Der Geiger von Dunrobin Castle Teil 13

Autor: Kati
veröffentlicht am: 17.05.2008




Ein paar Minuten später, beiden kam es wie eine kleine Ewigkeit vor, blickten sie sich an. Basti brachte kein Wort über die Lippen und auch Anni hüllte sich in Schweigen. Plötzlich machte ein greller Blitz die Nacht zum Tag und sie beschlossen schließlich, dass es wohl besser war, wenn sie wieder rein gingen. Nachdem Basti die Balkontür geschlossen und beide sich abgetrocknet hatten, nahmen sie auf seinem Bett Platz. Von den Fluren hallte nur das Dröhnen des Donners wider und der Regen, der auf das Dach des Schlosses peitschte, ließ ein leises Rauschen entstehen.
'Das war schön.' presste Anni nach einiger Zeit aus sich heraus.
Zaghaft nickte er ihr entgegen.
'Fandest du das nicht auch?'
'D-doch, schon.'
'Das klingt aber nicht sehr überzeugt.' stellte Anni mit einem leicht spitzen Ton fest.
'Ich muss jetzt erst mal klar kommen, Anni. Bei mir dreht sich gerade alles.'
Basti ließ sich sanft auf sein Bett fallen und blickte an die Decke. Anni tat es ihm gleich und legte sich neben ihn.
'Gerne wieder, Basti.' durchbrach ihre zarte Stimme die Ruhe.
Kurz blickte er zu ihr herüber und schluckte, als hätte er Stacheldraht im Mund.
'Vielleicht sollten wir das nicht wieder machen.'
'Was?!' Sie sprang von seinem Bett, stützte ihre Hände in die Taille und blickte ihn kritisch an.
'Warum nicht?!'
'Das war nicht gut. Also ich meine, es war sehr gut, aber... Also ich glaube, dass es nicht gut ist, dass es so gut war.'
'Was ist?'
Sein wirres Gerede wollte nicht so recht Sinn annehmen und Anni tobte schon fast.
'Ich habe Angst...' murmelte er in sein Kissen und begrub sein Gesicht darin.
'Angst?' wiederholte Anni ungläubig. 'Wovor?'
'...'
Bast, sieh mich bitte an. Wenn du in dein Kissen redest, verstehe ich dich nicht.'
'Ich habe Angst mich neu zu verlieben. So!'
Wieder schmiss Basti sein Gesicht in sein Kissen und lauschte angestrengt, was Anni hinter ihm wohl machte. Langsam sank die Matratze neben ihm ein und ließ ihn erahnen, dass sie sich neben ihn gesetzt hatte.
'Warum denn Angst?'
Zärtlich strich sie ihm über den Rücken, sodass sich eine kaum erkennbare Gänsehaut bei ihm bildete.
'Weiß nicht.' murmelte er gepresst in sein Kissen. 'Ist eben so.'
'Aber warum? Ich verstehe das nicht...'
'Ich bin nun mal nicht der Typ Mann, mit dem du etwas anfangen kannst. Ich bin eben ein Freak, weißt du?'
'Wenn du dich selbst gern als Freak betitelst bitte, dann bist du aber ein Freak, den ich sehr gern habe.'
Kurz schluckte er schwer und blickte sie wieder an.
'Menschen ändern sich Basti. Das weißt du doch selbst am Besten. Überleg doch mal, was du für eine Persönlichkeit warst, als du hier neu an die Schule gekommen bist! Das ist gerade mal eine knappe Woche her und schon blühst du richtig auf!'
Gespannt lauschte er Anni´s Worten und drehte sich langsam zu ihr. Ja, sie hatte Recht, mit dem, was sie sagte. Doch wollte er wirklich zu so einem Menschen werden, der sich durch andere in eine Rolle pressen ließ? Eigentlich nicht. Es war schließlich schon schlimm genug, dass sein Stiefvater ihm verbot, das zu tun, was er liebte. Nämlich die Musik. Sein Musikstudium hatte er schon lange als einen schönen Traum abgetan. Doch jetzt wollte ihm jemand an die Materie. Sollte er das wirklich zulassen? Er mochte Anni, ganz klar, doch waren die Gefühle bereits so stark, dass er für sie alles aufopfern würde, für was er bis zu jenem Tag gekämpft hatte?
