Wenn 2 Herzschläge ganz besonders klingen, dann nur, weil sie im selben Rythmus swingen :) - Teil 16

Autor: Maggie
veröffentlicht am: 17.05.2012


So, wie versprochen geht es jetzt zügiger weiter.
Ich hoffe ich kann mit der Fortsetzung den doch etwas verwirrenden letzten Teil wieder gut machen, da es bei einigen ja so ankam, als wäre Erik der Stalker, der auch die Hackerangriffe, die Verfolgungsjagd etc. zu verantworten hätte – das war er aber nicht. Oder sagen wir es mal so, zumindest geht Maya davon aus, dass Erik es nicht war ;)
Ganz liebe Grüße
Maggie





Es war einfach alles zum kotzen.
Angefangen bei den geschwollenen roten Augen bis hin zu der Tatsache, dass ich Erik schon jetzt vermisste. Nach nur einer einzigen Nacht, in der ich mich bitterlich in den Schlaf geweint hatte und mir unser letztes Gespräch gefühlte fünftausend mal durch den Kopf gegangen war.
Hatte ich überreagiert? Nein! Ganz klar, was er getan hatte war ein schwerer Vertrauensmissbrauch.
Dabei fand ich das eigentliche Vergehen, dass er mich damals, vor ca. fünf Jahren, als wir uns während des Studiums gezwungenermaßen kennen gelernt hatten, übers Internet ausspioniert hatte, nicht mal am schlimmsten. Das war nun mal Erik und ich hatte oft genug miterlebt, wie er das auch bei anderen Personen getan hatte. Zum Beispiel bei meinem Ex-Freund Daniel. Da war ich ihm sogar dankbar gewesen – man wusste in einer Großstadt ja nie auf wen man sich so einließ. Und natürlich hätte mir klar sein müssen, dass er das genau so auch bei mir hätte tun können, doch irgendwie hatte ich das kategorisch ausgeschlossen, warum auch immer.
Ich wusste auch genau, dass es nicht mal schwer war, Informationen über meine Person zu bekommen. Lexies Tod war damals ein riesen Skandal, die erste Drogentote in einem idyllischen Dorf auf dem Lande, das hatte für Schlagzeilen gesorgt. Mein Name wurde dabei so richtig schön in den Dreck gezogen, doch noch härter hatte es Tom getroffen, den großen Bruder, der ebenso unter dem Einfluss von zahlreichen Drogen stand, während das Herz seiner Schwester ein Zimmer weiter versagt hatte. Manchmal, in dunklen einsamen Stunden, hatte ich mir die Artikel, die im Online-Archiv unseres örtlichen Landkreisportals relativ einfach zu finden waren, immer wieder durchgelesen, nur um festzustellen, dass es sich anfühlte, als würde ich über fremde Personen lesen.
Natürlich hatte Erik diese Artikel ebenfalls gefunden und wahrscheinlich noch viel mehr.
Warum hatte ich nicht damit gerechnet? Ich war so dumm und naiv, nun war es zu spät.
Er hätte es mir sagen müssen, er hätte mich darauf ansprechen müssen. Damals wäre ich nicht mal sauer gewesen, ich hätte es sogar verstanden. Doch heute, nach so vielen Jahren und besonders nach den letzten Wochen, da fühlte ich mich einfach nur hintergangen.
Diese vielen kleinen Male, in denen er so getan hatte, als wüsste er von nichts, diese vielen Momente, in denen er mich also quasi angelogen hatte, die stachen mir unerbittlich in mein Herz. Immer und immer wieder gingen mir die letzten Wochen durch den Kopf. Wann hatte er Unwissen geheuchelt? Wie oft hatte er mir direkt in die Augen gesehen und genau gewusst, was und wer ich einmal war? Dann die Nacht, in der ich ihm, Kim und Luca die ganze Geschichte erzählt hatte. Er hatte mich in den Arm genommen, mich erzählen lassen, hatte gemerkt, wie ich mit mir ringen musste – und dabei wusste er ganz genau, was ich erzählen würde! Das war einfach nur die Höhe.
Nun war mir auch klar, warum er so emotionslos reagiert hatte, klar – er hatte sich ja schon sehr sehr lange vorher sein Urteil dazu bilden können. Mir hätte auffallen müssen, dass er nicht ein Sterbenswörtchen zu den Drogen verloren hat, er, der mich wegen jeder Zigarette schief ansah.
Jetzt könnte ich mich für meine Gutgläubigkeit ohrfeigen.
Ich war doch sonst so misstrauisch!
Gut, nun war es eh zu spät. Erik hatte für sein hinterhältiges Verhalten die Quittung erhalten, es war gut, dass ich es erfahren hatte. Sein kleiner dummer Versprecher hatte die Bombe zum platzen gebracht, auch wenn es schon fast zu spät gewesen wäre.
