Autor: Maggie
veröffentlicht am: 25.05.2012
Ein langer neuer Teil ;)
Ich hoffe, er gefällt euch und natürlich freue ich mich über Kommentare, Anregungen, Kritik oder Vorschläge!
Einige von euch haben sich ja einen Teil aus Eriks oder Toms Sicht gewünscht, ich habe mich aber nach kurzem Überlegen gegen einen Perspektivwechsel entschieden, aus dem ganz einfachen Grund: Es würde die Spannung der Geschichte nehmen! Also seid bitte nicht enttäuscht :)
Ganz liebe Grüße
Maggie ♥
Alexandra Henning
07.06.1986 – 08.01.2005
Geliebte Tochter, Schwester und Freundin – R.I.P.
Ich stand vor ihrem Grabstein und mir liefen heiße Tränen bitterlich die Wangen hinab.
Tom stand hinter mir, eine Hand lag auf meiner Schulter, die andere war fest mit der meinen verschlungen.
Ein warme sommerliche Brise wehte über den Friedhof und die Stiefmütterchen auf dem Grab wippten sanft hin und her. Überall blühten an diesem Tag Blumen, sie nahmen diesem Ort die Traurigkeit und ließen selbst die dunkelsten Gräber in schillernden Farben leuchten.
Ich schniefte unweigerlich, Tom drückte zaghaft meine Schulter und zog mich zu sich ran. Dann standen wir einfach nur da, ich mit dem Rücken an seiner Brust, sein Arme um meinen Körper und sein Kopf von oben herab an meinen gelehnt. Unglaublicherweise löste diese Berührung nichts weiter als tiefste Geborgenheit in mir aus. Ich konnte meinen Tränen freien Lauf lassen, schämte mich nicht mal ansatzweise für die vielen Schluchzer und genoss das Gefühl nicht alleine mit meiner unendlichen Trauer zu sein. Endlich war jemand bei mir, der Lexie wahrscheinlich genauso schrecklich vermisste wie ich, wenn nicht sogar noch mehr.
Es tat so gut, nicht mehr alleine zu sein.
„Wann warst du das letzte Mal hier?“ Tom murmelte mir sanft ins Ohr.
„Zu ihrer Beerdigung.“ gab ich kleinlaut zu.
„Warum hast du sie nicht eher besucht?“ Es war kein Vorwurf, nur eine ehrlich Frage.
„Ich...ich -“ mir fehlten die Worte „- ...ich konnte einfach nicht.“ Meine Stimme brach kurzzeitig. Ich spürte zur Antwort nur sein Nicken, er verstand mich. Natürlich, das hatte er schon immer getan.
Später spazierten wir still nebeneinander her.
Ich riskierte immer wieder kurze Seitenblicke und wurde von seiner Präsenz jedesmal schlichtweg erschlagen. Ihn umgab eine einzigartige Aura.
Früher war es eine siegessichere und etwas selbstverliebte Ausstrahlung gewesen, die ich so anziehend fand. Heute strahlte er Selbstsicherheit, Vernunft und unwiderstehlichen Charme aus. Sein Anzug saß perfekt und wirkte locker sportlich. Er war groß und hatte breite Schultern, sowie schmale Hüften. Auf den ersten Blick, sah man, dass er ein Gewinnertyp war und sein herzliches Lächeln zog einen sofort in seinen Bann.
Immer, wenn sich unsere Blicke trafen schaute ich peinlich berührt wieder weg – im Gegensatz zu ihm, der mich jedes Mal liebevoll anzwinkerte und sich sichtlich über meine Gesellschaft freute.
Zwischen uns stand so viel, dass ich nicht wusste, mit was ich überhaupt anfangen sollte zu reden. Ich dachte an seine Verlobte, die unwahrscheinlich glücklich mit diesem Traummann sein musste, traute mich aber nicht nach ihr zu fragen. Ich dachte an Erik und daran, was er wohl davon halten würde, dass ich hier Hand in Hand mit meinem Jugendschwarm durch die Felder spazierte. Als der kleine Riss in meinem Herzen sich zu Wort meldete und ich spürte, dass mir die ganze Geschichte mit ihm noch immer Nahe ging, war ich regelrecht beruhigt. Also hatte ich mir die Gefühle nicht eingebildet oder mich in irgendetwas verrannt, wenn selbst Tom NEBEN MIR es nicht schaffte, Erik gänzlich aus meinem Kopf zu vertreiben. Wobei mir das nichts nützte – ich sollte weder den einen noch den anderen haben.
„Worüber denkst du nach Kleines?“ Ich zuckte unwillkürlich zusammen, seine Stimme hatte einen solch zärtlichen Unterton, dass mir schon wieder fast die Tränen in die Augen stiegen. Man, was war ich für eine Heulsuse geworden! Entschlossen kniff ich kurz die Augen zusammen und bemühte mich um eine anteilnahmslose Miene.
„Nichts!“ Ich presste die Lippen aufeinander und starrte verbissen auf den Feldweg. Tom kam mir ein Stück näher und lächelte mich wissend an.
„Aha.“ Dann zog er die Augenbrauen hoch und starrte ebenfalls gerade aus. Er ließ mir kurz Zeit, bis ich mich nicht mehr über meine eigene Memmigkeit ärgerte, dann startete er einen erneuten Versuch.
