeit ihrer Hände auf seiner Haut und die gleichbleibende Bewegung ihrer Streicheleinheiten ein. Das sachte andauernde Rütteln des Wagens tat seines dazu bei und sie döste weg. Entschwand wieder in den erholsamen Schlaf, den ihr ihr Liebster in ihrem Schoß schenkte.
Die Dämmerung kündigte sich an, als Viktor vor einem großen Anwesen vorfuhr. Es erstreckte sich weitläufig zu beiden Seiten vor ihnen und die dicken steinernen Mauern des herrschaftlichen Landsitzes wurden von ein paar Bodenstrahlern, die darum herum in die Erde gelassen worden waren, schemenhaft erleuchtet. Das Gelände war von einem hohen Zaun, der oben mit Stacheldraht gesäumt war, umrandet. Die Grenzen des Anwesens lagen allerdings weit außerhalb der Reichweite ihrer Elevenderaugen, so groß war das eingezäunte Areal. Vor ihnen ragte ein massives stählernes Tor mit engstehenden Speichen empor. Dahinter erstreckte sich die lange Auffahrt, die in einem großen, mit Kies aufgeschütteten Platz vor dem Schloss mündete. An regelmäßigen Abständen waren Kameras an dem Zaun angebracht und links vor dem Tor befand sich eine Art silberner Terminal, der eine Gegensprechanlage, gekennzeichnet durch den Kreis kleiner runder Löcher, enthielt. Viktor atmete tief durch und ließ den Wagen langsam seitlich neben den silbernen Kasten rollen. Das sachte Bremsen weckte Aurelia schließlich und sie vernahm sofort die tiefe Baritonstimme, die aus dem qualitativ hochwertigen Lautsprecher dröhnte.
„Himmel, was sehen meine Augen hier an diesem klaren Septembermorgen? Viktor? Ich kann nicht glauben, dass du hier bist!“ Und jetzt überschlug sich die Stimme fast vor unüberhörbarer Freude. „Alter Freund, komm herein!“ fuhr er ohne Zögern fort und es ertönte ein lautes Summen, woraufhin das schwere Tor sich in der Mitte zu teilen begann. Der kleine Spalt wurde schnell größer, während die Flügel bedächtig aufschwangen.
Bis sie vor dem Eingang des majestätischen dreistöckigen Gebäudes hielten, bewunderte Aurelia stumm die vielen Zinnen und Türmchen, die das Haus mehr wie ein kleines mittelalterliches Schloss, denn wie ein Einfamilienhaus wirken ließen. Es hatte eine merkwürdige Mischung von alt und neu an sich, da die Fenster- und Türrahmen metallisch glitzerten und die Beleuchtung äußerst modern anmutete.
Aurelia selbst hatte Ezekiel noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen, aber sie kannte ihn aus vielerlei Erzählungen von Viktor, aber auch von anderen älteren Bewohnern des Bunkers. Alle beschrieben ihn als Fels in der Brandung, unzerstörbar, kontrolliert und intelligent. Anders als Markus, der mit seinen verworrenen Redekünsten Anhänger um sich scharte, war Ezekiel mit einer offenen direkten Freundlichkeit gesegnet, die ihm jedermann mit ein paar Worten zum Freund machte. Er war pflichtbewusst und verhielt sich immer angemessen, seine Intentionen waren sowohl rechtschaffend, als auch moralisch integer und sein Weggang war ein großer Verlust für die Legion gewesen.
Als sich schon die breite, oben abgerundete, stählerne Eingangstür öffnete, war Aurelia verblüfft von der Erscheinung die Ezekiel nun darbot, wie er so im Türrahmen erschien und freudig lächelnd die Arme ausbreitete. Anhand seiner Beschreibungen und seiner Stimme hatte sie mit einem groben und massigen Mann gerechnet, vollbepackt mit breiter Muskulatur. Aber hier stand vor ihr ein Mann, der zwar sehr groß war, annähernd an die 2 Meter schätzte sie, womit er Pareios und Viktor mit noch ein paar Zentimetern überragte, aber er war alles andere als grobschlächtig. Er hatte breite Schultern, ja, aber die Extremitäten waren lang und elegant, genauso wie seine Bewegungen, während die Muskulatur eher drahtig denn aufgepumpt wirkte. Sein schmales jugendliches Gesicht, das auf einem bemerkenswert langen, schlanken Hals ruhte, wurde von weißem kurz gehaltenem Haar umrahmt und aus seinen länglichen schmalen Augen, die von einem dichten Kreis weißer Wimpern umrandet wurden, leuchteten seine Irise in hellem funkelndem Silber.
