Take me anywhere - Teil 4

Autor: Kathrin
veröffentlicht am: 29.11.2010


„Und du studierst tatsächlich Mathe und Physik und den ganzen anderen Schrott?!“ fragte ich erneut völlig erschüttert darüber, dass jemand diesen Schwachsinn freiwillig studierte.
Wieder schüttelte Moritz lachend den Kopf, während er eine neue Packung Kaffee in den Einkaufskorb warf. „Das ist kein Schrott. Das ganze Leben besteht aus Mathematik und Physik. Die Welt besteht aus Mathe und Physik“
„Pah – das glaubst du doch wohl selber nicht“
„Doch, das kannst du mir ruhig glauben. Zum Beispiel…“
Ich unterbrach: „Halt die Klappe. Ich will nichts hören. Ich habe schon drei Kreuze im Kalender gemacht, als ich zur Zwölften Physik abwählen konnte“
Wieder lachte er und schüttelte mit dem Kopf: „Ich seh’ schon. Da kommen wir nicht auf einen gemeinsamen Nenner“
Ich konnte nur zustimmend nickend und nahm zwei 300g-Tafeln Milka Schokolade aus dem Regal.
„Lass die nicht Fabi sehen. Sonst hast du binnen weniger Minute nichts mehr davon“ warnte mich Moritz und deutete mit dem Kinn auf die Schokolade.
„Hm – warum habe ich mir schon gedacht, dass Fabian zu diesen verfressenen Leuten gehört“
Moritz zuckte mit den Schultern: „Einen Idioten muss es in jeder WG geben“
Genau mein Gedanke!
„Wie sind die Leute in der WG so?“ Eigentlich wollte ich diese Frage gar nicht stellen. Ich meine, das würde ich schon noch früh genug herausfinden. Ich würde ja jetzt immerhin einige Jahre mit den Leuten dort zusammenleben.
„Ach, das kann man ehrlich gesagt schwer beschreiben“
„Na ja, war auch ne blöde Frage“ winkte ich ab, während ich meine Sachen auf’s Fließband legte.
„Ne, find ich jetzt gar nicht so. Nur ich kenn’ die jetzt auch nicht so gut“
„Wohnst du noch nicht lange in der WG?“ fragte ich überrascht nach.
„Doch schon. Nur habe ich nicht so viel mit denen zu tun. Ich… ich bin eher ein Einzelgänger. Im Gegensatz zu Fabi und Leo. Die beiden wirken als würden sie sich schon ewig kennen. Die machen einfach alles zusammen. Und eigentlich haben sie nur Unsinn im Kopf. Wie Leo sein Jura-Studium schafft, frage ich mich jedes Mal“
Ich lachte leise: „Ja, so haben die beiden gestern auch auf mich gewirkt“
„Ich denke, du musst sie einfach kennen lernen, um sie beurteilen zu können“
„Ich sagte doch, doofe Frage“ wiederholte ich und kramte meinen Geldbeutel aus meiner Tasche und drückte der Kassiererin wahllos einen zwanzig Euroschein in die Hand.
„Ja, vielleicht hast du Recht“ stimmte er schließlich zu und stopfte das Zeug unachtsam in die Tüte – und vor meinem geistigen Auge sah ich schon die zerquetschten Tomaten und Weintrauben, und die Pilze mit Beulen.
Dennoch hielt ich meinen Mund und beschwerte mich nicht.
„Und du beginnst mit deinem Medizinstudium?“ fragte er mich, während wir uns durch die Straßen des Schanzenviertels auf den Heimweg machten. Zwischendurch hatte ich mir einen Apfel aus der Tüte geklaut.
Ich nickte, während ich auf meinem Apfel herumkaute, schließlich schluckte und dann zu erzählen begann: „Aber mit Schwerpunkt auf Psychologie“
„Ah… Helena studiert neben Erziehungswissenschaften auch noch Psychologie“
„Bei Erziehungswissenschaften ist das auch nötig“
Moritz zuckte nur mit den Schultern: „Kann sein. Ich kenn mich da nicht so aus“
„Hätte ich von einem Physik- und Mathefreak auch nicht erwartet“ erwiderte ich, worauf ich einen spielerischen Schlag gegen den Arm kassierte.
Gespielt empört schaute ich ihn an: „Hast du mich gerade geschlagen?!“
Er lachte nur leise und schüttelte mit dem Kopf, sodass ihm die blonden Haarspitzen wieder in die Augen fielen.
