Son of a Preacher Man - Teil 7

Autor: Maggie
veröffentlicht am: 15.07.2013


Auch hier nach langer Pause ein weiterer Teil ;)
Viel Spaß mit Anna und den kleinen und großen Katastrophen in einem Kirchencamp!


Teil 7

Irgendwann wird es spät, dunkel und kühl.
Die minderjährigen Konfirmanden gehören in ihre Feldbetten, also löschen wir gewissenhaft das Feuer, sammeln den ganzen Müll zusammen und machen uns mit Taschenlampen bewaffnet zurück zum Wohnheim.
Es ist wirklich stockfinster.
Caro läuft direkt vor mir, sie klammert sich an ihrem Johann fest, den ein potenzieller Angreifer wahrscheinlich für das schwächste Glied unserer Gruppe halten würde, so schmächtig wie er ist.
Da halte ich mich dann doch lieber an meine kleines Goldkehlchen. Noah ist groß und sportlich, außerdem trägt er die Gitarre, könnte als wirkungsvolle Waffe verwendet werden.
Wir sind die Letzten, ich mag den Gedanken nicht, dass irgendwas hinter mir in der Dunkelheit lauern könnte, aber das lass ich natürlich nicht durchblicken.

„Ganz schön gruselig hier, oder?“, murmelt er mir zu.
Ich zucke mit den Schultern. „Mhm. Ein bisschen.“
„Also alleine will ich hier ganz sicher nicht hoch laufen.“, gibt er ganz offen zu.
Ich muss innerlich grinsen, ein Kerl wie ein Baum, und fürchtet sich trotzdem vor dunklen Wäldern. Da habe ich mir ja einen ganz mutigen Beschützer gesucht.
„Wirklich kein reizvoller Gedanke.“, antworte ich verständnisvoll. „Aber was soll schon passieren? Wir sind doch ganz allein, mitten in diesem riesigen Wald, hier ist kein Mensch, niemand, der uns irgendetwas tun könnte.“
„Na Danke!“, lacht er „Sehr aufbauende Worte. Und auch niemand, der uns helfen könnte. Schon mal daran gedacht?“
„Warum sollte uns denn jemand helfen?“, kontere ich gespielt provozierend und zwinkere ihm zu.

Carolin vor uns läuft plötzlich ziemlich steif, ich bin mir sicher, dass sie unser Gespräch belauscht. Ich deute mit einer Kopfbewegung nach vorne, Noah begreift sofort und antwortet nun etwas lauter:
„Wir könnten von wilden Tieren angegriffen werden, oder irgendwelche Landstreicher, die durch die Wälder ziehen...“
„...-und nicht zu vergessen, die ruhelosen Seelen, die ganz sicher an diesem grausamen Ort noch ihr Unwesen treiben...“, ergänze ich.
Noah kichert unterdrückt, ich muss mir auch auf die Lippen beißen, verschwörerisch sehen wir uns an.

„Ihr seid so kindisch.“, kommt es von vorne. „Und das ist auch überhaupt kein bisschen witzig.“
Caro sagt das betont beiläufig und versucht dabei lässig zu wirken, schafft sie aber nicht und wir grunzen wie zwei kleine, übermütige Ferkelchen.
Zugegeben. Der Witz war flach und irgendwie auch niveaulos. Mich amüsiert es trotzdem.
Und mit Noah ist das irgendwie auch so einfach. Bei ihm habe ich überhaupt nicht das Bedürfnis mich beweisen zu müssen. Er nimmt mich so wie ich bin und erwartet gleichzeitig auch keine Aufreißer-Sprüche, gespielte Coolness oder weise Reden. Ganz angenehm, so zur Abwechslung.



Später sitzen wir Betreuer (ich fühle mich immer noch nicht recht wohl in dieser Rolle) im Gemeinschaftsraum, trinken Saft und erzählen ein bisschen belanglosen Kram. Die Kids sind alle wohlbehalten in ihren Federn gelandet, es gab kaum Theater – ich glaube wir waren damals doch aufmüpfiger, oder die Jugend von heute versteht es sehr geschickt, uns nach Strich und Faden zu verarschen. Jedenfalls haben Kai und Elsa nach ihrem letzten Kontrollgang keine Auffälligkeiten, wie umherhuschende Nachthemden, tippelnde Kinderfüße, oder verhaltenes Gekicher feststellen können.
Wir gehen also mal gutgläubig davon aus, dass die Konfirmanden brav in ihren Kissen liegen, nachdem sie artig ihr Gute-Nacht-Gebet aufgesagt haben.