Aurelia brauchte Pareios nicht wachzurütteln, er richtete sich von selbst verschlafen auf und sah aus dem Fenster. Bei dieser Bewegung roch Aurelia den Duft seines Schlafes und kürte ihn sofort zum köstlichsten, den sie je erschnuppern hatte dürfen. Kurz rieb er sich die Augen, dann breitete sich auf seinem Gesicht sichtliche Erleichterung über ihren Aufenthaltsort aus. Schon hatte er den Türgriff gepackt und war aus dem Wagen ausgestiegen, wie sein Bruder es nur einen Moment vorher getan hatte. Auch Viktor breitete die Arme aus und lief auf den alten Freund zu. Sie umarmten sich, lachten und klopften sich immer wieder auf die Schulter, genauso herzte Ezekiel auch Pareios. Sein besorgter Blick registrierte sofort dessen zerschlissene Kleidung und dass sie in ihrem winzigen Wagen zu fünft unmöglich viel Gepäck dabei haben konnten. Aus all diesen Details schloss sein messerscharfer Verstand sofort, welche Stimmung in diesem unerwarteten Wiedersehen lag. Nur kurz zuckten seine Augen beinahe unmerklich unter der Erkenntnis, dann bat er sie ohne Umschweife ins Haus.
Aurelia stand am Meer. Die Sonne zeichnete die ersten Strahlen in den Himmel und tauchte ihn in ein zartes, helles Rosarot. Es waren keine Wolken zu sehen, nur dünne Dunstschleier hingen darin wie seidige Tücher und nahmen die Farbe der aufgehenden Sonne an. Das Meer war unruhig und schäumte gemeinsam mit den stürmischen Windböen gegen den Strand. Sie hielt ihr Gesicht in die kalte Brise, atmete tief die feuchte Ostseeluft ein, um Körper und Gehirn von der ganzen Anspannung reinzuwaschen. Sie stellte sich vor, wie der Wind durch sie hindurch fuhr, sie mittrug, ihren Geist fliegen ließ. Sie fühlte sich so geborgen an diesem Ort, sie konnte gar nicht genau sagen warum. Das Anwesen von Ezekiels Familie grenzte rückwärtig nach einer großen saftig grünen Wiese an den Strand der polnischen Ostsee. Die Dünen versperrten die direkte Sicht auf den Strandabschnitt, der nun vor ihr lag. Sie war auf dem Scheitel eines Sandhügels stehen geblieben und spürte nun das große, harte und doch familiäre Bollwerk im Rücken, das ihnen ihr Gastgeber für unbegrenzte Zeit als Unterschlupf zur Verfügung gestellt hatte. Es gab so viel zu besprechen, aber sie waren alle abgekämpft und aufgewühlt, deshalb hatte Viktor eine Zwangspause verordnet und Ezekiel hatte ihnen den Gästeflügel des Hauses zugewiesen, welcher drei geräumige Zimmer mit Doppelbetten umfasste. Row und Aiden hatten sich bald entschuldigt und sich in einen der Räume zurückgezogen. Aurelia beobachtete mit einem merkwürdigen Lächeln auf den Lippen, das wohl von ihrer neuentdeckten Seite stammte, wie die beiden nun wesentlich offener mit ihrer Zuneigung für einander umgingen. Keiner sagte auch nur einen Ton dazu, dass sie sich einen gemeinsamen Schlafplatz nahmen und ein wenig Zeit für sich beanspruchten. Es wirkte nur zu natürlich in den gemütlichen Hallen von Ezekiels großer Familie. Überall stand Spielzeug herum, wobei der Schmuck und Dekor der Räume sich eher dezent aber doch erhaben im Hintergrund hielt. Dicke flauschig bezogene Sessel und Sofas waren in fast jedem Raum zu finden und schufen eine geborgene Atmosphäre, die eines besonderen Platzes zum Aufziehen von 8 Elevenderkindern würdig war. Sie schliefen nun alle so früh am morgen noch und die einzigen Geräusche in der malerischen Szenerie waren die der Wellen, wenn sie sich etwa 10 Meter vom Strand entfernt brachen. Auch sie hatte sich bald aus dem Kreis der Freunde gestohlen und war ihrem immerwährenden Drang nach Bewegung nachgegangen. Dieser hatte sie hinaus getrieben und jetzt begann sie begeistert die Schuhe aufzuschnüren. Sie kickte sie eilig in den Sand und der Rest ihrer Kleidung folgte unversehens. In ihrer schwarzen Unterwäsche rannte sie mit langen Sätzen auf die Gischt der See zu, die mit ihren Zungen an dem Strand leckte. Der Sand fühlte sich herrlich unter ihren nackten Füßen an, hinten war er zuerst weich und sie versank tief darin, weiter vorn wo er feuchter wurde, bildete er harte Flächen, die nur zögerlich unter ihrem Gewicht nachgaben. Endlich erreichte sie das kühle Nass, das ihr sogleich zischend um die Knöchel strich und watete weiter hinein, wobei eine Gänsehaut ihren Körper überzog. Sie wusste, sobald sie schwamm, würde sie vergehen, also beeilte sie sich mit den ersten Schwimmzügen. Immer wieder tauchte sie dabei unter, ließ das eisige Wasser ihren Kopf umschließen und in die Haut stechen. Wieder nutzte sie die sportliche Betätigung um ihren Geist zu klären und zu alter Stärke zurück zu finden. Sie hatte im Auto gut geschlafen und fühlte sich nun an diesem wundersam vertrauten Ort, zusammen mit Pareios und dem Rest ihres Teams zusehends wohler und wohler. Erst nach einer gefühlten Stunde richtete sie sich wieder gen Strand aus und paddelte soweit, bis ihre Füße den morastigen Grund berührten. Der Fjord war flach und sie befand sich immer noch ziemlich weit draußen, trotzdem konnte sie hier stehen.