„Aber um deine Frage zu beantworten…“ fügte ich hinzu. „…ja, ich beginne das Studium im Oktober“
„Grad frisch mit dem Abi fertig, was?“ hakte er weiter nach, doch ich schüttelte mit dem Kopf: „Nein, ich vor Kurzem für ein Jahr in Amerika“
„Oh, cool. Soll toll dort sein“
„Ja, toll schon, aber anders“
Dann trat ein unangenehmes Schweigen ein und wir liefen einfach nur nebeneinander her, während ich weiter auf dem krachsauren Apfel herumkaute und mir die Straßennamen versuchte einzuprägen.
„Wo hast du eigentlich vorher gewohnt?“ fragte Moritz schließlich und brach damit das Schweigen.
Wieder hatte ich den Mund voll und musste erst auskauen bevor ich antworten konnte: „In Mannheim“
„Sagt mir nichts“
„Sollte es aber. Da könntest du später mal arbeiten… Bei der BASF oder so“ Ich zwinkerte ihm zu und ergänzte dann: „Liegt in der Nähe von Frankfurt“
Jetzt nickte er wissend und schwieg wieder.
Während für mich dieses Schweigen total bedrückend (ungefähr so bedrückend wie die Hitze) war, so schienen Moritz die Schweigepausen rein gar nichts auszumachen. Scheinbar sorglos schlenderte er neben mir her und zündete sich eine Zigarette an.
Ich versuchte den Rauch zu ignorieren, doch was das Rauchen anging war ich schon immer sehr intolerant gewesen. „Kannst du die Zigarette bitte in die andere Hand neben. Ich find den Rauch widerlich“
Erst schaute er mich überrascht an, dann wurde sein Blick spöttisch. Betont langsam nahm er die Zigarette in die von mir abgewandte Hand und grinste dann frech und erinnerte mich damit an einen kleinen Schuljungen, der seine Lehrerin in den Wahnsinn treiben wollte: „Besser so?“
Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse: „Du musst dich gar nicht darüber lustig machen“
„Tu’ ich nicht! Niemals!“ verteidigte er sich, enthusiastischer als nötig, während er die Haustür aufschloss und den Zigarettenstummel wegwarf.
„Schon klar“ murrte ich und ging als Erstes in die Küche, um die gekauften Sachen einzuräumen. Ohne den Kühlschrank genauer zu betrachten, konnte ich die Fächer eindeutig den WG-Bewohnern zuordnen. Als ich hörte, dass Moritz nach mir die Küche betrat, drehte ich mich über die Schulter zu ihm um und fragte: „Lass mich raten, das Fach, in dem nur Dosenbier, Schokoriegel und eine halbleere Flasche Tequila rumliegen gehört Fabian?“
Moritz lachte leise, als Fabian in die Küche kam; anscheinend war er auch wieder da. „Ein bisschen Alkohol und Schokolade können nie falsch sein!“ verteidigte er sich und ich zuckte nur grinsend mit den Schultern und wandte mich wieder dem Kühlschrank zu.
„Wo warst du gestern Abend? Hab dich seit gestern morgen nicht mehr gesehen“ hörte ich Fabian Moritz fragen.
Dieser zögerte eine Weile, dann antwortete er: „Ich war auf Chris’ Party und danach noch bei Katharina“
Das „Ahhh“ von Fabian wurde ungewohnt in die Länge gezogen und ich musste wieder schmunzeln. Fabian erinnerte mich sehr an einen alten Schulfreund von mir. Ich wettete, dass die beiden sich gut verstehen würden, wenn sie sich kennen würden.
Schließlich schloss ich den Kühlschrank wieder, knüllte die Plastiktüte zusammen und warf sie in den Mülleimer, als sich Fabian an mir vorbeidrängte und die Kühlschranktür aufriss: „Ich hab Hunger“ murmelte er.
Wen interessiert das?!
Ich warf einen Blick zu Moritz, welcher wieder zu seinem Buch griff und strich mir das Pony aus den Augen.
„Boah – krass!“
Bei dem Ausruf von Fabi drehte ich mich um und sah wie eine der Milka Schokoladen in den Händen hielt. Ohne dass er fragen musste, sagte ich: „Nimm dir was, wenn du willst“
„Das lass ich mir nicht zweimal sagen“ Er nickte und ich lächelte nur und schüttelte mit dem Kopf, als mein Blick dem von Moritz begegnete. Auch er grinste schelmisch, was so sein Standardgrinsen zu sein scheint. Und automatisch wusste ich, dass wir beide dasselbe dachten: Einen Idioten muss es in jeder WG geben.