Caro, Johann und Kai unterhalten sich gerade angeregt. Ich hab ehrlich gesagt keinen Schimmer worum es geht. Nachdem Johann irgendwelche Bibelverse rezitiert hat, habe ich sofort den Faden verloren. Jasmin und Elsa sitzen über den Vorbereitungen für den nächsten Tag. Ich will garnicht wissen, was uns erwartet. Deshalb habe ich auch einen großen Bogen um deren Tisch gemacht.
So sitze ich nun nach dem Ausschlussverfahren bei dem Einzigen, der noch übrig ist und habe mich in ein mehr oder weniger unangenehmes Gespräch verwickeln lassen.

„Was hast du jetzt vor, Anna?“, löchert mich der Pfarrersjunge zum gefühlten hundertsten Mal.
Er will tatsächlich über meine Zukunft reden. Ich habe ihm grob erzählt, was ich die letzten Jahre so getrieben habe. Zusammengefasst war nicht wirklich was Produktives dabei, bis natürlich auf die karriereunterstützenden Maßnahmen für meinen Super-DJ. Aber davon habe ich ja jetzt leider gar nichts mehr.
„Äh, ich weiß nicht genau.“, weiche ich immer wieder aus. „Erstmal Bewerbungen schreiben und so nen Kram.“
„Hast du dich denn schon irgendwo beworben?“ Er lässt nicht locker.
„Ja.“, antworte ich knapp und mit einem schlechten Gewissen. Das blöde Anschreiben liegt natürlich noch auf meinem Schreibtisch.
„Wo?“
Ich unterdrücke ein Stöhnen. „Bei H&M und so...“, weiche ich nuschelnd aus.

Noah zieht ungläubig die Augenbrauen zusammen und mustert mich prüfend.
„Willst du wirklich weiter nur Kleidung verkaufen?“, fragt er ernsthaft.
Ein kleines bisschen fühle ich mich dabei schon angegriffen. Seine Frage war keinesfalls herablassend, dennoch fasse ich sie so auf. Vielleicht auch deswegen, weil ich selbst nicht all zu stolz auf meine Berufswahl bin.
„Was ist daran so schlimm?“, gifte ich also etwas unwirsch zurück.
Sofort hebt Noah abwehrend die Hände und versucht entwaffnend zu lachen. Wirkt auch. Ich kann mich diesem Grinsen kaum entziehen.

„Findest du es denn schlimm?“, kontert er sofort.
„Weiß nicht.“, zucke ich mit den Schultern. Es entspricht natürlich nicht der Wahrheit. Ich weiß ganz genau:
Ich fühle mich herabgesetzt, etwas entwürdigt.
Ich habe damals ein recht passables Abitur gemacht und kann momentan, nach 4 Jahren, lediglich mit einer Ausbildung als Einzelhandelskauffrau ohne nennenswerte Berufserfahrung glänzen. Nicht viel besser als eine Hauptschülerin, der man eine Lehrstelle aufgedrückt hat und die nach den drei Pflichtjahren dann doch lieber den Lohn von Vater Staat fürs Nichtstun kassiert.
Doch ich bin nicht so ein Amtschmarotzer. Ich habe gearbeitet. Freiberuflich. Das hört sich zwar ganz toll an, macht meinen Lebenslauf aber auch nicht besser.
Und auch wenn ich wirklich gut darin war, für meinen Ex-Freund Auftritte zu besorgen, die ganze PR-Arbeit erfolgreich zu erledigen und mir das Fachwissen gleichzeitig quasi selbst beizubringen, so bringt mir das momentan absolut überhaupt nichts.
Es sind eben nur unprotokollierte Berufserfahrungen.