Denn ich hatte mich verdammt noch mal in ihn verliebt! Und nun litt ich!
Und wie! Sofort stiegen mir wieder Tränen in die Augen.
Ich stand vorm Spiegel und wollte mich eigentlich schminken, der dritte Versuch innerhalb einer halben Stunde.
Immer wieder schweiften meine Gedanken zum gestrigen Abend und ob ich es wollte oder nicht, jedes mal fing ich an zu heulen. So kannte ich mich nicht. Wann hatte ich das letzte mal wegen eines Manns geweint? Und dann auch noch wegen eines dürren, besserwisserischen und hinterhältigen Computerfreaks!
Ich schüttelte den Kopf, sah mich mitleidig im Spiegel an und setzte dann eine entschlossene Miene auf.
Schluss jetzt! Schluss mit dem Selbstmitleid, den Heulattacken und vor allem: Schluss mit jeden Gedanken an Erik – es war nur noch Verschwendung!
Ich musste in einer halben Stunde zum Bahnhof aufbrechen und hatte geschwollene Augenlider, eine rote verschnupfte Nase und sah im allgemeinen einfach nur unglaublich furchtbar aus. Ich startete einen letzten Versuch und trug etwas Makeup auf, umrandete meine Augen schwarz (ein wirkliches Kunststück bei diesen rötlich dicken Schwellungen), tuschte die Wimpern und versuchte irgendwie die Spuren der letzten Nacht zu verdecken. Nach 10 Minuten betrachtete ich mich wieder kritisch, ging dann kurzerhand zu einem der wertvollsten Schubfächer meines Schlafzimmers und zog die größte Sonnenbrille die ich finden konnte heraus. Ich setzte sie sofort auf, warf einen schnellen Blick in meinen Handspiegel, der immer griffbereit auf dem Nachtschränkchen lag und nickte mir selbst zufrieden zu. Mit den riesen Gläsern waren alle verdächtigen Schwellungen und Rötungen verdeckt und ich sah dazu noch unglaublich cool aus. Mir standen Sonnenbrillen einfach unwahrscheinlich gut, auch dank des Ponys und ich entschloss mich, noch ein paar von diesen wertvollen Accessoires in meinen Koffer zu packen .
In diesem Moment klingelte es an meiner Tür. Ich zuckte sofort zusammen, mein Herz klopfte und ich sah angsterfüllt zur Haustür. Mein erster Gedanke: Erik! Nein bitte nicht, ich konnte und wollte ihn nicht sehen.
Dann dachte ich an den Stalker und mir wurde das erste mal bewusst, dass ich jetzt niemanden mehr hatte, der mich vor ihm beschützen konnte. Jetzt wünschte ich mir, es wäre Erik, der mit einer schuldbewussten Miene hinter der Tür stand. Sofort schalt ich mich für den Gedanken. Konnte ich so schnell vergessen, was er getan hatte? Es musste nur an meiner Tür klingeln und ich verzieh ihm? Ich war doch nicht mehr ganz dicht!
Entschlossen und erhobenen Hauptes schritt ich zur Tür, riss sie mutig auf und stutzte, als ein komplett und ordentlich bekleideter Malte mit einem unschlagbaren Grinsen vor mir stand. Er sah in Klamotten so ganz anders aus, auch wenn sein Kleidergeschmack mit dem meinen nicht ganz konform ging. Er trug Bermudas und ein eng anliegendes blaues Shirt, bedruckt mit Hawaiiblumen und einem Surfbrett – ganz der Beachboy!
Und dieses Dauergrinsen! Ich fragte mich was er wollte und sagte ihm das dann auch direkt in meinem morgendlichen überaus schlecht gelaunten Zustand:
„Was willst DU denn?“ Trotz meiner aggressiven Tonlage, sah ich nicht mal ein Zucken seiner Mundwinkel. Er zeigte mir seine strahlend weißen Zähne und antwortete wieder mit diesem komischen Akzent:
„Ganz schön hell hier drin, was?“ Dann deutete er auf meine Sonnenbrille und lachte über seinen eigenen Witz. Natürlich war es albern in meiner Wohnung eine Sonnenbrille zu tragen, doch gerade in diesem Moment hätte ich mir nie die Blöße gegeben und ihm mein Gesicht im Wrackzustand offenbart. Ich verzog nur kurz den Mund, dann knurrte ich ihn wieder unfreundlich an:
„Was willst du?“ Er hob abwehrend die Hände, als er endlich merkte, dass ich nicht zu Scherzen aufgelegt war.