'Darf ich heute wieder bei dir schlafen?'
'S-sicher.' entfuhr es ihm.
Bereitwillig schlug er seine Bettdecke zurück und Anni kroch zu ihm, um sich an seine Brust zu schmiegen.
'Irgendetwas gibt es bei dir, das weiß ich. Da ist etwas, dass du mir noch nicht erzählt hast.'Anni blickte ihn prüfend an.
'Habe ich Recht?'
Zaghaft nickte er ihr zu.
'Ich will es nicht aus dir heraus quetschen. Aber ich möchte, dass du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst, wenn du darüber reden willst. Ich hab dich lieb, Basti.'
Sie drückte ihm noch einen sanften Kuss auf die Wange und ließ ihren Kopf in das Kissen sinken. Der Regen peitschte weiter unaufhörlich gegen die Fensterscheiben und ein Blitz nach dem anderen erhellte den trüben Nachthimmel.
'Es ist wegen meinem Stiefvater...' begann Basti nach einer Weile schließlich. 'Er hasst mich.'
'Wie kommst du denn darauf?'
'Das spüre ich. Die Art, wie er mit mir umspringt und egal, was ich auch mache und wie gut ich in manchen Sachen bin, er findet immer etwas, dass er an mir bemängeln kann. Er macht mich bei meiner Mutter schlecht und hat es schließlich sogar geschafft, sie dazu zu überreden mich auf diese Schule hier zu schicken.'
'Bist du dir sicher? Ich meine, manchmal missverstehe ich meine Eltern auch...'
'Nein, ich bin mir so sicher, wie nur irgend möglich. Er hasst mich. Und deswegen möchte ich auch nicht, dass er zur Schule kommt, um nach mir zu sehen. Weil es ihn nicht interessiert, wie es mir geht, sondern weil er mich leiden sehen will.'
'Bist du dir da wirklich sicher? Ich meine, vielleicht mag er dich nicht so, wie du es dir wünschst?'
'Ich weiß es nicht. Lass uns das Thema für heute beenden, ja? Ich bin müde und möchte schlafen.'
'Also gut.'
Basti schloss seine Augen und Anni blickte auf seine Wimpern, die ruhig auf seinen Wangen lagen.
'Schläfst du schon?' fragte sie nach ein paar Minuten.
'Nein.' kam es gepresst zurück.
'Und jetzt? Schläfst du jetzt?'
'Nein!'
'Und jetzt?'
'Anni! Was willst du?!' Basti öffnete seine Augen und blickte sie bockig an.
'Du hast mir keine gute Nacht gewünscht. Außerdem stürmt es draußen und ich liege hier, wie ein Hund...'
Basti schnürte ihr das Wort ab, indem er sie packte und an seine Brust drückte.'Schlaf schön, Kleines. Ich hab dich lieb.'
Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, war er auch schon eingeschlafen. Anni blickte ihn ratlos an. Wie konnte er ausgerechnet jetzt einschlafen? Zaghaft stupste sie ihn an, doch er zeigte keine Reaktion.
'Schläfst du?'
Kurz schnorchelte Basti auf und drehte sich schließlich von ihr weg.
'Eingeschlafen!' ging es Anni durch den Kopf und sie setzte sich wieder auf. 'Das ist kein Stück romantisch!'
Sie warf ihr Stück Decke zurück und stand wieder auf. Vorsichtig knipste sie die Schreibtischlampe an und nahm auf Basti´s Stuhl Platz. Nachdem sie sich endlos lange immer im Kreis gedreht hatte, zog sie schließlich eine der Schubladen auf und entdeckte ein Buch, welches in schwarzes Leder eingebunden war. Vorsichtig kramte sie es aus der Schublade und schlug es auf.