„Hast du dir vielleicht mal darüber Gedanken gemacht, etwas anderes zu lernen? Eventuell sogar zu studieren? Du bist doch noch jung...“, wagt Noah den Vorschuss.
Ich sehe ihn total entgeistert an
„Studieren?“, quieke ich. „Bist du irre?“
Er sieht allerdings nicht so aus. Er meint es todernst und guckt dabei gleich so motiviert. Total charmant. Seine grünen Augen blitzen aufgeregt.
„Warum nicht?“, grinst er. „Was hattest du für nen Abi-Durchschnitt?“
„2,2“, schießt es aus mir wie eine Kugel aus ner Pistole. Zugegeben, auf den Durchschnitt bin ich stolz wie Oskar und ich prahle auch ganz gern mit der Tatsache, dass ich das Große Latinum erworben habe. Sieben Jahre Latein, einmal Hölle und zurück – momentan könnt ich keinen Satz mehr übersetzen. Aber das muss ja niemand wissen.

„Wow.“, schwärmt er. Das geht runter wie Öl. „Rechne nur mal die Wartesemester an, die du bis jetzt hast. Scheiß auf Numerus Clausus, du kannst studieren was DU willst!“
Das klingt fast zu schön um wahr zu sein und ich könnte mich von seiner Euphorie glatt mitreißen lassen. Aber das wird mir grad zu viel. Zukunftsgedanken empfinde ich als äußerst schmerzhaft.
Ich kann das nicht. Noch nicht.
All meine Pläne, all meine Träume – sie hatten immer etwas mit Chris zu tun. Mir eine Zukunft ohne ihn vorzustellen ist so abartig in meinem Empfinden, dass ich mich nicht darauf konzentrieren will. Und es fällt mir grad auch verdammt schwer, mir diese Tatsache überhaupt einzugestehen.
Ich sehe nicht oft so klare Bilder.

Ich beiße mir auf die Lippen und lächle verhalten.
„Ich denk mal drüber nach.“, versuche ich ihn zurück auf den Teppich zu holen..
Noah nickt aufgeregt. „Ja! Mach das! Ich kann dir da auch stützend unter die Arme greifen, dir helfen. Ich geh ja selbst noch zur Uni.“
Ich runzle die Stirn. Eigentlich interessiert mich für gewöhnlich das Privatleben von langweiligen Kirchengängern nicht, zumindest bin ich nicht scharf drauf, von Jasmin oder Elsa die Lebensgeschichte zwangserzählt zu bekommen, doch bei Noah ist das irgendwie anders...

„Was hast du denn bis jetzt so getrieben, ich mein, nach dem Abi?“, frage ich deshalb.
Er schaut etwas verlegen. „Naja. Erst habe ich Theologie studiert. Zwei Jahre habe ich es durchgehalten, dann musste ich abbrechen.“
Irgendetwas in seinen Augen verändert sich bei der Erinnerung.
„Warum?“, frage ich stirnrunzelnd. Nicht, dass ich diesen Entschluss nicht nachvollziehen könnte. Aber irgendwie war ich immer der Meinung, Noah würde in Fußstapfen seines Vaters treten. Das dachten wir alle.
„Es war einfach nicht das, was ich wollte. Trockene Theorie, zu viel Latein-“, er zuckt unschuldig mit den Schultern, doch ich finde, die Argumente klingen irgendwie fadenscheinig.
„- und dann diese festgefahrene Schiene. Total unflexible Ansichten, der Lehrplan ist wahrscheinlich noch aus dem letzten Jahrhundert. Unmöglich diese alten Professoren etwas zu modernisieren. Das war einfach nicht mein Ding.“, gibt er vor. Ich weiß nicht so ganz, was ich davon halten soll.
„Und was studierst du stattdessen?“, frage ich.
„Lehramt.“, schmunzelt er stolz. „Musik und Sport.“

Nicht schlecht, denke ich. Ein Sportstudent. Und Musik. Mein Herz macht einen Hüpfer.
Seine zukünftigen Schülerinnen tun mir jetzt schon leid.
Und nach regelmäßiger, körperlicher Tüchtigung sieht er ja leider auch noch aus. Durchtrainiert und athletisch.
Dabei wirkt er nicht so schlaksig, wie manch anderer zu groß geratener Halbstarker. Nein, seine Bewegungen sind geschmeidig und gut koordiniert.