Am Abend saß ich bei offenem Fenster über einige Allgemeinmedizinbücher gebeugt, um mich auf mein angehendes Studium vorzubereiten, als ich einen Blick auf mein Handy warf.
Seit ich hier war – was noch nicht lange war – hatte ich mich nicht einmal zu Hause gemeldet. Weder bei meinen Eltern, noch bei Dorothea noch bei Karoline.
Seufzend nahm ich mein Handy von der Kommode, warf mich auf’s Bett und wählte die Nummer von zu Hause. Auch wenn ich nie ein besonders gutes Verhältnis zu meinen Eltern hatte und eigentlich eher froh, als traurig war, endlich von zu Hause ausziehen zu können, so sah ich es als meine Pflicht an, mich wenigstens höflicherweise bei ihnen zu melden.
Nach dem dritten Klingeln nahm jemand ab. „Ja, Merow“
„Hallo, Mama. Ich bin’s Mila“
„Milana!“ rief meine Mutter. „Schön, dass du anrufst. Bist du gut angekommen? Wie ist es in Hamburg? Wie ist die WG“ Sie überrannte mich gleich mit ihren Fragen.
Ich wollte gerade antworten, als ich leise die Stimme meines Vater vernahm: „Wer ist es denn?“
„Milana“
„Warum ruft sie erst jetzt an?!“ Schon wieder klang er gleich vorwurfsvoll.
„Ich hatte viel zu tun. Ich musste noch ein paar Sachen auspacken, war heute gleich einkaufen und jetzt lerne ich gerade schon ein bisschen“
„Das will ich auch hoffen“ meinte meine Mutter gleich. „Ich will nicht, dass du dein Studium versaust, nur weil du dich nicht aufraffen kannst, was zu tun“
„Ja, ich nehme das Studium schon ernst“
„Und es ist sicherlich auch eine ziemliche Umgewöhnung für dich mit so wenig Geld klar kommen zu müssen“ fügte meine Mutter hinzu.
Bevor ich irgendetwas erwidern konnte, schaltete sich mein Vater wieder in das Gespräch mit ein: „Sie weiß genau, dass sie nicht mehr bekommt. Entweder sie kommt damit klar, oder sie hat Pech gehabt!“
Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie er auf seinem Sessel saß mit seiner Zeitung und grimmig schaute. So war er immer gewesen!
„Ja, ich werde schon klar kommen. Ich habe sowieso vor mir einen Job zu suchen“
„Pah, als was willst du denn arbeiten?!“ lachte meine Mutter und nicht zum ersten Mal fragte ich mich, warum sie mir so wenig zutraute.
Ich war immerhin ein Jahr lang allein in Amerika und bin dort super zurecht gekommen – auch ohne viel Geld. Und arbeiten kann ich allemal.
„Ich schaff das schon“ murrte ich resigniert.
„Ja, wir werden sehen“ meinte meine Mutter. „Aber es freut mich, dass du gut angekommen bist. Vielleicht kommen wir dich auch mal besuchen. Wir wollen uns doch mal anschauen, wo du jetzt abgeblieben bist, nicht wahr, Thorsten?!“
„Ja, sehr gerne“ brummte mein Vater und wieder hörte ich seine Stimme nur gedämpft an meinem Ohr.
„Ich muss dann auch Schluss machen. Sonst wird meine Handyrechnung zu hoch. Und dann komme ich mit dem Geld, was ich monatlich zur Verfügung habe wirklich nicht klar“ knurrte ich und merkte wie meine Laune immer mehr sank. Dabei hat meine Zeit in Hamburg – und besonders der heutige Tag doch so gut begonnen!
„Ach du meine Güte! Wir hätten dich doch zurückrufen können“ rief meine Mutter.
„Tja… Habt ihr aber nicht“ Ich seufzte. „Macht’s gut. Ich meld mich wieder“ Mit diesen Worten legte ich auf, schmiss mein Handy auf’s Kopfkissen und ließ mich mit einem stummen Seufzen auf den Rücken fallen.
Ich denke, dass jeder verstehen kann, warum ich kein gutes Verhalten zu meinen Elter pflegen konnte!




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