„Hey Hey, ganz ruhig! Dein komischer Freund schickt mich, ich soll dich zum Bahnhof bringen!“ Ich zog sofort die Stirn in Falten, ließ mir die Antwort kurz durch den Kopf gehen, bis ich verstand und dann noch gereizter reagierte:
„Du sollst WAS? Hat dich etwa Erik geschickt? Bist jetzt mein neuer Babysitter oder was? Der Typ kann mich mal!“ Mit diesen Worten schlug ich ihm die Tür vor der Nase zu, atmete erst einmal tief durch und haute mit der flachen Hand blind vor Raserei gegen die Wand. Der kurze Schmerz ließ mich zu Sinnen kommen, dann öffnete ich wieder hastig die Tür, Malte stand noch genau so da wie zuvor, nur dass er jetzt nicht mehr grinste.
„Geht es dir gut?“ fragte er mich besorgt. Ich ging darauf nicht ein.
„Wie meinst du das, du wurdest von \'meinem Freund geschickt\'? War es Erik?“ Er seufzte kurz, dann klärte er mich auf:
„Ich weiß nicht wie sein Name ist, aber dennoch stand heute in aller Herrgottsfrühe der Klugscheißer mit der Brille vor meiner Tür, der, der mich letztes Wochenende fast zusammen geschlagen hätte -“ seinen mitleidigen Gesichtsausdruck überging ich geflissentlich und verzog keine Miene, er fuhr fort „-er sah irgendwie gehetzt aus, sagte nicht einmal Guten Morgen und wies mich regelrecht mit knappen Worten an, dich um kurz nach zehn zum Hauptbahnof zu bringen, warum auch immer. Er wartete nicht mal eine Antwort ab, total unhöflich dieser Typ. Normalerweise hätte ich einen Teufel getan, so wie er mit mir umgesprungen ist, aber da es ja um dich geht -“ nun zwinkerte er mich wieder an, ich verrollte die Augen hinter meinen abgedunkelten Gläsern und verhärtete nur den Strich, den mein Mund bildete, während er weiter sprach „-da dachte ich mir: \'Malte! Sei ein guter Nachbar und begleite das hübsche Mädchen von nebenan zum Bahnhof, wenn es ihr ungalanter und rüpelhafter Freund schon nicht tut. Es wäre eine gute Tat und du bist zu gutherzig, um es nicht zu tun. Außerdem bist du -“ Mir wurde fast schlecht. Der Typ war absolut selbstverliebt und hörte sich auch noch gerne reden. Ich würgte ihn sofort ab:
„Okay, ich habs kapiert.“ Dann überlegte ich kurz, entschloss aber kurzerhand, mich von ihm zum Bahnhof begleiten zu lassen, sicher war sicher!
„Komm rein und warte kurz, ich bin gleich soweit!“ Mit dieser Anweisung ließ ich ihn in meinem Flur stehen und machte mich daran, den Koffer zu verschließen, meine Blazer überzuziehen und mich von den Katern zu verabschieden.
Eigentlich hätte ich Malte ja wegschicken müssen, schließlich hatte auch ich meinen Stolz und diese Bevormundung von Erik hätte mich rasend machen müssen. Doch ich war ihm dankbar und dazu stand ich auch. Ich fand es sogar etwas rührend, dass er auf diese Weise dafür sorgte, dass ich sicher zum Bahnhof kam. Schließlich wusste ich, dass er Malte nicht besonders mochte und es hatte seinem arroganten Hintern mit Sicherheit ne menge Überwindung gekostet, ihn um etwas zu bitten.
Das geschah ihm recht, dachte ich selbstgefällig und streichelte Diego ein letztes Mal über den Rücken.
Wehmütig blickte ich auf meine geliebten Kater , drehte mich dann mit einem schlechten Gewissen um, schnappte mir meine Handtasche und zog den riesigen Koffer in den Flur.
Malte lächelte mir zu, nahm mir ganz Gentleman den Koffer ab und wir verließen gemeinsam meine Wohnung.
Unten angekommen schien die Sonne erbarmungslos auf den städtischen Asphalt und ich schwitzte schon jetzt, so dass ich den Blazer wieder auszog. Der 15 minütige Weg zum Bahnhof würde ja heiter werden.
Doch Malte ging schnurstracks in die verkehrte Richtung, trug mein Koffer mit einer Hand als würde er keine 2 Kilo wiegen und zog dann einen Schlüssel aus seinen Bermudashorts. Ich folgte ihm stutzig, hatte schon einen dummen Spruch parat, sah aber dann die blinkenden Lichter eines M5 auf dem Parkplatz am Straßenrand.
Ich blieb mit offenem Mund stehen, bestaunte den Wagen und wurde von den verchromten Felgen fast geblendet, während Malte völlig ungerührt meinen Koffer auf dem Rücksitz verstaute und dann in diesen wirklich endgeilen BMW einstieg. Ich stand noch immer völlig verdutzt am Straßenrand bis er sich umdrehte und mir ein „Kommst du?“ zu rief.