'Sein Tagebuch!' entfuhr es ihr leise, aber spürbar entsetzt.
Lange rang sie mit sich und war kurz davor es wieder an seinen Platz zu legen, doch dann überkam sie die Neugier und sie begann die ersten Zeilen zu lesen.

'Liebes Tagebuch!
Heute ist es wieder so weit. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Um mich herum zieht sich wieder diese dicke, schwarze Wolke zu und nimmt mir jede Luft zum Atmen. Wie ich es hasse, dieses Gefühl von Ohnmacht, der Tatsache, dass ich mal wieder nichts dagegen tun kann. So sehr ich auch nachdenke, mein Hirn spuckt einfach keine Lösungsvorschläge aus. Ich werde heute mal wieder den ganzen Abend zu Hause bleiben, während andere Leute wesentlich bessere Dinge zu tun haben. Eigentlich hätte ich das auch, fragt sich nur, was? Momentan ist mein Kopf leer, leerer denn je und das macht mir Angst, denn es gibt mir Anlass dazu, über Sachen nach zu denken, wovon andere nicht mal wissen, dass sie existieren. Heute ist es besonders schlimm, weil ich schon seit einer guten Stunde ganz unten bin und einfach nicht weiß, warum. Das Wetter entspricht nicht dem, was ich mir unter Ende März vorstelle, es schneit und es ist kalt und obwohl ich die Heizung an habe und ich nicht frieren dürfte, friere ich. Ich weiß nicht, ob mein Stiefvater Norbert im Nebenzimmer ist oder ob er wieder mal weg ist. Eigentlich ist es mir auch egal, denn wenn er da ist, geht er mir eh nur auf die Nerven. Die Vorstellung, dass ich bald in ein Internat muss, in dem ich dann auch leben werde, betrachte ich mit gemischten Gefühlen. Einerseits ist es toll, denn dann habe ich meine Ruhe, andererseits macht es mir wahnsinnige Angst, denn Ruhe behagt mir nicht. Ruhe macht mir Angst, denn Ruhe heißt für mich auch Einsamkeit und davon hatte ich das letzte Jahre, wenn nicht länger, bereits genug. Eigentlich bin ich schon lange allein. Mental zumindest, denn um mich herum tobt das Leben, aber es fällt mir schwer alles so wahr zu nehmen, wie es ist. Sicherlich hat davon niemand etwas bemerkt, denn so wie ich mich gebe würde niemand vermuten, dass es in mir ganz anders aussieht. Ich glaube nicht, dass es so, wie bei vielen anderen ist, die beschreiben, in ein schwarzes Loch zu fallen, denn ich falle nicht. Ich stehe viel mehr in einem Loch, dessen Wände um mich herum immer höher werden und das Sonnenlicht dringt kaum noch zu mir vor. Das schlimme ist, dass ich allein hier unten stehe und das Leben, was oben, am Rande dieses Kraters tobt, bemerkt mich nicht. So laut ich auch schreie, niemand hört mich. Auch heute ist es wieder so und ich weine bittere Tränen, die einen üblen Nachgeschmack haben. Ich weiß nicht, ab wann man so etwas depressiv nennt, aber ich weiß eines genau. Ich möchte nicht als bekloppt abgestempelt werden. Womöglich schickt man mich dann noch in diese Anstalt, wo ich so oft vorbei fahre. Nein, das bin ich sicher nicht. Ich bin verrückt, weil ich nicht wirklich Anschluss finde und weil ich nicht alles das toll finde, was meine Klassenkameraden eben toll finden, aber ich bin nicht bekloppt. Wer lässt sich schon gerne sagen, dass er krank ist und noch dazu vielleicht im Kopf?