Da erfasste sie mit ihren Elevenderaugen eine große, muskulöse Gestalt, die langsam über die Dünen gestapft kam. Aurelia erkannte ihn sofort und ihr Herz schlug unwillkürlich schneller, in einem neuen Rhythmus der an ein fröhliches seichtes Lied erinnern wollte. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzten mit spielerischer Leichtigkeit zur Melodie und nicht nur das Wasser gab ihr das Gefühl, schwerelos zu sein.
Pareios blieb da stehen, wo der Saum der Wellen den Sand dunkelfärbte und sah zu ihr herüber. Sein Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an, verharrte kurz in zögerlicher Unentschlossenheit. Er fuhr sich mit der Hand über das kurze Stoppelhaar und fixierte sie unablässig mit einem nun lodernden Blick. Die Glühwürmchen stoben belebt durcheinander und sie erkannte, dass er mit sich rang. Dann ließ er ganz langsam den Arm sinken. Er wanderte zum Saum seines Langarmshirts, den andere kreuzte und fasste ebenfalls den dunklen Stoff. Nun nickte er entschlossen zu sich selbst und zog sich das Kleidungsstück in einer fließenden Bewegung über den Kopf. Aurelia erstarrte, als sie seinen Körper erblickte. Seine gemeißelten Brust- und Bauchpartien und die starken definierten Schultern zeichneten ihn als tödliche Waffe, als Krieger aus. Er war wunderschön anzusehen und sein Anblick erregte Aurelia, aber zugleich erfassten die scharfen Adleraugen die rötlich schimmernden Striemen, die seinen gesamten Oberkörper überzogen. Ein unfassbar stechender Schmerz ergriff sie und ließ sie nun am eigenen Leib spüren, was sie ihm angetan hatten. Sie fragte sich, ob die Narben überhaupt verheilen würden, wenn sie jetzt noch nicht verschwunden waren. Eine grausame Frage schoss ihr durch den Kopf. Welch widerwärtiges, abscheuliches Werkzeug hatten sie benutzt, das einen Elevender so verletzten konnte, dass ihre übermenschliche Wundheilung nicht damit fertig wurde? Sofort wurde ihr heiß und kalt im Wechsel und sie versuchte die schrecklichen Vorstellungen seiner Folter in ihrem masochistischen Hirn zu unterdrücken, während in ihr das Ungeheuer erwachte und bedrohlich knurrte. Er hatte gezögert, weil er vermutete hatte, dass sein Anblick sie treffen würde. Und er hatte nicht daneben gelegen, nur war es ein verdammter Güterzug, der sie da gerade überrollte. Und schon wieder fühlte sie sich ungerechtfertigter Weise von ihm beschützt, wo doch nicht sie in diesem Knast gefangen gehalten und misshandelt worden war. Sie hätte ihn beschützen und trösten sollen, aber sie wusste, dass er das nicht wollte, auch deshalb hatte er sich mit dem Entkleiden Zeit gelassen.