Sofort setzte ich mich in Bewegung, schritt um das Fahrzeug, öffnete die Beifahrertür und ließ mich in das weiche Leder sinken.
Ungläubig sah ich zu Malte, der den Motor startete und sanft anfuhr.
„Schickes Auto!“ sagte ich ganz ehrlich. Er drehte sich grinsend zu mir.
„Danke!“
Während er sich konzentriert durch den dichten Verkehr der Kölner Innenstadt arbeitete, musterte ich das elegante und luxuriös verarbeitete Cockpit, sowie die extravagante Musikanlage. Wie konnte sich ein Medizinstudent ein solches Auto leisten? Naja, es konnte mir schlichtweg egal sein, immerhin erfüllte es seinen Zweck und ich musste nicht zum Bahnhof laufen.
„Willst du in Urlaub fahren?“ Er unterbrach meine Gedanken und ich blickte in seine neugierigen blauen Augen, die mich kurz verschmitzt von der Seite anfunkelten.
„Nein, ich besuche nur meine Eltern übers Wochenende.“ antwortete ich knapp.
„Ein Familienwochenende also. Und da begleitet dein Freund dich nicht? Er hat wirklich keine Manieren!“
„Erik ist nicht mein Freund!“ Am liebsten hätte ich mir die Brust gerieben, so sehr schmerzte mein Herz bei diesem Satz. Ein kleiner Kloß bildete sich in meinem Hals und das schlucken fiel mir verdächtig schwer.
„Oh...also...bist du...Single?“ Er fragte ganz vorsichtig, ich hörte aber auch freudige Erwartung in seiner Stimme.
Ich knirschte mit den Zähnen und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ja.“
„Gut zu wissen!“ Als er dann verschwörerisch sein Augenbrauen hochzog und mir wieder dieses anzügliche Zwinkern schenkte, hätte ich mich fast übergeben. Wie konnte jemand nur so von sich überzeugt sein? Klar, er war attraktiv, aber ich schwamm momentan geradezu in Selbstmitleid und trauerte meinem braunen Wuschelkopf hinterher, so dass ich seine billige Anmache einfach nur abschreckend fand.
Ich verzog leicht den Mund und blickte desinteressiert aus dem Fenster. Da hatte mir Erik ja tollen Begleitschutz zur Verfügung gestellt! Ich schnaubte empört und strafte Malte mit verbittertem Schweigen.
Dieser ließ sich von meinem abgeneigtem Verhalten kein bisschen aus der Ruhe bringen. Er plapperte die ganze Zeit vor sich hin, erzählte irgendeinen Stuss über seine WorkandTravel-Reise durch Australien, von der er vor einem halben Jahr erst zurückgekommen war und sah ständig zu mir rüber, versuchte mich mit seinen wirklich strahlend blauen Augen zu betören und legte sich einfach so richtig ins Zeug. Dass ich ihn nicht mal Beachtung schenkte, merkte er wahrscheinlich gar nicht, so war er von sich überzeugt und ich betete einfach nur, so schnell wie möglich am Bahnhof endlich aussteigen zu können.
Dort angekommen, ergriff ich sofort die Flucht. Ein gemurmeltes Danke brachte ich gerade noch so heraus, dann versank ich in den Menschenmassen, zog meinen Trolley hinter mir her und ließ mit dem Abfahren des Zuges Köln für die nächsten Tage hinter mir.

Während der Fahrt im ICE versank ich dann vollends in den bedauernswerten Zustand der einsamen Seelen.
Ich hörte so richtig schön klischeehaft urtraurige Musik, setzte nicht ein Mal meine Sonnenbrille ab, da sich immer wieder einzelne Tränen aus meinen Augenwinkel quetschten und blickte gedankenverlorenen in die vorbeiziehende Landschaft.
Doch mit jedem Kilometer, den wir meinem Ziel näher rückten, bekam ich ein immer komischeres Gefühl in der Magengegend. Nervosität machte sich breit und ich rutschte aufgeregt in meinem unbequemen 2.Klasse-Sitz hin und her. Meine Fahrt sollte durch Kassel gehen, Toms derzeitiger Wohnsitz. Natürlich wusste ich, was für ein verdammter Zufall es hätte sein müssen, ihm hier während meines sieben minütigem Aufenthalts zu begegnen, doch trotzdem kam ich nicht gegen die Aufregung an.
Als ich dann gehetzt genau dort von einem Gleis zum nächsten raste, in den Bummelzug, der bis zu meinem Dorf fuhr, einstieg und mich auf einen beliebigen Platz fallen ließ, überrannte mich eine dieser im Vorfeld so gefürchteten Erinnerungen.