Meine Zigaretten rauchen sich wie von alleine und ich spüre kaum, dass da Teer und Kohlenmonoxid in meine Lunge gesogen werden. Eigentlich spüre ich nur meine kalten Hände und meine Füße, die selbstverständlich auch eisig sind. Im Kopf reise ich immer und immer wieder in die Vergangenheit und immer wieder mache ich mir die gleichen, vernichtenden Vorwürfe. Über vier Jahre ist es jetzt schon her, dass mein Vater gestorben ist. Niemals werde ich diese schrecklichen Szenen im Krankenhaus vergessen, als dieser so lebenslustige Mann, der immer lachte und glücklich war, am Ende seiner Kräfte auf dem Tisch im Besucherraum lag und bittere Tränen weinte. Wie er aufblickte, mir in die Augen sah, ich werde es nicht vergessen. Dieses Bild hat sich auf meine Netzhaut gebrannt und ich werde es niemals vergessen können. Er trug immer einen Bart, auf den war stolz. Der Bart war das erste Haar, was er verlor und das zog ihn runter. Was muss Oma gedacht haben, als sie sah, dass ihr Sohn älter aussah, als sie selbst? Der Gedanke, dass das meinen Kindern passieren könnte, lässt mein Herz schmerzhaft aufschlagen. Ein Jahr hat sein vergebener Kampf gedauert und vielleicht war er zu diesem Zeitpunkt schon einen Schritt weiter, als wir alle und ahnte schon, dass er den Krebs nicht besiegen würde. Und er wusste sicherlich auch schon, wie qualvoll er zu Grunde gehen würde, denn sterben kann man das, was er durchmachte nicht nennen. Nein, er ging elendig zu Grunde und wir saßen alle um ihn herum und konnten nichts tun. Immer, wenn er sprechen wollte, roch es unangenehm nach verbrannten Fleisch, weil die Bestrahlung so stark war, dass die komplette Mundhöhle verbrannt war. Wenn es wirklich einen Gott gibt, wie kann er dann zulassen, dass seine Schäfchen so leiden müssen?! Vielleicht hätte ich ihm mehr Mut zusprechen müssen und vielleicht hätte ich ihn öfter besuchen sollen, aber selbstgefällig, wie ich war, zog ich es vor, meinen Musikunterricht bei zu wohnen, um dort meine große Liebe zu sehen. Als ob ich dazu nicht noch genug Zeit gehabt hätte. Aber ich weiß ja immer alles besser und die Tatsache, dass ich es nicht mehr ändern kann, lässt Hass gegen mich selbst aufsteigen. Wer ihn kannte weiß, was er für ein Mensch war. Als meine Mutter mich dann aber anrief und mir die schreckliche Nachricht überbrachte, fiel ich von meinem hohen Ross und landete unsanft in der Realität. Die besagt nämlich, dass es nicht immer nur die anderen trifft. Nur weil ich es nicht war, macht es die Sache nicht minder tragisch für mich, denn Vater ging plötzlich. Nicht unerwartet für die anderen, aber für mich und dazu noch plötzlich. Zwei Tatsachen, die mir das Blut noch heute in den Adern gefrieren lassen. Mich überkommt ein Gefühl, als würde mein Kopf in tausend Teile zerspringen. Meine Mutter sagte mir, dass wir schon einmal an seinem Grab gestanden haben, jedoch vermag ich mich nicht daran zu erinnern und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr rückt die Aussage meiner Mutter für mich ins Gelogene. Obwohl ich weiß, dass meine Mutter keinen Grund hat, mich an zu lügen, aber mein Gedächtnis scheint diesen Tag gut verdrängt zu haben und dafür hasse ich mich auch. Er hat uns allein gelassen. Mich und meine Mutter, noch mehr sie, als mich, denn sie ist nun ganz allein, nicht nur seelisch, sondern auch im echten Leben. Mit Norbert wird sie nicht glücklich! Das weiß ich ganz genau, denn er ist ein Ekel! Und er hasst mich! Ich flüchte so oft es geht von zu Hause und verbringe die Stunden im Stadtpark, laufe sinnlos herum und höre Musik. Freunde habe ich ja keine. Und selbst wenn, was sollten die schon tun können? Ich versuche einfach, so selten wie möglich zu Hause zu sein. Aber meine Mutter hat diese Möglichkeit nicht und deswegen war ich auch so froh, als sie mir sagte, dass sie sich mit ihren Arbeitskollegen so gut versteht, dass sie auch privat etwas unternehmen wollen. Vielleicht schaffen die es, sie wieder klar denken zu lassen. Und vielleicht schaffen die es sogar, dass sich Mutter von Norbert trennt. Zumindest scheint sie über den Tod von Vater hinweg zu sein und ich muss nicht mehr für uns beide stark sein, denn jetzt bröckelt langsam der Grund unter meinen Füßen weg und ich stehe bereits wie ein Nichtschwimmer am Beckenrand des Schwimmerbeckens. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann sich meine Lungen mit Wasser füllen und ich zum letzten Mal nach oben in die Sonne blicke. Das alles hört sich so furchtbar trostlos an, dass sicherlich alle denken, dass ich selbstmordgefährdet bin, aber das kann ich Gott sei Dank verneinen. Davor habe ich nämlich auch Angst. Angst, dass es weh tut, dass es schief geht und ich wieder aufwache aber vor allem Angst, dass meine Mutter dann enttäuscht von mir wäre. Dann hätte ich sie ja allein gelassen und das will ich nicht und sie sicher auch nicht. Aber wenn sie von mir erwartet, dass ich immer die Wahrheit sage und mich melde, wenn irgendetwas nicht stimmt, warum kann ich das dann nicht auch von ihr verlangen? Dass Norbert sie schlägt, ist ein offenes Geheimnis. Dass er mich schlägt, stört mich nicht, es ist mir egal, aber warum meine Mutter? Warum ist dieser Mann so? Was geht in ihm vor? Was denkt er sich dabei? Und warum verdammt nochmal muss ich über so einen schwachsinnigen Scheiß nachdenken? Das macht doch kein normaler Mensch oder? Welcher bekloppte Idiot würde über so etwas nachdenken??? Und wer würde, wenn seine Laune eh schon am Boden ist noch Musik hören, die noch mehr runter zieht? Nicht dass ich das Gefühl hätte, als könne es noch weiter bergab gehen, nein. Ich glaube, ich bin schon ziemlich weit unten und es fehlt nur noch ein kleiner Schritt in die Unendlichkeit. Ein Schritt und die Mauern in meinem Loch sind so hoch, dass die Sonnenstrahlen mich nicht mehr erreichen können.
Ist es normal über solche Dinge nach zu denken? Ich grüble und grüble und komme immer zu dem Schluss, dass ich vielleicht mal einen Arzt aufsuchen sollte, doch der würde mir sicherlich sagen, was ich schon zu wissen glaube. Nämlich, dass es sich wie eine Depression anhört, die mit Tabletten behandelt werden kann. Aber will ich das? Natürlich will ich aus diesem Loch hier raus und ich möchte auch mal einen Abend alleine im Bett liegen, die Decke anstarren und irgendwann denken, dass ich darauf keinen Bock mehr habe und deswegen jetzt was anderes mache. Im Moment ist es eher so, dass ich die Decke anstarre und trotz größter Mühe kaum aus dem Bett komme und mich immer wieder etwas in diese unerträgliche Position zurück zieht. Das macht mich krank! KRANK! Aber so bald ich den Schritt zum Arzt wage, bin ich ja verrückt und wer Tabletten gegen Verrücktheit nimmt, der ist bekloppt und ich will nicht bekloppt sein. Vielleicht bin ich es schon?Der Gedanke daran, dass ich solche Phasen, wie eben nur einmal im Monat oder seltener habe, lässt mich aufatmen und macht mir Mut. Aber wenn ich ehrlich bin, dann ist jeder selbst seines Glückes Schmied und so bald ich einen Weg gefunden habe, wie ich mir dieses Glück verewigen kann, werde ich keine Kosten und Mühen scheuen. Mein Blick richtet sich auf das Leben im Internat. Vielleicht geschieht ja ein Wunder und ich finde ein paar Leute, die tatsächlich an mir und meiner Person interessiert sind. Dann finde ich vielleicht Freunde. Wer weiß? Ich werde es einfach abwarten und sehen, was passiert. Meine Mutter und Norbert streiten mal wieder. Ich werde also wie so oft dazwischen gehen, damit er nicht wieder aus rastet und sie schlägt. Liebes Tagebuch, ich beende meinen Eintrag an dieser Stelle. Heute schreiben wir den 28. November, den vierten Todestag meines Vaters.'