„Du siehst sehr traurig aus. Das gefällt mir nicht, ich dachte dir würde es gut gehen.“ Wie konnte ein solcher Mann nur so unverschämt gut aussehen und dabei auch noch vor Feinfühligkeit strotzen? Ich war Tom gegenüber immer ehrlich gewesen und ich entschloss mich, dies beizubehalten.
„Die letzten Wochen waren echt hart. Weißt du...dieser Hacker, wegen dem du mich angerufen hast..-“ er unterbrach mich
„...-hat sich bei mir irgendwie in Luft aufgelöst. Deswegen habe ich mich auch nicht weiter gemeldet. Ich hatte das Gefühl, dass dich mein Anruf ganz schön aus der Fassung gebracht hat.“ Er lächelte leicht verlegen, ich konnte mir auf diese schwache Ausrede eine verbitterte Antwort nicht verkneifen.
„So? Er hat sich also bei dir nicht weiter gemeldet? Lag wahrscheinlich daran, dass er damit beschäftigt war mich durch die ganze Stadt zu jagen, mir ominöse Pakete zu schicken oder mal eben so in meine Wohnung einzubrechen!“ Sofort tat mir mein pampiger Tonfall leid, erst recht als ich Toms geschocktes Gesicht sah, doch ich war noch immer etwas gekränkt, dass er sich nicht einmal mehr nach mir erkundigt hatte.
„Das hat er alles getan? Oh Maya! Warum hast du mir nichts davon erzählt?“ Ich sah in verständnislos an.
„Weil ich deine Nummer nicht hatte?“
„Aber, ich habe dir doch extra noch eine SMS geschickt?!“
„Ich habe nie eine SMS von dir bekommen Tom. Wirklich nicht!“ Er brauchte mich nicht mit einer Lüge abspeisen, obwohl ihm das kein bisschen ähnlich sah. Er verteidigte sich nicht, sondern wollte einfach nur wissen, was alles vorgefallen war. Also erzählte ich es ihm, ausführlich. Dabei kam ich natürlich nicht umhin, Erik zu erwähnen. Zuerst ließ ich seinen Namen nur beiläufig fallen, doch irgendwann wählte ich meine Worte mit bedacht und sah jedes mal zu Tom, wenn Eriks Rolle in meinem Leben immer eindeutiger wurde.
„Und dieser Erik ist dein...äh...Freund?“ Ich seufzte und erzählte ihm nun auch noch den Rest und alles, was mit Erik vorgefallen war, nur die Sexszenen überging ich geflissentlich.
Tom blieb stehen und sah mich nachdenklich an, dann räusperte er sich und ich erkannte, dass er mir etwas heikles sagen wollte. Ich kniff sofort misstrauisch die Augen zusammen.
„Kleines, ich will wirklich nicht paranoid oder so wirken, aber ist dir mal aufgefallen, dass das alles ziemlich merkwürdig ist, mit diesem Erik!“ Ich schüttelte mit dem Kopf.
„Worauf willst du hinaus?“
„Dass du mitunter in Betracht ziehen solltest, dass auch ER hinter all diesen Dingen stecken könnte!“
Ich riss geschockt die Augen auf. Das konnte nicht sein ernst sein! NEIN!
„Du weißt nicht wovon du sprichst Tom, ehrlich! Solche Unterstellungen sind verletzend!“ Und so war es wirklich, mir schnürte es die Kehle zu, dass Tom so von Erik dachte. Tom hob abwehrend die Hände.
„Ich will dir auf keinen Fall zu Nahe treten, aber...tja, er hat dich ja schon ausgeschnüffelt, als ihr euch überhaupt noch nicht kanntet. Überleg doch mal!“ Ich schüttelte einfach nur fassungslos den Kopf, während Tom mit viel zu schlüssigen Argumenten auf mich einredete:
„Mir kommt das alles spanisch vor. Er ist ein Computergenie, wusste schon alles über dich und hat sich mit Sicherheit in dich verliebt, während du ihm nie Beachtung geschenkt hast. Nun bedroht er dich anonym und zwar auf die Art und Weise, dass du dich gezwungenermaßen nur an ihn wenden kannst und um Hilfe bittest. Endlich hat er deine Aufmerksamkeit, spielt den Helden, wickelt dich um den Finger. Du sagtest, immer wenn er bei dir war, ist nie etwas passiert – ist nicht schon das allein merkwürdig?“
In mir drehte sich alles, was er sagte klang für meinen Kopf logisch, doch mein Herz flehte mich förmlich an, nichts von dem zu glauben.
„Das stimmt nicht, er wurde auch bedroht. Die Nachricht, die er bekommen hat, um von mir weggelockt zu werden!“ Ich klang schon fast verzweifelt, Tom sah mich traurig an.
„Hast du diese SMS denn je gesehen? Weißt du, ob es sie überhaupt gibt? Vielleicht hat er dich absichtlich im Glauben gelassen, dass er sich in Gefahr bringt. Vielleicht solltest du Angst um ihn bekommen, so dass du dir Gefühle eingestehst?!“ Mir wurde schlecht, kalte Schauer liefen meinen Rücken hinunter. Es klang, als hätte Tom alles durchschaut und doch war es unlogisch. Ich hatte mich doch aus freien Stücken in Erik verliebt, nicht wegen irgendwelcher Ängste! Ich suchte entmutigt nach einem Alibi, nach irgendeiner Tatsache, dass Erik es einfach nicht sein konnte.