Ich blickte aus dem milchigem und vollgeschmiertem Fenster, erkannte den Bahnsteig wieder und sah mich und Lexie auf einer der Bänke sitzen. Auch schon vor acht Jahren fuhr dieser Zug vom selben Gleis. Wie oft hatten Lexie und ich unsere Wochenenden bei Tom in Kassel verbracht und waren dann Sonntagnachmittag wieder mit genau diesem Zug zurück gefahren?
Ich wusste noch genau, wie wir uns an einem dieser Tage gefühlt hatten. Wie wir vollkommen fertig auf diesen unbequemen Bänken gesessen hatten, schweigend und eine Zigarette nach der anderen rauchend. Die Gedanken kreisten sich um das erlebte, um die krasse Party, auf der wir gewesen waren und um das ganze Zeug, was wir gezogen hatten. Ich ging meistens jede einzelne Minute durch, die ich mit Tom verbracht hatte. Legte jedes Wort, jede flüchtige Berührung und jedes Augenzwinkern auf die Goldwaage und verzehrte mich schon wieder nach dem nächsten Wochenende und seiner Gesellschaft. Lexie saß neben mir, hörte Musik und kaute verbissen auf ihrem Kaugummi. Sie trug meistens irgendein Oberteil von mir, ich erinnerte mich noch ein eine enganliegende Bluse mit vielen kleinen Kirschen drauf, welche sie sich ständig ausgeliehen hatte. Lexie liebte meine Klamotten und der hellblaue Hintergrund der Bluse, hatte ihre meerblauen Augen immer so schön betont. Die langen blonden Haare, die sich gemeinerweise auch noch in den Spitzen leicht lockten, trug sie immer offen. Sie zog alle Blicke auf sich. Und wie wir zwei da so saßen, obercool und lässig mit Sonnenbrillen und desinteressierter Mienen, wurde wir selbst nach einem Wochenende voller Drogen und ohne Essen und Schlaf, von sämtlichen Typen angequatscht.
Ich schüttelte mich kurz, über meinen ganzen Körper lief eine Gänsehaut.
Ich wollte solche Momente nicht lebendig werden lassen, nie mehr. Er schmerzte zu sehr.
Manchmal fragte ich mich, wie es wäre, wenn Lexie diese Nacht überlebt hätte. Spann mir ein komplett anderes Leben zusammen, ein Leben mit ihr an meiner Seite und ohne Drogen. Ich stellte mir vor, mit ihr in Köln in einer WG zu leben, was für ein irre aufregendes Leben wir doch gehabt hätten, unbeschwert und unzertrennlich. Sie strahlte in meinen Vorstellungen vor Schönheit und all die kleinen Dinge, die die Drogen zerstört hatten, waren in dieser Welt wie weggeblasen. Nach diesen Tagträumen, die oft bis ins kleinste Detail gingen, fiel mir meistens auf, wie einsam ich doch in Wirklichkeit war und alles machte mich einfach nur unendlich traurig. Klar ich hatte Kim, doch sie war nur ein schwacher Ersatz für eine Lexie, denn meine Freundschaft zu ihr war mehr oberflächlicher Natur.
Erst seit Erik mich so von den Socken gehauen hatte, fühlte ich mich wieder ein Stück vollkommener.
Und schon musste ich mich wieder gedanklich korrigieren, ich hatte mich kurzzeitig vollkommener gefühlt, jetzt fühlte ich mich einfach nur Scheiße! Erik war passé und ich schwor mir in diesem Moment, dieses Wochenende nicht weiter an ihn zu denken. Er hatte hier nichts verloren.
Der Zug war kurz vor seinem Ziel, in wenigen Minuten würde ich wieder meine Füße auf heimatlichen Boden setzen, ich tauchte gleich in eine andere Welt ein. Eine Welt, die mal perfekt gewesen war und jetzt nur noch aus Trümmern bestand.

Ich saß in meinem alten Kinderzimmer, welches meinen Eltern jetzt als Gästeraum diente und total umgestaltet worden war – Gott sei Dank!
Mein Vater hatte mich vom Bahnhof abgeholt, obwohl ich die kurze Strecke zu unserem Haus auch noch zu Fuß hätte bewältigen können. Er hatte mich kurz in seine Arme geschlossen, mich eingehend betrachtet
und hatte dann meinem Gepäck mehr Aufmerksam zukommen lassen, als meiner Person.
Ich wusste das er mich liebte, ich war seine Tochter, doch er war auch Zollbeamte, ein Diener des Gesetzes und mit einem Teil seines Herzens hasste er mich wahrscheinlich für alles was ich getan hatte. Er hatte seinen Job immer todernst genommen, hatte die Typen ertappt, die quasi mir das Zeug ins Land schmuggeln wollten und mit einem Schlag musste er feststellen, dass er das Verbrechen in seinem eigenen Haus übersehen hatte. Das kratzte sicher auch an seinem Ego, war aber nie mein Problem gewesen. Im Grunde hatte ich nie viel von ihm gehabt, da er die Woche über immer an irgendeiner Landesgrenze arbeiten musste. Schweigend hatten wir die Fahrt hinter uns gebracht. Zu Hause angekommen, wartete schon meine Mutter aufgeregt auf der Terrasse vor unserem Haus.