„Das wär doch toll, wenn wir zusammen studieren würden. Dann könnten wir uns wieder öfter sehen!“, strahlt er mich nun an und irgendwie um Ablenkung bemüht.
Irgendwo, ganz tief in mir drin, finde ich die Vorstellung echt angenehm.
Aber dieses merkwürdige Bild, welches sich dabei mir aufdrängt, verwirrt mich zutiefst.
Ich und Noah, über das Unigelände schlendernd, mit Büchern und so komischen Studententaschen bewaffnet, an einem lauen Sommertag.
Nein! Das bin nicht ich.
Ich bin nicht brav und ich hänge auch erst recht nicht mit dem artigen, langweiligen, wenn auch gut aussehenden, Pfarrerssohn rum. Dazu auch noch so strebermäßig als Studentin.
Das passt nicht zu mir.
Ich lebe in den Tag hinein, halte mich immer gerade so über Wasser. Und ich bin verdammt nochmal nicht so ne aufgeblasene Pseudo-Öko-Tussi.
Dann doch lieber hinter der Kasse von H&M. Bekomme ich wenigstens Rabatt aufs Sortiment.

Ich lächle nachsichtig. Hab ich mich doch glatt kurz hinreißen lassen.
„Na mal sehen.“, weiche ich aus. „Wo wohnst du jetzt überhaupt? Noch bei deinen Eltern?“
Gott sei Dank lässt er sich ablenken und schüttelt mit dem Kopf.
„Nein, ich teile mir eine Wohnung mit Kai und Elsa.“, dabei nickt er zu dem merkwürdigen Pärchen. „Eigentlich wollte ich ja nach Jena ziehen, zu meiner Uni, aber irgendwie hänge ich an Weimar und mit der Bahn ist es ja nur ein Katzensprung. Und wie sieht es bei dir aus?“
„Auch eine WG, die Typen kenne ich noch nicht so lange. Und ich hänge kein bisschen an dieser Stadt. Sie ist ein Dorf im Gegensatz zu Berlin.“, spotte ich und meine es auch so.
Da schmunzelt er. „Glaub ich dir. Ich war schon mehrmals in Berlin und muss sagen, ich bin jedes Mal erschlagen von unserer Hauptstadt...“

So schwadronieren wir noch eine Weile vor uns hin und bemerken nicht, wie die Zeit vergeht. Noah ist wirklich ein angenehmer Gesprächspartner, wenn er nicht gerade ungewollte Zukunftspläne für mich ausheckt, dann unterhält er mich auf eine lockere, ungezwungene Art und bringt mich tatsächlich auch hin und wieder zum lachen. Er meidet ganz elegant das Thema Chris. Sein Glück, vielleicht macht er das auch aus einer Intuition heraus, jedenfalls umkreisen wir ganz ungefährlich all das, was uns auf meinen Exfreund bringen könnte.

Es ist wirklich schön so halbwegs unbefangen mit jemanden zu reden. Als würden wir uns schon eine Ewigkeit lang kennen. Gut, das tun wir ja auch, aber nicht so. In der ganzen Schulzeit habe ich nicht so viele Worte mit ihm gewechselt, wie an dem heutigen Tag.
Und ich lerne ihn immer besser kennen. Zum Beispiel finde ich heraus, dass er neben dem Studium noch Gesangsunterricht nimmt. Daher weht also der Wind. Und er engagiert sich selbstverständlich noch immer in der Kirche. Bleibt ihm ja auch nichts anderes übrig, bei dem Vater.
Seine Eltern nehmen ihm die berufliche Umorientierung nicht übel. Wie sollten sie auch? Evangelische Glaubensvertreter sind schließlich äußerst tolerant, wobei ich mir dennoch lebhaft vorstellen kann, dass dieses großspurige Verständnis mehr Heuchelei ist, als Einsicht.
Wünscht sich nicht jeder Vater, dass das Erbgut in seine Fußstapfen tritt? Ein heidnischer Dachdecker kann wenigstens seinen Unmut über den missgeratenen Sprössling, der lieber Friseur werden will, laut und öffentlich bekunden. Ein Pfarrer dagegen beteuert Toleranz und gibt heimlich dem Teufel Schuld an dem Desaster.
Das sag ich Noah so lieber nicht.