„Aber warum sollte er dich bedrohen? Dein PC wurde doch auch gehackt! Warum hätte er sich die Arbeit machen sollen?“
„Weil er von sich ablenken wollte! Doch der Schuss ist gewaltig nach hinten losgegangen, als ich dich dann angerufen habe.“ -und mich völlig aus der Fassung gebracht hast, fügte ich in Gedanken hinzu. Erik hatte mich beobachtet, nach dem Telefonat. Wie ich völlig fertig und zittrig auf meinem Bett gelegen hatte.
Plötzlich klang alles so einleuchtend.
Doch mein Herz focht einen unerbittlichen Kampf mit meinem Verstand.
Ja, Erik hätte es wirklich sein können. Alles sprach gegen ihn. Er hatte die Fähigkeiten, ein Motiv und den Verstand für einen solch ausgeklügelten Plan. Und trotzdem konnte ich es nicht glauben. Ich dachte an die heißen Küsse, an seine goldenen Whisky-Augen, seinen Humor, seine wuschligen Haare und einfach an seine ganze wundervolle Art – er hatte das nicht mir gemacht! Er hatte mich nicht so manipuliert – Nein.
Dann schoss mir ein Satz durch den Kopf, das, was er mir so süß ins Ohr gesäuselt hatte, als ich ihm gestanden hatte, dass ich mehr als nur Freundschaft wollte:
>Das war von Anfang an so geplant!<
Ich lag auf der Ausziehcouch im Gästezimmer und wälzte mich hin und her.
Meine Gedanken kreisten ausnahmslos um Erik. Ich ging die letzten Wochen minutiös in meinem Kopf durch und suchte ein Indiz, eine Lücke oder einfach nur irgendeinen handfesten Beweis, dass Toms Theorie absoluter Quatsch war.
Hatte Erik all die Dinge getan, nur um mich zu bekommen? Hatte er mich so manipuliert, hatte mich wie eine Puppe an Fäden zu seinem persönlichen Ziel geführt? Um so etwas zu tun, musste er glatt krankhaft in mich verliebt gewesen sein. Das fand ich in meiner Vorstellung mehr als abwegig, so besonders war ich nicht, dass Erik sich SOLCHE Mühe gegeben hatte, nur um mich rumzukriegen. Es lag einfach nicht in meiner Natur, ihm diese üblen Machenschaften zu unterstellen und mich dabei so sehr selbst zu überschätzen.
Wie eingebildet und von sich selbst eingenommen musste man sein, um überhaupt einen Menschen auf solch eine Tat hin zu verdächtigen? Und dann auch noch einen Menschen, in den man sich verliebt hatte!
Mir schwirrte der Kopf!
Ich dachte daran, wie Kim vor dem Copa gesagt hatte, Erik würde sich schon seit längerem für mich ins Zeug legen. Oder Eriks letzte Worte in meiner Wohnung „...und dann habe ich mich letztes Jahr in dich verliebt...“. Mich überlief eine Gänsehaut.
Es sprach wirklich alles gegen ihn, bis auf mein Herz, dass die ganze Zeit empört vor sich hin klopfte.
Ich stellte mir vor, wie er meinen Computer gehackt und die Passwörter auf 'Lexie' umgeschrieben haben könnte, nur um auf meinen Anruf zu warten, zu mir zu kommen und mir die niederschmetternde Nachricht zu überbringen, ein geheimnisvoller Irrer hätte es auf mich abgesehen. Oh mein Gott, wie KRANK! Er musste ein junger Brad Pitt sein, so gut hätte er schließlich an diesem Tag schauspielern müssen.
Nein nein nein – das war nicht MEIN Erik! Er hatte mein Herz auf ehrliche Weise erobert.
Und trotzdem hatte er mich belogen und hintergangen – und das wusste ich ja definitiv, deswegen hatte ich ihn ja auch aus meiner Wohnung geschmissen. Wenn er in dieser Hinsicht schon unehrlich war, war er dann auch zu mehr fähig?
Es war zum verrückt werden, ich drehte mich im Kreis.
Was hatte mir Tom da für einen Floh ins Ohr gesetzt?
Dann dachte ich an Tom und die Zeit, die ich heute mit ihm verbracht hatte. Nach unserem stürmischen Wiedersehen waren wir als erstes in seinem Auto zu Lexie gefahren. Ohne uns abzusprechen oder ein weiteres Wort zu wechseln, wussten wir beide, was unser Ziel sein würde. Auf dem Friedhof hatte es mich ganz schön umgehauen, doch an Tom gelehnt, hatte ich es überstanden und fühlte mich jetzt stärker als je zuvor. Danach waren wir spazieren gewesen, fast drei Stunden. Nachdem ich mich auf kein weiteres Gespräch über Erik eingelassen hatte, ich wollte in Ruhe über alles nachdenken, was mich ja im übrigen auch kein Stück weiter brachte, hatten wir zwei viel über früher gesprochen. Wie dumm wir gewesen waren und wie leichtfertig das Leben an uns vorbei gezogen war. Wir haben uns an Lexie erinnert, sind alte Geschichten durchgegangen, haben gelacht, geweint und die Gesellschaft des anderen in vollen Zügen genossen.
Ich wusste nicht wie ich jetzt zu ihm stand. Ich fand ihn noch immer unglaublich hübsch, charmant und anziehend, fühlte mich in seiner Gesellschaft geborgen und wohl, doch irgendetwas fehlte. Das Verliebtheitsgefühl von früher hatte sich nicht eingestellt, da war kein Kribbeln, kein kleiner heißer Vulkan und auch kein Schmetterling kitzelte das innere meiner Bauchdecke. Obwohl ich trotzdem etwas für ihm empfand, nur was das genau war, konnte ich beim besten Willen nicht deuten.