Sie hatte mich viel herzlicher in ihre Arme geschlossen und mich zärtlich aufs Haar geküsst. Ich hatte ihre Umarmung genossen, da sie noch genauso wie früher roch, leicht blumig und nach süßem Kuchenteig, so wie ein Mutter nun mal roch. Dann hatte sie mich mit ihren großen grünen Augen, die etwas heller waren als meine, betrachtet und besorgt festgestellt:
„Schatz, du hast abgenommen!“ Ich hatte wie immer abgewunken und war an ihr vorbei ins Haus gegangen. Wahrscheinlich hatte sie meinem Vater noch einen bedeutungsvollen Blick hinter meinem Rücken zugeworfen und er hatte selbstgefällig die Augenbrauen hochgezogen.
Wie lange war ich nicht hier gewesen? 2 ½ Jahre? Es kam mir vor wie gestern.
Ich verstaute kurz meinen Koffer, dann sah ich auf mein Handy und erkannte mit einer Mischung aus Erleichterung und Bedauern, dass keiner versucht hatte mich zu erreichen.
Ich ging in die untere Etage, da ich erstmal in Ruhe im Garten eine rauchen wollte und stellte dabei verärgert fest, dass ich vergessen hatte, mir noch eine neue Schachtel Zigaretten zu kaufen.
Meine Mutter stand in der Küche und werkelte, es duftete nach Pfannkuchen und mein Magen knurrte leicht. Nach dem Wochenende hier würde ich wahrscheinlich nicht mehr in meine Hosen passen.
„Mama, ich geh kurz eine rauchen!“ rief ich ihr zu.
„Ja Schatz, ich komme gleich mit raus, geh nur schon vor.“

Draußen ließ ich mich in einen der bequemen Liegestühle fallen, zündete mir die Kippe an und genoss die warmen Sonnenstrahlen im Gesicht. Eine Erinnerung überschattete sofort mein Inneres, sobald ich mich umsah. Wie oft hatte ich auf dieser Terrasse mit Lexie gesessen und Hausaufgaben gemacht? Fast jeden Tag hatten wir hier rumgehangen, uns heimlich Longdrinks gemixt und über alles erdenkliche gequatscht und gelacht, hatten uns gegenseitig de Nägel lackiert oder uns einfach nur gesonnt. Jede einzelne Erinnerung stach wie ein giftiger Stachel in meine Haut und hinterließ kleine blutig brennende Stellen.
Dann lenkte ein rotes plüschiges Etwas seine Aufmerksamkeit auf mich. Eine Katze lief eilig über den Rasen des penibel gemähten Gartens und raste auf mich zu. Ich traute meinen Augen nicht, das war Punchy – der Kater den wir einst das Leben gerettet hatten! Er lief auf mich zu, schlängelte sich schnurrend um meine Beine und ich streichelte ihm entzückt den Rücken. Er war etwas in die Jahre gekommen, machte aber einen noch recht fitten Eindruck.
Dann kam mein Vater aus dem Haus und setzte sich mir gegenüber.
„Der Kater hat dich schon immer gemocht!“ sagte er kopfschüttelnd.
„Ich habe ihm ja auch das Leben gerettet, damals!“ antwortete ich stolz, doch mein Vater sah mich nur prüfend an, ich kannte diesen Blick, es war der strenge und misstrauische Zöllner in ihm, der mich nun ansah, kritisch und zweifelnd.
„Du rauchst noch?“
„Natürlich!“ Zum Beweis zog ich provokativ an der Zigarette, ziemlich albern, aber der aufständische Teenie kam in mir durch.
„Und du trinkst auch?“ Die Frage kam wie ein Peitschenhieb und ich runzelte die Stirn.
„Ab und zu.“
„Wie oft?“
„Manchmal...“
„Jeden Tag?“
„Ähhh...“
„Und machst du noch was anderes?“
„Was?“
Er nahm mich eindeutig ins Kreuzverhör und ich kam mir vor, als wäre ich wieder elf Jahre alt und hätte gerade irgendeine dämliche Vase vor Wut zerschmettert, nur um es danach abzustreiten. Er sah mich eindringlich an, seine dunklen Augen fixierten mich finster und ich wich automatisch ein Stück in meinem Sitz zurück.
„Ich will wissen, ob du wieder Drogen nimmst, Tochter!“ Er duldete keine Widerrede und behandelte mich glatt wie einen Schwerverbrecher. In diesem Moment besann ich mich wieder, wieso schüchterte er mich so ein? Väterliche Autorität ging eindeutig über jedes Alter hinaus.