Sie legte den Kopf schief und hob einen Arm aus dem Wasser, um ihn zu sich zu winken. Er atmete erleichtert aus und ließ die Hose ebenfalls in den Sand fallen, dann sprang er nur noch mit dunklen Shorts bekleidet ins Wasser und schwamm zu ihr herüber. Er stoppte kurz vor ihr, stellte sich hin und nun ragte seine breite Brust vor ihr aus dem Wasser, er war bestimmt über einen Kopf größer als sie. Die Sonne die sich mittlerweile über den Horizont geschoben hatte, tauchte seine marmorglatte Haut in ein feuriges Bild aus rot, orange und gold, welches sich auch auf den bewegten Wellen, die gegen seinen Körper schwappten, zeigte. Sie war gefesselt vom Lichtspiel, das sich auf seinem Bauch und seiner Brust von den sachten Wasserbewegungen wiederspiegelte. Es brachte die Striemen zum schimmern und ließen sie noch gefährlicher, noch grausamer in ihrem Ursprung wirken. Sie hob die Hand und strich vorsichtig mit den Fingern eine breite Linie auf seiner Brust nach und war erschrocken von der rohen Gewalt die aus den Spuren seiner Peinigung sprach. Das Monster in ihr heulte verzweifelt auf, drängte danach, jeden Einzelnen, der ihm das zugefügt hatte zu suchen und auf schrecklichste Weise hinzurichten. Ein Gemetzel zu veranstalten, das ihre anderen Feinde das Fürchten lehrte, damit sie begriffen, dass Pareios für sie Tabu war, oder sie es ansonsten bitter bereuen würden.
Sie nahm wahr, wie er unter ihrer Berührung erschauerte. Er hatte den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen. Um keinen Preis der Welt würde er sie das volle Ausmaß der Auswirkungen dieser Nacht sehen lassen. Er strahlte eine ruhige Kontrolle aus während sie bemerkte wie seine Haut unter ihren Fingern heißer und heißer wurde. Er entflammte förmlich in dem eiskalten Wasser und schon bald begann die Luft um ihn herum zu dampfen. Sie wanderte mit dem Blick seinen Hals hinauf und erfasst schließlich sein Gesicht. Er hatte die Augen mittlerweile geöffnet und fand jetzt ihre, um sie hungrig anzusehen. Die Glühwürmchen in der Sommerdämmerung leuchteten aus voller Kraft. Sie tauchte ein und ließ sich mitreißen, verzaubern von den Farben und Eindrücken, die sie darin erkennen konnte. Die Aufrichtigkeit die darin mitschwang raubte ihr den Atem und sie wunderte sich darüber, wie er aus der Folter der Hegedunen, die als Ziel hatte diesen stolzen Mann vor ihr zu brechen, wie Phoenix aus der Asche aufgestiegen war und sich sogar diese zarte, weiche Seite behalten hatte, die er ihr nun wieder zeigte. Sie dachte an ihr eigenes Schicksal und stellte verbissen fest, dass sie selbst nicht so stark wie Pareios gewesen war. Sie hatte sich nach der Tortur der Hegedunen in sich zurück gezogen, sich verdammt und gehasst, sich geschworen für immer allein zu bleiben, sich nie wieder jemandem zu öffnen, zum Schutz für andere und für sich selbst.
Und nicht nur dass Pareios ihre harte Schale geknackt hatte, nach allem was er durchgemacht hatte, stand er immer noch unverwandt hier und bot ihr großherzig und selbstlos alles was er hatte: sich selbst. Er verheimlichte nichts und beschönigte nichts, er lebte einfach nur, mit einer solchen unversehrten Intensität, dass die Kraft ganze Wälder aus dem Boden hätte schießen lassen können. Sie empfand maßlosen Respekt für seine Zähigkeit und die ungebrochene Lebendigkeit. Jetzt legte sie das Ohr an seine Brust und lauschte dem frenetischen Herzschlag, der ihm das Blut in kraftvollen Wellen durch die Adern pumpte. Wie von Geisterhand passte sich ihr Puls seinem an, während seine Hitze ebenso auf sie überging, sie wärmend in der eisigen See umschloss. Sie trat noch einen Schritt näher heran und lehnte sich sanft auf voller Länge gegen seinen Körper und spürte zufrieden die stählerne Muskulatur, die sich gegen ihren Bauch und Oberkörper drückte.
Seine Arme hingen absolut regungslos an seiner Seite und er wagte nicht, sich zu bewegen, er wirkte plötzlich befangen. Auch Aurelia rang mit ihren Emotionen, die sie zu überfallen drohten und sie jegliche Selbstbeherrschung kosten würden. Sie löste sich von ihm, aber nur, um ihn mit dem Worten „Komm mit.“ hinter sich herzuziehen. Sie sagte es in keinster Weise bestimmend, ihr Ton hatte einen einladenden, wohlwollenden Charakter und so folgte er ihr. Sie schwammen weiter die Küste rauf, bis sie hinter einer Landzunge die nächste Bucht erreichten, sie war von Haus aus nicht mehr sichtbar. Aurelia wollte so dringend Zeit mit ihm allein, ganz allein.
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