Aber eins war Fakt: Ich konnte es kaum erwarten ihn wieder zu sehen und ich wusste nicht mal ansatzweise, wie ich die letzten fünf Jahre ohne Tom Henning überlebt hatte.
Den Samstag verbrachte ich ausschließlich mit intensiver Körper- und Seelenpflege. Das hatte ich bitter nötig – außerdem wollte ich am Abend alle Blicke (eigentlich nur die eines bestimmten Blauäugigen) auf mich ziehen. Ich hatte mich nicht mit Tom verabredet, obwohl er gesagt hatte, er würde auch zum Absolvententreffen kommen. Ich ging davon aus, dass er in Begleitung seiner Verlobten erscheinen würde. Zum Teil war ich auf sie gespannt, zum anderen wollte ich trotzdem neben ihr glänzen können, denn ich war mir sicher: Die Frau, die es geschafft hatte sich mit Tom zu verloben, sie musste etwas ganz besonderes sein.
Ich verbrachte also die erste Hälfte des Tages mit intensivem sonnenbaden auf den bequemen Liegestühlen im Garten meiner Eltern. Es war ein brechend heißer Tag und ich hatte mir ein altes Buch – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo - aus dem Bücherregal gemopst und las fasziniert die unglaubliche Geschichte dieses Mädchens, welches mich in bestimmten Situationen an mich selbst erinnerte.
Ich ließ mich so richtig schön braun brutzeln, machte zwischendurch ab und zu ein Nickerchen, trank nebenbei Sekt und genoss einfach nur diesen faulen sonnigen Tag – dabei blendete ich jeden Gedanken an Erik oder Tom aus. Ich war es leid zu grübeln, hatte keine Lust mehr auf wilde Spekulationen und am aller wenigsten wollte ich über meine Gefühle nachdenken. Es war zwecklos – mit keinem von beidem würde ich je (wieder) zusammen kommen – der Zug war sprichwörtlich abgefahren.
Am frühen Abend begann ich mich für das Treffen fertig zu machen und ich ließ mir richtig viel Zeit.
Ich duschte eine kleine Ewigkeit, rasierte mich am ganzen Körper, cremte mich danach mit zwei Schichten meiner Lieblingsbodylotion ein, lackierte mir die Nägel und wusch mir die verschwitzten Haare.
Dann schminkte ich mich dramatisch, mit viel dunkler Farbe und betonte dabei sehr stark meine Augen. Ich hatte eine intensive Bräune abbgekommen und sah aus, wie frisch aus einem zweiwöchigen Türkeiurlaub. Meine Haare drehte ich zu Locken und steckte mir den Pony in einer Tolle nach hinten. Dann zog ich das Kleid an. Es saß perfekt, betonte jede Kurve und war knalleng. Das Bordeauxrot betonte meine Hautfarbe und ich betrachtete mich zufrieden im Spiegel.
Ja – konnte ich mich sehen lassen. Ich verzichtete auf Schmuck, steckte mir nur ganz schlichte Stecker ins Ohr und schlüpfte in mörderische Highheels.
Als ich dann Eine-wie-Keine-Like die Treppe runter ging und mein Vater an der untersten Stufe auf mich wartete, da er mich zu meiner alten Schule fahren sollte, öffneten sich seine Augen mit jeder Stufe, die ich nahm.
„So willst du doch nicht ernsthaft das Haus verlassen!“ Es war keine Frage, es war ein Befehl. Ich ging einfach nur mit hochgezogenen Augenbrauen an ihm vorbei, spürte seinen Blick in meinem Rücken und hörte ihn laut schnauben.
„Kerstin! Sieh dir nur unsere Tochter an!“ Er brüllte in Richtung Wohnzimmer, wo meine Mutter lächelnd in die Tür trat. Auch sie betrachtete mich mit großen Augen von oben bis unten, dann klatschte sie aufgeregt in die Hände und lachte.
„Du siehst umwerfend aus mein Schatz!“ Ich schenkte meinem Vater einen selbstgefälligen und mal wieder ziemlich teeniemäßigen Blick, während dieser nur ungläubig von mir zu meiner Mutter sah. Dann startete er einen erneuten Versuch:
„Sie sieht aus wie eine Hure! Wenn sie die Leute sehen -“
„Thomas!!!“
„Papa!“
Jetzt war es an mir ihn mit meinen Blicken zu töten, beleidigen ließ ich mich nicht. Dann war es also mal an der Zeit, ihm zu zeigen, aus welchem Holz seine hurende Tochter geschnitzt war:
„Dieses Kleid ist im Gegensatz zu dem, was man sonst so in Köln trägt eine Art Klostermantel -(okay, das war gelogen)- und mir ist es scheiß egal was die Leute hier in diesem hinterwäldlerischen Kaff von mir denken! Fahr mich jetzt gefälligst zur Schule!“ Ich blickte ihn sicherer an, als ich mich innerlich fühlte. So eine Ansage hatte ich ihm noch nie gemacht. Er knirschte mit den Zähnen, wurde puterrot im Gesicht und brüllte mich dann an:
„In diesem Aufzug fahr ich dich NIRGENDWO hin!!!!“ Ich schluckte schwer, sah zu meiner Mutter, die nur hilflos mit den Schultern zuckte, drehte mich dann auf dem Absatz, schnappte mir meine Tasche und verließ das Haus mit den Worten:
„Dann laufe ich halt...“ Die Tür knallte ich hinter mir ins Schloss.