„Nein! Wie kommst du darauf?“ verteidigte ich mich sofort.
„Weil du abgemagert bist, Augenringe hast und fast nur mit Sonnenbrille hier rumläufst!“
Ich war keine halbe Stunde da und trug in diesem Moment noch nicht mal die Brille. Ich schüttelte aufgebracht meine Haare zurück und giftete ihn an:
„Und du meinst, dass das schon Indizien für dich sind! Ich bin noch nicht mal angekommen und schon unterstellst du mir eine erneute Drogenabhängigkeit. Wenn du mich kennen würdest, wüsstest du, dass das mehr als abwegig ist!“ Ich kniff meine Augen zusammen und erkannte in ihm die selbe Wut, die auch mich manchmal beherrschte. Seine Antwort war niederschmetternd.
„Ich glaubte mal dich gekannt zu haben, doch um ehrlich sein, wusste ich wohl nie wer du wirklich bist!“
Autsch! Das saß tief.
Er hatte, wie angenommen, mir noch immer nicht verziehen. Ich wollte ihn am liebsten anschreien, ihm sagen, dass ich jung und unerfahren gewesen war, dass ich mich verändert hatte und das er nicht mal im Ansatz begriff, was Lexies Tod in mir bewirkt hatte. Doch ich schwieg und rauchte trotzig meine Zigarette auf, während ich seinen dunklen und abwertenden Blick auf mir spürte.
Meine Mutter unterbrach das angespannte Schweigen, als sie ganz die Frohnatur, die sie schon immer war, aus dem Haus trat und duftende Pfannkuchen auf den Tisch stellte.
Während des Essens fragte sie mich über das Leben in der Großstadt aus, wobei mein Vater bei manchen Erzählungen nur abfällig brummte oder ungläubig mit dem Kopf schüttelte. Irgendwann kam sie selbstverständlich zu den heiklen Themen.
„Uuuund? Gibt es eigentlich jemanden bei dir zur Zeit?“ Sie zwinkerte mich wissend an, ich verschluckte mich fast an dem Stück Teig in meinem Mund und mein Vater sah gezwungen desinteressiert auf seinen Teller. Ich antwortete einsilbig:
„Nein, bis auf Pablo und Diego gibt es niemanden!“ Jetzt war es mein Vater der sich verschluckte und mich zornig und absolut unfassbar anstarrte.
„Pablo? Diego? Ausländer? Und dann gleich noch zwei? Du solltest dich schämen, dass du -“
„Thomas!“ Der warnende Ton meiner Mutter stoppte seinen kurzen Ausbruch und ich fiel ihm auch sofort amüsiert ins Wort:
„Ja, stell dir vor Papa! Zwei Briten und sie wohnen sogar bei mir!“ Ihm traten die Augen aus dem Kopf, ich kicherte albern und meine Mutter sah mich tadelnd an. Zornesröte stieg ihm ins Gesicht, er umklammerte die Gabel in seiner rechten Hand so stark, dass ich das weiße seiner Knöchel sehen konnte. Meine Mutter hatte letztendlich Erbarmen und klärte ihn auf:
„Das sind die zwei Kater von Maya! Das weißt du doch, ich habe dir doch erzählt, dass sie sich Katzen angeschafft hat!“ sagte sie beschwichtigend, ließ meinen Vater aber nicht weiter zu Wort kommen und wandte sich gleich mir zu:
„Also hast du keinen festen Freund zur Zeit?“ Ich schluckte den mir wohl bekannten Kloß hinunter und antwortete mit einem leisen „Nein.“
Ihr musste mein Gesichtsausdruck entgangen sein, denn sie erzählte völlig unbekümmert weiter.
„Schade, ich dachte, du hättest endlich mal jemanden gefunden, du klangst so glücklich das letzte mal am Telefon.“ Natürlich hatte ich da glücklich geklungen, da war die Welt mit Erik ja auch noch in Ordnung gewesen, dachte ich grimmig und blieb meiner Mutter eine Erklärung schuldig.
Kurz schwiegen wir alle, dann meldete sich nochmal meine Mutter zögerlich zu Wort:
„Maya...ich habe gestern erst wieder mit Sabine telefoniert -“ Oh NEIN! Bitte nicht, ich wusste was nun kam, Sabine war eine der engsten Freundinnen meiner Mutter und, ja...was sonst? Natürlich Toms Mutter!
„-wusstest du, dass Tom dieses Wochenende auch zu Besuch ist?“

Ich saß in dem Audi meiner Eltern und traute mich nicht, aus dem Fahrzeug zu steigen.