Er erzählt mir von seinem keuschem Leben, den stinknormalen Freunden, dem mehr oder weniger gleichbleibenden Trott seines Alltags und ich versuche irgendwie aus ihm herauszukitzeln, ob da nicht ein kleiner Schatten, eine winzige Einzelheit ist, die diesen absolut vollkommenen Menschen zu etwas machen, was wenigstens eine Ecke oder Kante hat. Dabei denke ich an die mysteriöse Umorientierung seines Studiums.
Doch ich erfahre nichts, Noah lässt keinen Fehler durchblicken.
Und irgendwann finde ich das ganz schön öde.
Ja, mir wird klar: Noah ist zu perfekt.

Urks. Gibt es so etwas überhaupt? Ja, ganz eindeutig. Es sitzt momentan ziemlich lebendig vor mir, gestikuliert etwas wild und erzählt mir total begeistert von einem weniger spektakulären Urlaub, den er letztes Jahr mit seinen Kirchenkumpels in Schottland verbrachte.
Ich hätte an dieser Stelle wilde Stories über ausufernden Alkoholkonsum, zügellose Nächte in Stripbars und das ein oder andere Tächtelmächtel mit dem anderen Geschlecht erwartet.
Doch Noah war so artig. Er und seine müden Mönchsbrüder waren alte Kirchen besichtigen, tagelang in den Highlands wandern und haben sogar eine Radtour gemacht. Schau her.

Ich bin geflasht von so viel Anstand. Und irgendwie auch abgeschreckt. Und gleichzeitig kaufe ich ihm das so nicht ab.
Entweder er ist wirklich so ehrenhaft, wie er sich gibt, oder da lauert noch etwas unter der eintönigen Oberfläche. Ich würde es mir fast wünschen.


Später liege ich in meinem Bett. So nüchtern war ich an einem Freitagabend schon lange nicht mehr. Eigentlich bin ich ja nicht der Typ, der besonders gern und viel Alkohol konsumiert, aber die letzten Wochen hat das echt geholfen. Mich vergessen lassen. Und ich weiß auch, wie gefährlich das sein kann. Gedanklich vermerke ich, dass ich Caro dafür danken sollte, mich hinterrücks hier her geschleppt zu haben. Meine Leber verneigt sich an dieser Stelle auch huldvoll.

Ich teile mir das Zimmer mit Jasmin. Erst war ja geplant, dass Caro bei mir schläft, doch es erschien mir irgendwie albern. Den Erziehern stehen vier Schlafzimmer mit jeweils zwei Betten zur Verfügung. Warum sollten die Pärchen getrennt voneinander schlafen, wo doch genug Platz ist?
Noah hat jetzt also ein luxuriöses Einzelzimmer und wird da ganz sicher mit den Händen über der Bettdecke absolut sittsam in das Land seiner ebenso anständigen Träume entschlummern.
Elsa und Kai haben ziemlich dankbar und gleichzeitig ein wenig aufgeregt gegrinst und sind schnell in ihre Betten gehuscht. Caro hat mich lieb angelächelt und ihren Johann bei der Hand genommen. Ich weiß nicht, ob ich mir bildlich vorstellen soll, was die beiden jetzt im Augenblick treiben, so frisch verlobt – Nein! Ich will es nicht. Schon bei Johanns dürren Ärmchen schubbert es mich. Jasmin will da wahrscheinlich auch nicht dran denken, wenn auch aus anderen Motiven heraus als ich. Sie hat sich ohne zu Murren ihrem Schicksal ergeben, liegt jetzt neben mir und blättert in einem Buch mit dem unheilvollen Titel „Jesus liebt mich“.

Und ich versuche mir trotz allem nicht vorzustellen, was ein paar hundert Kilometer weiter gerade so von Statten geht.
Zugegeben. Noah hat mich mit seinem hypnotisierendem Singsang und seinem netten, vollkommen korrektem Gespräch, relativ gut abgelenkt. Und die schier endlose Suche nach einem kleinem Fehler in seinem astreinen Erscheinungsbild hat mich auch kurzzeitig vergessen lassen, dass ich eigentlich garnicht hier sein möchte und in Wirklichkeit doch tausend Mal lieber ganz woanders wäre. Doch nun, so halbwegs allein und stocknüchtern, da verselbstständigen sich die Gedanken.

Es ist kurz nach Zwölf. Chris legt seit einigen Minuten auf. Er hat natürlich die beste Playtime überhaupt bekommen. Er ist ja auch der Beste.
Ich kann ihn mir so lebhaft vorstellen, dass sich mein Brustkorb vor Schmerz zusammenzieht.
Die Kopfhörer, ein schwarzes Shirt. Er hat so viele davon. Die Farbe steht ihm einfach.
Der konzentrierte Ausdruck, wenn er er an der Korg herumdrückt. Das zufriedene Grinsen, wenn er ein Sample einspielt, dass die Menge zum ausflippen bringt. Und diese Lässigkeit, mit der er sich bewegt und gleichzeitig seine eigene Musik genießt.
Ich will wieder da sein. Mitten zwischen den ganzen Feiernden, ein Teil von ihnen und trotzdem wissend, dass der Typ, den sie da alle zusammen anhimmeln, am Ende meiner ist.
Ich war immer auf der Tanzfläche. Ich liebte es, zu seiner Musik zu tanzen, richtig auszurasten. Und Chris liebte es mich zu beobachten, wenn er hinter dem Pult stand.
Das war unser Deal. Ich tanze, er spielt.

„Alles in Ordnung?“, fragt mich Jasmin vom anderen Bett aus.
Wahrscheinlich habe ich zu laut geseufzt, passiert mir öfter. Ich sehe zu ihr, sie hat demonstrativ das Buch zugeklappt und sieht mich nun interessiert an. Mit ihrem Baumwollnachthemd und den offenen, blonden Locken, erinnert sie mich an Wendy aus Peter Pan. Als würde sie gerade darauf warten, dass der verlorene Junge sie abholt und mit nach Nimmerland nimmt. So unschuldig. Und doch so biestig. Obwohl ich meinen ersten Eindruck gründlich revidieren muss. Bis jetzt hat sie sich doch ganz anständig verhalten, wenn auch reserviert und etwas verwundert, gegenüber meiner Erscheinung. Als würde ich nicht so recht in ihr Weltbild passen.
„Ja klar.“, sage ich gelangweilt.
„Du siehst so traurig aus.“, stellt sie fest.
Na super. Sieht man mir meinen geistigen Zustand mittlerweile an? Das konnte ich doch sonst so gut überspielen!
„Quatsch!“, quetsche ich hervor und sehe obligatorisch von ihr weg.
Sie ist dann doch die Letzte, der ich meine katastrophal traurige Geschichte erzählen würde.

„Hast du über Noah nachgedacht?“, fragt sie mich und ich stutze.
„Noah?“, brumme ich. Wieso sollte ich denn ihrer Meinung nach ausgerechnet über ihn nachdenken? Und dabei auch noch traurig gucken? Gehts?
„Naja“, sagt sie etwas pikiert. „Schließlich habt ihr euch ja vorhin ziemlich eindringlich unterhalten. Ich dachte das sei dir Nahe gegangen.“

Nun richte ich mich auf und blicke sie total verstört an.
„Von was redest du da bitte?“
Sie zieht die Augenbrauen hoch und macht ein Gesicht, als hielte sie mich für besonders begriffsstutzig. „Kathrin?“
Ein Name. Wie einen Brocken schmeißt sie mir ihn vor die Füße. Ich habe keinen blassen Schimmer wer Kathrin ist. Wahrscheinlich sieht mir das Jasmin an, denn sie schlussfolgert ganz richtig:
„Oh nein! Du hast keine Ahnung wer Kathrin ist, oder?“
Ich zucke mit den Schultern. „Noch nie gehört.“
„Aber...-“, sie wirkt etwas sprachlos. „..- aber ich dachte, ihr kennt euch, du und Noah. Carolin hat erzählt, ihr hättet zusammen Abitur gemacht?“
„Das stimmt so auch.“, gestehe ich vorsichtig, lauernd auf das, was sie mir sicher gleich erzählen wird. Kathrin? Ist sie die erste Kante im Leben des ach-so-piekfein-anständigen Noah?

„Na dann musst du doch die ganze Geschichte mit Kathrin kennen!“, kräht sie mich etwas vorwurfsvoll an.
„Ich bin direkt nach dem Abi hier weg. Zu Noah hatte ich keinen Kontakt. Sorry, ich kenne keine Kathrin und auch keine Geschichte dazu.“, entgegne ich beschwichtigend.
Jasmin nickt verständnisvoll. Sagt aber auch weiter nichts.
Und ich will jetzt natürlich wissen, wer Kathrin war und wie dieses Mädchen eventuell die waschmitellweiße Weste von Mr. Perfect beschmutzt haben könnte. Ich würde mich jetzt nicht unbedingt als sensationsgeil oder tratschsüchtig beschreiben. Normalerweise wäre es mir völlig gleich, was da passiert sein muss. Doch Noah hat irgendein ungesundes Interesse in mir geweckt und die Tatsache, dass er mir vorhin von seinen langweiligen letzten Lebensjahren erzählt hat und dabei nicht einmal dieser ominöse Namen gefallen ist, macht mich einfach neugierig.

Doch Jasmin scheint nicht wirklich ambitioniert, mir davon zu erzählen. Ihre kleine, zierliche Nase steckt schon wieder in dem Schinken mit dem gruseligen Titel.
„Und-“, wage ich einen Vorstoß, „-was war da nun mit dieser Kathrin?“
Meine Zimmergenossin beißt sich kurz nachdenklich auf die Lippen, dann blickt sie von ihrem Buch auf.
„Ich weiß nicht...“, zögert sie „Vielleicht ist es besser, wenn er dir das selber erzählt. Außerdem möchte ich dir nicht die Nacht mit schrecklichen Geschichten vermiesen.“

Das meint sie tatsächlich vollkommen ernst und ohne eine Spur von Sarkasmus.
Und ich brenne vor Neugierde! Schreckliche Geschichte? Was ist denn da passiert? Verdammt!

Aber ich bin dann doch zu stolz, um bei Jasmin nach Informationen zu betteln. Und um ehrlich zu sein, fände ich es anders herum auch irgendwie ziemlich beschissen, wenn Caro beispielsweise einfach Noah erzählen würde, warum zwischen mir und Chris Schluss ist. Wobei das für sie in der Realität gesehen nicht möglich ist.
Caro weiß nicht, was da bei uns passiert ist. Niemand weiß es, bis auf Chris natürlich.
Und das ist auch gut so.


Der nächste Morgen ist zum Kotzen. So wie jeder Morgen.
Ich, als ausgewachsene Morgenmuffelikeit, habe prinzipiell ein Problem mit trötenden Weckern und viel zu gut gelaunten Menschen, die mir ständig ihre Fröhlichkeit aufdrücken wollen.
So auch Caro. Der begegne ich ausgerechnet im Waschraum.
Eigentlich bin ich noch garnicht richtig wach.

„Guten Morgen!“, flötet sie und ich verziehe das Gesicht. „Gut geschlafen?“
Zur Antwort brumme ich etwas unverständliches, dann blicke ich in den Spiegel und meine Laune sinkt auf einer imaginären, farblich codierten Skala von grau auf tiefschwarz.
Ich sehe so beschissen aus. Ungeschminkt und verschlafen. Hässliche Augenringe und der Ansatz meiner Haare ist auch schon leicht fettend.
Sofort verschwinde ich unter die Dusche. Caro ruft nur: „Ich geh dann schon mal!“ und ich brauch sie nicht mal ansehen, um zu wissen, dass sie über meine morgendliche Übellaunigkeit amüsiert grinst. Ich hasse sie gerade.

Das heiße Wasser prickelt über meinen entblößten Körper und irgendwie werde ich langsam munter. Das Kirschshampoo erweckt dann auch meine Lebensgeister und ich gehe über in einen Zustand, der zwar immer noch die ganze Welt beschissen findet, sich aber eingestehen muss, dass der Geruch nach Kirschen einfach der Beste ist. Ja, das ist er wohl. Seit Jahren benutze ich für Haut und Haar nur diese Duftrichtung und nach langem Suchen habe ich sogar ein Parfüm entdeckt, dass exakt nach süßen, reifen Kirschen duftet.

„Und hast du gesehen, wie sie ihn gestern angehimmelt hat?“, erklingt eine empörte Stimme.
Mich reißt der Klang aus meinen Lobpreisungen für Kirschgeruch, weil mir klar wird, dass ich diese Tonart schon mal im exakt gleichem Umfeld vernommen habe.
Das ist doch eine von den Konfirmandinnen, die so auf Noah steht.

„Ja. Total offensichtlich. Als würde er auf SO eine hereinfallen. Die sieht doch aus wie eine Hure. Mit ihren Tattoos...“, klingt es abfällig eine Duschkabine weiter.
Ich schnappe nach Luft. Das diese Verunglimpfung gegen mich geht, kann ich nun leider nicht mehr abstreiten. Ich bin wohl die Einzige in einem Umkreis von zwanzig Kilometern, die tätowiert ist.
Verflucht. Ich lausche unauffällig weiter.

„Von wegen, sie würde uns helfen. Die will Noah doch für sich haben!“, schimpft es schnatternd.
„Was hat die denn auf einmal hier verloren?“, fragt es schnaubend.
„So eine Nutte!“, wettert es und ich bin fast ein bisschen baff.

Mal davon abgesehen, dass ich nichts weiter als ein rein freundschaftliches Interesse an Noah habe, finde ich es fast schon amüsant, wie aus den unscheinbaren Mäuschen keifende Kleinfurien werden.
Ich bin es gewohnt, dass hinter meinen Rücken gelästert wird und ich konnte mir selbstverständlich denken, dass mein Erscheinungsbild in einem Bibelkreis nicht unbedingt wohlwollend wahrgenommen wird. Aber dass mich zwei Bigamistinnen mit einem ungesunden Geschmack für ältere Männer so aufs Korn nehmen, dass finde ich dann doch etwas unfair.
Besonders da sie mir unterstellen, ich würde Noah anhimmeln!
Gut. Rückblickend habe ich vielleicht doch ein klein wenig gesabbert, als er mit seinem Singsang kleine Stromstöße in mein Herz aussandte, doch das war doch nur wegen seiner traumhaften Stimme. Und nicht, weil ich mich Knall auf Fall haltlos in ihn verliebe.

Ich schnaufe aufgebracht.
Drehe den Duschhan zu, schnappe mir mein Handtuch und tapse aus der Kabine.
Außer mir und den Lästerschwestern ist keiner weiter hier. Ich bin echt am überlegen, ob ich hier lauernd stehen bleiben soll, um den kleinen, fiesen Monstern mit einem wissenden Grinsen zu begegnen, wenn sie aus ihrer Kabine kommen.
Doch dann entschließe ich mich dagegen. Mit meiner Übellaunigkeit, die noch viel zu tief unter meiner frisch geduschten Haut sitzt, würde ich wahrscheinlich ausfallend werden und auch wenn dieses Wänster selbst nen ziemlich loses Mundwerk haben, so muss ich ihnen mit meiner Berliner Gossensprache ja nicht unbedingt den Tag versauen.

Also trotte ich etwas ungläubig in mein Handtuch gewickelt und mit tropfnassem Haar auf den Flur.
Ich muss nur ein kleines Stück über den Gang, deshalb habe ich darauf verzichtet, mir die Klamotten mit ins Bad zu nehmen. Und auch wenn das Handtuch verboten knapp meinen Körper umhüllt, so denke ich, werde ich sicher eh niemandem begegnen – und falls doch – etwas Risiko erhöht ja bekanntlich immer den Spaßfaktor. Und den habe ich auch bitter nötig.

Und den bekomme ich auch sofort geliefert.
Ich renne prompt in Noahs verschlafene Gestalt.
Irgendwie haben wir uns beide wohl nicht gesehen und sind in diesem dämmrigen Licht und den halbwachen Zustand ineinander gerannt.
Halb so wild, mag man denken. Doch Noah ist wohl auch so ein risikoliebender Mensch wie ich.
Verflucht. Er trägt nur eine Unterhose und ich hänge direkt mit dem Kinn an seiner muskulösen Brust.

„Verzeihung.“, murmle ich peinlich berührt und blicke zu ihm hoch.
Die braunen Locken hängen ihm komplett durcheinander ins Gesicht und seine sonst so selbstsicheren Augen wandern ziemlich geschockt an meinem Outfit hinab.
Er scheint ebenso sprachlos, wie ich. Ohne ein weiteres Wort schiebt er mich zur Seite, blickt noch einmal auf meine Erscheinung, als müsse er sich vergewissern, dass er nicht noch träumt, dann entschwindet er auffällig schnell dem Männerwaschraum.
Ich bleibe perplex zurück und erwische zu meiner Schande noch einen sehr appetitlichen Blick auf einen wohlgeformten Knackarsch in hautengen Shorts.
Vielleicht sollte ich doch nochmal zu den Waschräumen. Und kalt duschen!





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