Mein Gott! Wie hatte ich das hier eigentlich so lange ausgehalten? Ich hatte fast vergessen, wie fürchterlich herrisch mein Vater war. Ich hörte aufgebrachte Stimmen dumpf durch die Tür dringen, befasste mich aber nicht damit und ging erhobenen Hauptes durch den Vorgarten. Zur Schule war es ein Fußweg von einer knappen halben Stunde und auf den Schuhen würde es eine Qual werden, doch ich würde mir nicht die Blöße geben und zurück gehen.
„Maya! Warte!“ Ich zuckte kurz zusammen, mein Vater rief mir hinterher und ohne mich umzudrehen, lächelte ich zufrieden in mich rein. Dann wand ich den Kopf zurück und sah sein zerknirschtes Gesicht, während er auf mich zu kam. Meine Mutter hatte ihm mit Sicherheit die Leviten verlesen, sie war die einzige, die ihm den sturen Kopf waschen konnte. Er deutete auf meine Schuhe, dann blickte er mich finster an:
„Mit diesen Dingern brichst du dir nur den Hals! Ich fahr dich.“
Ich stand nervös vor der Schule, betrachtete das klobige Gebäude und zog mit schwitzenden Händen an meiner fast aufgerauchten Zigarette. Ich war total aufgeregt und traute mich nicht hinein zu gehen.
Was war, wenn sich niemand mit mir unterhalten würde? Wenn ich den ganzen Abend allein und einsam in einer Ecke stehen würde und mich alle mit einem mitleidigem Blick betrachteten.
Meine Knie zitterten leicht bei der Vorstellung.
Auf einmal kam ich mir völlig bescheuert vor mit meinem viel zu kurzen Kleid, der dunklen Schminke und den extravaganten Highheels. War ich nicht völlig overdressed? War ich eigentlich völlig wahnsinnig überhaupt hier her gekommen zu sein?
Ich war schon kurz davor einfach wieder zu gehen als sich die große Fronttür der Schule öffnete und eine Traube von Menschen heraus kam. Die ersten zündeten sich schon am Eingang die Zigaretten an. Aha! Die Raucher, Gleichgesinnte – ich zog demonstrativ an meiner eigenen Kippe.
Dann kam ein Mädchen auf mich zu, strahlte über das ganze Gesicht und rief freudig meinen Namen.
„Maya! Du bist ja auch hier!!!“ Sie umarmte mich stürmisch, während ich krampfhaft versuchte, mich an sie zu erinnern. Sie hatte kurze braune Haare mit einem modernen Schnitt, ihre dunklen Augen leuchteten vor Freude und sie sah mich erwartungsvoll an. Dann klingelte es auch bei mir. Das war Kathleen Kaufung, sie hatte sich eigentlich kaum verändert. Sie war mal eine sehr gute Freundin von mir und Lexie gewesen, bis wir dann unausstehlich geworden waren. Kathleen hatte immer ein sonniges Gemüt und ich erinnerte mich noch dunkel, dass sie nach Lexies Tod oft in der Schule einfach nur bei mir gewesen war. Hatte sich mit mir unterhalten, versucht mich zu trösten und wollte mir einfach nur Gesellschaft leisten, doch ich hatte sie nicht wahrgenommen, hatte automatische Antworten gegeben ohne zu wissen, worum sich das Gespräch überhaupt drehte. Die Erinnerungen an diese Zeit waren total verschwommen und das schlechte Gewissen nagte an mir. Ich war zu ihr bestimmt nie sonderlich nett gewesen.
„Kathleen! Schön dich zu sehen. Gut siehst du aus!“ Ich lächelte sie schüchtern an und staunte über ihr hübsches Kleid aus einem weichen seidigen Stoff, der sich anmutig um ihren trainierten Körper schmiegte.
Sie winkte ab und konterte:
„Nichts im Vergleich zu dir! Sieh dich nur an, dieses Kleid! Deine Haare! Warst du im Urlaub? Du bist noch hübscher als früher!“ Ich sah sie mit großen Augen an und ohne eine Antwort abzuwarten, schnappte sie mich an der Hand und zog mich mit sich.
„Komm, lass uns rein gehen. Die anderen aus unserer Klasse sind auch alle da. Die werden nicht schlecht gucken, keiner hat mit dir gerechnet...“
Und so lösten sich meine Ängste vollkommen in Luft auf.
Ich stand an diesem Abend keine Sekunde irgendwo alleine. Ständig war ich umzingelt von alten Mitschülern, flüchtigen Bekannten und sogar ein paar Lehrer unterhielten sich mit mir. Jeder war ehrlich an mir interessiert, einige Typen aus höheren Klassen flirteten sogar auf Teufel komm raus und ich hatte wirklich Spaß, auch wenn ich mich andauernd in der überfüllten Aula umsah und einen ganz bestimmten blonden Kopf suchte. Tom war noch nicht aufgetaucht.
Meinen Frust über seine Abwesenheit ertrank ich in der äußerst schmackhaften Himbeerbowle, die irgendwer zubereitet hatte, der es zu gut mit dem Wodka gemeint hatte. Deshalb trank kaum einer davon – außer ich natürlich. Ich stand etwas gelangweilt an der Seite des langen Buffets, neben mir mein alter Englischlehrer, der mich mit einem etwas zu anzüglichem Blick an meine mündliche Abiturprüfung erinnerte, die ich mit sensationellen 14 Punkten bestanden hatte und schwärmte von meinem natürlichen Sprachtalent, von dem selbst ich bis dato noch nichts gewusst hatte. Ich hörte nur mit halben Ohr hin, ließ meine Augen über die tanzende Menge und die kleinen Grüppchen am Rande schweifen, derweil sich ein wohliges Gefühl in meinem schon leicht schummrigen Kopf ausbreitete. Plötzlich entdeckte ich einen großgewachsenen, dunkelhaarigen Mann, der zielstrebig auf mich zu kam. Ich kniff die Augen kurz zusammen und versuchte ihn zu erkennen, da stand er schon vor mir und betrachtete mich mit unergründlicher Miene. Er war fast so groß wie Tom, hatte einen sportlichen Körper und ein markantes Gesicht. Unter seinen schwarzem dichten Haar blitzten mich dunkle Augen an, die mir irgendwie bekannt vor kamen. Er war hübsch, auch wenn seine Schönheit nicht so aufdringlich war, wie die von Tom, so strahlte er trotzdem etwas besonderes aus, etwas finsteres. Und er strahlte mich an, mit weißen Zähnen, einem fiesen Grinsen und vor der Brust verschränkten Armen.
Und in meinem kleinem Kopf ratterte es unaufhörlich. Woher kannte ich ihn nur?
Dann sprach er mich an und seine Stimme rief irgendeine Erinnerung in mir hervor, die mir ein ungutes Gefühl in der Magengegend verschaffte, obwohl ich sie nicht greifen konnte.
„Du scheinst dich nicht an mich zu erinnern?“ Ein dunkler, rauchiger Ton und ich schüttelte perplex mit dem Kopf. Ich hasste solche Situationen, sie waren einfach nur peinlich, deshalb antwortete ich ihm auch nicht. Ihn schien meine Erinnerungslücke zu amüsieren.
„Mhm? Wie kann ich dir auf die Sprünge helfen? Ich habe mich eigentlich kaum verändert...“ Er deutete auf seinen trainierten Körper und lächelte spöttisch. Ich fasste mir verlegen ins Haar, trank schnell einen viel zu großen Schluck von der Bowle und schüttelte danach wieder kurz mit dem Kopf. Woher zur Hölle kannte ich ihn nur? Er war definitiv älter als ich, ich schätzte ihn auf ungefähr Ende zwanzig, vielleicht sogar Anfang dreißig.
Dann kam mir mein ehemaliger Englischlehrer zur Hilfe und inspizierte den Unbekannten vor mir, doch sein Gesicht zeugte nicht von freudigem Wiedererkennen.
„Aber ich kann mich noch bestens an Sie erinnern, Laslo Holtz, nicht wahr?“ Bei dem Namen durchfuhr mich ein Schauder, als hätte ich einen Elektroschock bekommen. Jetzt wusste ich wieder ganz genau, wer vor mir stand und mir wurde mit einem mal ganz kalt.
Laslo Holtz, der Name war Legende und wer ihn aussprach, flüsterte ihn meist mit einer gehörigen Portion Respekt. Er war DER Dealer in unserem kleinen Dorf gewesen, der Härteste der Harten, Gerüchte hatten besagt, er hätte sogar Kontakt zu irgendwelchen ominösen Mafia-Typen aus der Stadt, was ich aber nie geglaubt hatte. Tja...und er hatte uns mit Stoff versorgt, zumindest so lange, bis ich im Zustand absolut geistiger Umnachtung der Polizei nach Lexies Tod seinen Namen genannt hatte.
Ich schluckte schwer, Laslo hatte mir angesehen, dass ich ihn jetzt erkannte und blickte mich nun erwartungsvoll an. Ich versuchte es mit unverfänglichem Smalltalk.
„Ich wusste garnicht, dass du hier dein Abitur gemacht hast?“ Er sah mich sofort scharf an,
„Wie meinst du das? Hast wohl nie gedacht, dass ich zu so etwas im Stande bin?“ Seine Antwort war wie ein Peitschenhieb und plötzlich wurde mir unnormal heiß. Der Schuss war ja mal gründlich nach hinten losgegangen. Ich fing verlegen an zu stottern:
„Nein...ich...äh...du …ich hab dich ja nie hier auf der Schule gesehen....“ Mein Lehrer kam mir wieder zur Hilfe.
„Der Herr Holtz hat sein Abitur ja auch sechs Jahre vor Ihnen gemacht, Fräulein Hansen.“ Er zwinkerte mir aufmunternd zu und ich nickte ganz leicht und dankend. Laslo dagegen zog prüfend eine Augenbraue in die Höhe und musterte mich abschätzend. Plötzlich kam ich mir nackt vor, er schüchterte mich regelrecht ein. Wir hatten schon immer Angst vor ihm gehabt. Er war der Typ, der nicht lang fackelte und niemand traute sich ihn zu verarschen. Und ausgerechnet ICH hatte ihn bei den Bullen verpfiffen. Damals war ich wirklich lebensmüde. Doch heute hing ich an meinem Leben und die Tatsache, dass Laslo hier so provokativ und offensichtlich hocherfreut vor mir stand, behagte mir ganz und gar nicht. Ich wollte etwas sagen, doch mir fiel beim besten Willen nichts ein, was nicht auf irgendeine Art sarkastisch oder dumm klang. Also biss ich mir auf die Zunge und sah konzentriert auf die Himbeeren in meinem Glas. Vielleicht würde er ja einfach gehen? Doch Laslo hatte ganz andere Pläne.