Es war so schön gewesen endlich mal wieder Auto zu fahren, dass ich gleich eine kleine Spritztour durch die Gegend gemacht hatte. Und nun parkte ich vor dem Supermarkt unseres Dorfes. Normalerweise wäre ich hier nie her gefahren, nicht an einem Freitagnachmittag, wo sich Gott und die Welt genau dort treffen würden.
Doch ich war dazu gezwungen, ich hatte keine Zigaretten mehr und würde ohne Nikotin das Wochenende nicht überstehen.
Meine Hände zitterten und waren eiskalt. Ich war so aufgeregt, als müsste ich gleich einen Raum voller Menschen betreten, die ich ewig nicht gesehen hatte und die mich wahrscheinlich nicht sonderlich mochten – exakt die Szenarie, die mich morgen Abend erwarten würde, ein netter Vorgeschmack also schon mal.
Ich brauchte mich nicht fragen, warum ich so nervös war, ich wusste es ganz genau.
Ich hatte vor wenigen Sekunden auf dem Parkplatz einen getunten Kadett mit Kasseler Kennzeichen gesehen – KS- TH 84 – wer sollte das wohl sein?
Ich schluckte schwer, setzte meine Sonnenbrille auf, nahm meine Tasche vom Beifahrersitz und stieg so elegant wie möglich aus dem Auto. Auf dem Parkplatz sah ich mich verstohlen um, ein paar flüchtig bekannte Gesichter, es war hier brechend voll und zum Glück gab es trotzdem niemanden, mit dem ich mich unterhalten musste. Mit gesenktem Kopf stöckelte ich durch die Menge, zog meinen Rock ein Stück nach unten und zupfte an meinem Oberteil.
Ich ging direkt auf den Eingang zu, sah mein Spiegelbild in den Türscheiben, stellte noch kurz fest, dass mein Outfit wirklich toll aussah, als sich die Türen automatisch öffneten und ER vor mir stand.

Ich war baff, geblendet, sprachlos und völlig aus dem Häuschen.
Hier sollten wir uns also wiedersehen, ganz unspektakulär zwischen Tür und Angel dieses mickrigen Supermarktes.
Tom starrte mich an und ich starrte zurück, bis sich ein unschlagbar strahlendes Lächeln auf seinem abnormal hübschen Gesicht bildete, er die kurze Distanz zwischen uns überwand und mich fest in seine Arme schloss. Ich klammerte mich an ihm fest, versenkte mein Gesicht an seiner Brust und spürte wie einzelne Freudentränen an meiner Wange herab liefen. Er roch noch genauso wie früher, nach einem Parfüm, welches ich nie wieder auch nur angesehen hatte. Jetzt zog ich den Duft ein, spürte seine Umarmung und es fühlte sich alles so vertraut an, dass es mir vor kam, als würden statt Jahre lediglich Tage zwischen uns stehen. Er seufzte ein „Maya!“ und mich überlief eine Gänsehaut. Seine Stimme! Oh, wie konnte jemand nur eine so herrliche Stimme haben!
Dann ließ er mich los, grinste mich an und nahm vorsichtig die Brille von meinem Gesicht.
Wir betrachteten uns eingehend, zogen Vergleiche zu früher und ich musste neidlos feststellen, dass er wirklich noch schöner geworden war.
Er war jetzt kein Junge mehr, er war ein Mann. Er trug einen Anzug, sah aus wie ein erfolgreicher Business-Futzi und war gleichzeitig unglaublich anziehend. Die blonden Haare waren irgendwie voller geworden und ordentlich geschnitten, es sah so vernünftig aus. Seine blauen Augen – nein, sie nur als blau zu bezeichnen war schon fast eine Beleidigung, sie waren eine Mischung aus Himmel- Gletschereis- und Karibikmeerblau und sie strahlten so intensiv, dass ich einfach nicht den Rest seines Gesichtes betrachten konnte.
Er ergriff als erster das Wort, während er liebevoll eine einsame Träne von meiner Wange strich:
„Du siehst hinreißend aus Kleine!“ Ich schniefte und lächelte freudig.
„Ich bin total verrotzt und verheult, ich sehe furchtbar aus!“
„Verrotzt und verheult warst du früher auch schon, nur heute wirkt das viel süßer.“
Ich lächelte wieder, konnte meinen Blick nicht von ihm lassen und hing an seiner strahlenden Erscheinung. Ihm ging es wahrscheinlich ähnlich, er ließ mich keine Sekunde aus den Augen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit nahm er wie selbstverständlich meine Hand und zog mich mit sich.
„Komm! Ich glaube wir haben eine Menge zu reden...“





Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4 Teil 5 Teil 6 Teil 7 Teil 8 Teil 9 Teil 10 Teil 11 Teil 12 Teil 13 Teil 14 Teil 15 Teil 16 Teil 17 Teil 18 Teil 19 Teil 20 Teil 21 Teil 22 Teil 23 Teil 24


© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz