Wie eine einzige Sommernacht - Teil 10

Autor: NoNo
veröffentlicht am: 05.09.2014


Kapitel 10

Joschka

„Die sieht wirklich nicht schlecht aus!“ Ich drehe mich um und unterdrücke ein absolut unangebrachtes Pfeifen. Ich weiß, dass Frauen auf sowas nicht stehen, auch wenn es am besten ausdrückt, was ich in diesem Moment denke: Himmel, ist die scharf!
Anscheinend hat die schöne Unbekannte meinen Blick bemerkt, denn sie dreht sich über die Schulter zu mir um und lächelt mir zu. Mir klappt die Kinnlade herunter. Doch da ist sie auch schon in der Menge verschwunden und auch ich werde von meinen Freunden weiter durch halb Venedig gezerrt. Die Mädels haben sich, wie so oft, durchgesetzt und uns vier Jungs mit zum shoppen geschleppt. Chris hat sich von Frieda natürlich weichklopfen lassen, Immanuel ist es egal und Timo geht insgeheim noch lieber shoppen, als Emmi. Natürlich würde er das nie zugeben.
Es ist unser letzter Tag in Venedig. Danach fahren wir weiter bis nach Ancona, wo wir um 12 Uhr die Fähre nach Patras nehmen. Damit wären wir dann auch in Griechenland angekommen.
„Sie hat dich angelächelt!“ Frieda stupst mir in die Seite und zwinkert mir verschwörerisch zu. Ihre braunen Augen blitzen und kurz sieht sie ein wenig kindlich aus.
Doch nur einen Moment später ist sie wieder der Hippie, den wir kennen; mit leuchtenden Federn an den Ohren, bunten Strähnen in den Haaren und total verrückte Klamotten – natürlich auch alles bunt.
„Ich sehe eben einfach gut aus“ erwidere ich mit einem selbstgefälligen Lächeln. Frieda verdreht die Augen und lacht und ich weiß, dass sie den Scherz verstanden hat. Ich bin kein arroganter Mensch.
„Was ist eigentlich bei dir los? Ich meine, seit Mariella…“ Chris dreht sich zu mir um und beendet seinen Satz nicht. Ich weiß auch so, was er mich fragen will. Seit Mariella hatte ich keine feste Beziehung mehr und ich habe auch lange gebraucht, um über sie und den Schmerz, den sie mir zugefügt hat, hinwegzukommen.
Ich zucke mit den Schultern. „Ich weiß nicht“
„Wie du weißt nicht?“ mischt sich jetzt auch Timo ein, während wir vor einem Schuhgeschäft stehen bleiben. Emmi schaut sich ein paar reduzierte Schuhe an, die auf Regalen vor dem Geschäft stehen, bevor sie mit dem Ausruf: „Ich liebe italienische Schuhe!“ in den Laden förmlich hineinrennt.
Immanuel seufzt ein wenig genervt, folgt ihr aber dennoch in den Laden, ohne, dass sie ihn gefragt hat, ob er mitkommt. Kurz bin ich verwirrt, denn Immanuel liegt nichts am shoppen und schon gar nichts an italienischen Frauenschuhen in Größe 38. Trotzdem folgt er Emmi.
„Ähm…“ Ich brauche kurz, um mich wieder an Timos Frage zu erinnern. „Na ja, ich… Es hat nicht nochmal gefunkt“ Ich zucke erneut hilflos mit den Schultern.
„Aber da gab’s doch mal eine… Ich habe leider ihren Namen vergessen“ meint Frieda und zieht nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Manchmal verfluche ich ihr Elefantengedächtnis. Man erwähnt kurz und wirklich nur ganz beiläufig eine Frau und Frieda weiß es sechs Wochen später immer noch. Bestimmt vergisst sie niemals eine Unterhaltung.
„Also ist da doch jemand!“ Chris grinst verschmitzt und boxt mir leicht gegen die Schulter.
„Clara!“ ruft Frieda jetzt aus. Anscheinend ist ihr der Name wieder eingefallen. Ich nicke ertappt und zucke wieder mit den Schultern. „Es ist einfach der falsche Zeitpunkt“ sage ich leise.
„Der falsche Zeitpunkt für was?“ Emmi kommt aus dem Laden heraus, mit einem gigantischen Sonnenhut auf dem Kopf, an dessen linker Seite eine altrosa Schleife im Wind flattert. Auf der rechten Seite hängt noch das Etikett. Wir alle schauen sie verwundert an.
„Ich dachte, das ist ein Schuhladen“ bemerkt Timo verwirrt.
„Aber da gibt’s auch Hüte!“ antwortet Emmi stolz und dreht sich einmal im Kreis. In der einen Hand hält sie wieder ihre Ballerinas. Emmi läuft fast überall barfuß.
„Du kostest noch“ meint Immi trocken und Emmi dreht sich fragend zu ihm um.
„Was?“ fragt sie irritiert, während er ihr den Hut absetzt und mit einer schnellen Bewegung das Preisschild abreißt. Emmi errötet und nimmt mit gesenktem Kopf den Hut wieder entgegen. Manchmal ist sie wirklich noch ein kleines Mädchen.
„Das ist niemals ein Hut“ Chris stellt sich vor sie und begutachtet den Sonnenhut. „Das ist ein halber Regenschirm!“
Frieda lacht lauthals los und Emmi setzt ihre arrogant-trotzige Miene auf: „Ihr habt keine Ahnung von Mode!“ Mit diesen Worten nimmt sie ihre Kamera, fotografiert Chris, der immer noch vor ihr steht, im Detail und stolziert an uns vorbei. Ich kann mir mein Schmunzeln nicht verkneifen. „Ihr habt die Dame gehört. Wir sind alle Banausen, was Mode angeht!“
Alle müssen lachen, auch Emmi, welche ihre Bemerkung bestimmt nicht ganz so ernst gemeint hat.
Insgeheim bin ich Emmi dankbar, dass sie ungewollt von einem Thema abgelenkt hat, auf das ich mit meinen Freunden noch nicht weiter eingehen will. Ich muss es ihnen noch früh genug sagen. Ich muss ihnen noch früh genug sagen, dass ich nicht mehr lange in Heidelberg studieren werde. Ich muss ihnen noch früh genug sagen, dass ich mich deshalb auf keine feste Beziehung einlasse. Anfangs hatte es noch mit Mariella zu tun. Mittlerweile ist der Grund ein anderer.
Warum müssen wir so schnell erwachsen werden?

Die Sonne geht langsam unter. Wir sitzen auf der Kaimauer am Hafen Venedigs und schauen alle auf das Meer. Alle gemeinsam. Alle zusammen. Wie früher. Keiner von uns sagt ein Wort. Das ist das Schöne an guten Freunden: Man kann sogar mit ihnen schweigen.
Mir schwirren vielen Gedanken im Kopf herum. Ich denke an Clara; an dieses super tolle Mädchen mit der zierlichen Figur, den blonden Locken und der kleinen Stupsnase. Als ich sie das erste Mal sah, wusste ich, dass ich sie kennen lernen muss. Und ich wusste, ich würde mich unsterblich in sie verlieben. Doch manchmal ist das Timing im Leben ein Arschloch.
Innerlich seufze ich auf und schaue meine fünf besten Freunde von der Seite an. Ich sehe nur ihre Profile. Jeder schaut auf die Weite des Meeres und ist in seinen eigenen Gedanken versunken.
Ich habe ihnen noch nicht gesagt, dass ich in ein paar Wochen Deutschland für ein Jahr verlassen werde. Sie wissen noch nicht, dass ich für ein Jahr ans andere Ende der Welt gehe.
Ich habe von meiner Uni aus das Angebot bekommen, zwei Semester in China zu studieren; mein Englisch zu verbessern und Auslandserfahrungen zu sammeln. Für mich ist das eine riesige Chance, die ich auf jeden Fall ergreifen muss und auch will. Auch wenn das für mich heißt, meine Freunde ein Jahr lang zu verlassen und auf das Mädchen zu verzichten, in das ich mich erst vor kurzem verliebt habe.
Ich sagte ja schon, das Timing im Leben kann manchmal wirklich ein Arschloch sein.
Wieder blicke ich zu meinen Freunden und will mir ihre Gesichter gar nicht ausmalen, wenn ich ihnen erzähle, dass ich weggehen werde.
„Was ist mit dir los?“ fragt Emmi leise, welche zwischen Immanuel und mir sitzt. Sie baumelt mit den Beinen, während sie ihren neuen Hut auf dem Schoß festhält.
„Nichts? Was soll los sein?“
„Du schaust so… melancholisch“ Sie zuckt mit den Schultern und schaut mir prüfend in die Augen.
„Was? Das ist doch normalerweise dein Job!“ Ich versuche die Situation mit einem blöden Witz zu überspielen. Doch Emmi lacht nicht. Ich kann ihren Blick nicht missverstehen: Sag mir die Wahrheit, Joschi!
Ich kann ihnen die Wahrheit nicht sagen. Als winke ich nur ab und sage: „Lass gut sein, Emmi. Es ist alles okay bei mir“
Sie nickt nur und wendet sich wieder ab und schweigt.
„Könnt ihr euch noch an unsere Klassenfahrt nach Neapel erinnern?“ fragt Timo plötzlich.
Überrascht schaue ich ihn an. Ich frage mich, wie er jetzt darauf kommt. Außer ans Feiern, die hübschen Mädchen und das vor Zorn gerötete Gesicht unseres Lehrers, kann ich mich an gar nichts mehr erinnern. Ich werfe ihm einen fragenden Blick zu.
„Ich kann mich nur noch an viel Alkohol erinnern“ bemerkt Frieda trocken und legt ihren Kopf auf Chris‘ Schulter ab.
„Wir saßen jeden morgen verkatert zusammen am Strand. Stundenlang, bis es mit dem Programm losging. Wir haben nur geschwiegen. Niemand konnte ein Wort sagen, weil jede Stimme für den Kater zu laut war“ erklärt Timo.
Und auch jetzt erinnere ich mich an die vielen Morgen, die wir zusammen am Strand saßen. Mit tiefen Ringen unter den Augen, leichter Alkoholfahne und Kopfschmerzen.
„Mir war immer so kalt. Jeden morgen“ Emmi lächelt leicht und schaut dann dankend zu Immanuel. Sie trug jeden Morgen einen Pulli von ihm, da sonst ihre Zähne aufeinandergeschlagen wären, so kalt war ihr. Dabei waren wir in Neapel und das im Juni. Niemand außer Emmi hatte gefroren.
Immanuel wirft ihr einen liebevollen Blick zu und streicht ihr kurz über das Haar. Solchen Gesten bringt er Emmi gegenüber oft und vorher habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, doch in diesem Moment verwundert mich sein Verhalten. Ob er sich in sie verliebt hat?
Schnell verwerfe ich diesen Gedanken wieder. Immanuel und Emmi - niemals! Außerdem bin ich viel zu beschäftigt mit meinen eigenen Problemen: Clara, China, ein Jahr fort aus Deutschland und dem blöden Timing. Als seufze ich nur leise und sage: „Neapel war eine schöne Zeit.“






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