Er kam ein Stück auf mich zu, nahm mir das Glas ruckartig aus der Hand und leerte es in einem Zug. Achtlos stellte er aus auf den Tisch neben uns, dann sah er mir direkt in die Augen. Seine waren so groß und dunkel, dass ich erschrak. Mit einem mal wurde mir auch klar, was mir in diesem Moment so Angst machte: Er war eindeutig drauf! Seine Pupillen waren unnatürlich geweitet, er hatte irgendetwas konsumiert. Etwas, dass nur seine Augen veränderte und was nicht auf den ersten Blick auffiel, vielleicht Koks?
Mich überlief ein Schaudern, unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. Doch er packte mich grob am Arm und zog mich zu sich heran, ich zuckte vor Schreck zusammen und machte mich ganz steif. Mein Herz begann lautstark zu klopfen und ich fragte mich panisch, was er vor hatte. Er war unberechenbar, erst recht wenn er irgendwas gezogen hatte.
„Komm mit raus!“ flüsterte er mir barsch ins Ohr. Ich hätte mich wehren sollen, hätte nicht mit ihm gehen dürfen, doch sein Griff um meinen Arm war so fest und ich war vor Angst wie gelähmt. Ich hörte nur meinen Lehrer hinter mir empört etwas rufen, doch Laslo brachte ihn mit einem Blick zum schweigen.
Dann führte er mich mit eisernem Griff durch die überfüllte Aula, ich bemühte mich um eine anteilnahmslose Miene, hoffte inständig, dass irgendwer auf uns aufmerksam wurde. Doch niemand stellte sich einem Laslo Holtz in den Weg.
Wir gingen zügig durch die fast leeren Flure, er zog mich brutal mit sich mit, obwohl ich mit meinen Absätzen kaum hinterher kam. Ich war wie betäubt, fragte mich, was er vor hatte und zitterte innerlich vor Angst. Ich stolperte hinter ihm durch die große Eingangstür und hätte fast angefangen zu heulen, als ich feststellte, dass sich niemand zum rauchen draußen aufhielt. Das war meine letzte Hoffnung gewesen.
Laslo zerrte mich die Treppen hinunter, dann schubste er mich mit einer ungeheuren Kraft gegen die Wand des Schulgebäudes. Ich knallte mit dem Hinterkopf gegen die harten Mauern und spürte den groben Putz im Rücken. Ich war völlig baff , hatte nicht damit gerechnet, dass er mich so rücksichtslos behandeln würde, erwartete aber nun das schlimmste, als er mit einer rasenden Wut auf mich zu kam.
Er schlug seine Hand direkt neben meinem Kopf gegen die Wand, die andere packte meine Schulter und drückte so fest zu, dass ich vor Schmerz kurz zusammen zischte. Ich sah ihn völlig verängstigt an, während seine riesen Pupillen mich scharf fixierten. Dann schrie er mich an:
„Hast du eigentlich eine Ahnung, was du mir angetan hast?!?“ Ich zuckte zusammen, schloss kurz verzweifelt die Augen, dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, ignorierte mein klopfendes Herz und antwortete ihm:
„Nein...also, ja...ich weiß nicht, ich...-“
„HALT DIE FRESSE!“ Er brüllte in einer unglaublichen Lautstärke und ich erkannte den Wahnsinn, der ihn beherrschte. Ich biss mir wieder auf die Zunge und nickte nur.
Er war sauer, er war sogar richtig sauer, doch es waren die Drogen, die das Fass zum überlaufen gebracht hatten, die ihm sämtliche Beherrschung nahmen und ihn gewisse Grenzen überschreiten ließen. Ich konnte nicht mit Gewissheit sagen, was er gemacht oder genommen hatte, aber wenn ein eh schon aggressiver Mensch bewusstseinserweiternde Substanzen nahm, dann war das für mich in dieser Situation absolut nicht vom Vorteil.
Früher hatte man von Laslo Holtz Geschichten gehört, üble Geschichten, die mir in diesem Augenblick durch den Kopf gingen. Typen, die versucht hatten ihn abzuziehen und dann im Krankenhaus erwacht waren. Mädchen, die ihn nicht wollten und er sie sich einfach genommen hatte.
Mir wurde kotzübel.
„Wegen dir waren die BULLEN hinter mir her! Du hast mich verpfiffen, du DRECKSSTÜCK! Hast du geglaubt, ich lasse dich einfach so davon kommen? Denkst du, du kannst mich VERARSCHEN?“ Während seines kleinen Ausbruchs war er mir gefährlich Nahe gekommen, seine Stirn berührte fast meine und ich spürte seinen heißen Atem in meinem Gesicht. Ich wand meine Kopf zur anderen Seite und sah im Augenwinkel, wie er seine freie Hand hob. Dann kniff ich die Augen zusammen und spürte in der nächsten Sekunde einen heißen Schmerz an meiner linken Wange. Er hatte mir eine Ohrfeige verpasst! Mir mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen!
Mein Wange brannte, ich sah kurzzeitig Sternchen aufblitzen und bereitete mich innerlich darauf vor, jetzt von ihm windelweich geprügelt zu werden. Ich war mir sicher, dass er mich hier aus Rache und vor rasender Wut zusammenschlagen würde. Er hatte schon so oft Leute ins Krankenhaus befördert, warum sollte er mit mir eine Ausnahme machen?
Ich wollte weglaufen, doch er hielt unerbittlich meine Schulter umklammert, ich spürte sie bereits kaum noch und von dem Schlag sah ich alles verschwommen. Also bereitete ich mich darauf vor diesmal wahrscheinlich seine Faust zu spüren, wappnete mich gegen den Schmerz, spannte jeden Muskel in meinem steifen Körper an und schloss feige wie ich war meine Augen.
Doch es kam kein Schlag.
Stattdessen hörte ich wie sich Schritte näherten und sich der klammernde Griff an meiner Schulter kurz lockerte. Ich öffnete die Augen, in dem Moment zog jemand Laslo von mir fort, stieß ihn ein paar Meter weiter gegen die Mauer und verpasste ihm exakt an der selben Stelle, die bei mir zuvor getroffen wurde, einen wahrscheinlich viel härteren Schlag.
Dann erkannte ich ihn, meinen persönlichen Engel. Tom war, um es mit Eriks Worten zu sagen, zu mir geflogen gekommen um mich zu retten.
Er war größer und kräftiger als Laslo und binnen weniger Sekunden hatte er ihn mehrmals hart getroffen. Ich beobachtete die beiden wie festgefroren, Laslo wehrte sich, hatte aber keine Chance. Tom bewegte sich wie eine Katze, geschmeidig und sicher, er kassierte keinen Treffer und sah bei dieser „Prügelei“ sogar noch total lässig aus. Als kämpfe er gegen ein Kleinkind.
Ich war unglaublich gefesselt von meinem Helden.
Irgendwann hatte Tom Laslo im Schwitzkasten, versetzte ihm einen Hieb mit dem Ellenbogen und Laslo stöhnte gequält. Dann ließ er ihn los, gab ihm einen Schubs und sagte einfach nur total cool:
„Verpiss dich, du Spinner! Und fass sie nie wieder an!“ Laslo hielt sich die blutende Lippe, ich erntete noch einen verachtenden Blick, dann drehte er sich um und verschwand.
Tom drehte sich sofort zu mir. Ich stand noch immer an der Wand, atmete schwer und spürte durch ein fieses Brennen, wie meine Wange leicht anschwoll. Er nahm mich sofort in den Arm, flüsterte mir beruhigende Worte ins Ohr, löste kurz die Umarmung um mich auf Abstand zu halten, so dass er mich prüfend begutachten konnte.
„Alles in Ordnung, meine Kleine?“ Dann nahm er mich wieder in den Arm, küsste mein Haar und streichelte meinen Rücken. Ich nickte an seiner Schulter, wahrscheinlich stand ich noch immer unter Schock, aber um ehrlich zu sein, ging es mir besser als erwartet. Ich war mit einem Schrecken davon gekommen, auch wenn es keine nette Angelegenheit gewesen war, eine Art Nahtoderfahrung zu machen.
Ich murmelte ihm ein „Danke“ zu, dann wollte ich mich von ihm losmachen. Die Umarmung schmerzte fast mehr, als mein Kopf oder meine Schulter. Diese heldenhaft Rettung hatte meine Gefühle gerade zu explodieren lassen und sein unglaublich guter Geruch machte mich fast wahnsinnig. Ich musste sofort von ihm weg, meine Wunden lecken gehen und diesen Abend einfach vergessen.
Doch Tom hielt mich fest, zu fest. Er umarmte mich und ich war an seinen Körper gepresst.
Ich sah verwundert zu ihm auf und blickte genau in seine himmelblauen Augen, die mich mit einem ganz neuen Ausdruck betrachteten. Nicht der brüderliche, liebevolle Tom sah mich an, nein, genau diesen Blick hatte ich mir jahrelang gewünscht.
Dann senkte er einfach so seinen Kopf zu mir hinunter und ohne das ich begriff was gerade geschah, küsste er mich. Mein Herz blieb stehen!
Es war ein sanfter, zärtlicher Kuss und in ihm schwangen unausgesprochene Worte.
Tom hielt mich fest, ließ mich keinen Zentimeter von ihm weichen und doch war seine Lippen weich und zurückhaltend. Es war traumhaft, genau so hatte ich mir unseren ersten Kuss immer vorgestellt.
Keine stürmische, überstürzte und zügellose Leidenschaft, sondern ein gefühlvoller und intensiver Akt. Ich spürte seine perfekten Lippen, die immer wieder meine liebkosten, kleine zarte Küsse, die ich hingebungsvoll erwiderte. Seine Hände wanderten ganz langsam und ohne großen Druck auszuüben meinen Rücken hinauf. Die rechte legte sich sanft um meinen Hals, wobei sein Daumen leicht mein Kinn streichelte. Die linke Hand umfasste meinen Hinterkopf.
Ich war nicht im Stande irgendetwas zu denken oder zu fühlen, so unbegreiflich war das, was gerade geschah. Ich kostete jede Sekunde dieses einzigartigen Moments aus, er gehörte uns.
Toms Lippen übten nun mehr Druck aus und irgendwann fand seine Zunge den Weg in meinen Mund. In mir explodierten tausend Feuerwerke. Er schmeckte fantastisch, seine Zunge passte perfekt zu meiner und wir begannen zärtlich miteinander den jeweils anderen Mund zu erkunden.
Meinetwegen hätte ich die ganze Nacht so verbringen können, doch irgendwann löste sich Tom zu meinem großen Bedauern von mir. Ich blickte erwartungsvoll zu ihm hinauf, seine Augen hypnotisierten mich sofort.
Er schüttelte fassungslos mit dem Kopf und lächelte mich glückselig an.
Es hätte perfekt sein können.
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