Anni legte das Tagebuch auf ihren Schoß und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie hatte alles vermutet, wirklich alles, aber nicht, dass hinter Basti ein so zerbrechliches Wesen steckte. Sie erinnerte sich an den ersten Tag, als er ganz neu in das Internat kam. Wie gehässig sie doch zu ihm war! Wir konnte sie nur so unmöglich sein? Wut entbrannte in ihrem Bauch und schließlich schloss sie das Tagebuch, um es leise wieder in der Schublade verschwinden zu lassen. Wie sollte es jetzt weiter gehen? Sollte sie ihm sagen, dass sie heimlich in seinem Schreibtisch herum geschnüffelt hatte? Sicher wäre er sehr sauer auf sie. Aber sollte sie einfach so tun, als wäre nichts gewesen? Könnte sie das?
'Nein!'
Anni durchfuhr es, wie ein Blitz und im selben Moment erhellte jener den dunklen Nachthimmel. Verschreckt sprang sie auf und trocknete die letzten aufkommenden Tränen. Sie musste sich da jetzt ganz sachte heran tasten. Nur wie? Ihr Kopf war leer, fast genau so leer, wie es Basti über sich selbst geschildert hatte. Ihr Herz raste und schließlich stand sie auf, um nervös im Zimmer herum zu laufen.
'Sicher war es ein Fehler, das zu lesen! Ich bin einfach schrecklich! Warum war ich nur so unsagbar neugierig?'
Anni hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt und lief noch immer nervös hin und her. Noch einmal öffnete sie die Schublade des Schreibtisches und vergewisserte sich, dass sie das Tagebuch auch in seine ursprüngliche Position gebracht hatte. Nichts wäre schlimmer, als wenn er bemerken würde, dass sie heimlich in dem Buch geschnüffelt hatte, dass ihm wohl das Heiligste war. Leise schob sie die Schublade wieder zu und fuhr verschreckt herum, als sie ein leises Aufseufzen vernahm.
'Was machst du da?'
Entsetzt blickte Basti sie an.
'W-wer ich?'
'Wer sonst? Was hast du an meinem Schreibtisch verloren?'
Anni fühlte sich, wie ein Ladendieb, den man auf frischer Tat ertappt hatte. Was sollte sie jetzt nur antworten? Was würde er dazu sagen? Neugierde konnte schließlich nicht die einzige Ausrede sein. Zumal dies eine wahrlich schlechte war.
'I-ich habe nach einem Blatt Papier gesucht!'
'Ein Blatt Papier also, ja?'
Basti schälte sich aus seiner Decke heraus und stand auf. Er blieb vor Anni stehen und blickte sie misstrauisch an. Er wusste genau, was sich in der oberen Schublade seines Schreibtisches verbarg.
'Was willst du denn mit einem Blatt Papier? Und noch dazu mitten in der Nacht?'
'Ich äh, muss etwas notieren, damit ich es nicht vergesse.'
'Und was?'
'N... Den Geburtstag meiner Mutter!'
Anni spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, ein anklägerisches Zeichen dafür, dass sie log. Sie log, dass sich förmlich die Balken bogen.
'Den Geburtstag deiner Mutter?'
Basti zog eine Augenbraue hoch und blickte sie skeptisch an.
'Ich glaube dir kein Wort...' entgegnete er ihr schließlich.
Anni biss sich auf die Unterlippe und suchte hastig einen Punkt, den sie anstarren konnte. Aus ihren Augen musste es schon leuchten! Das Wort 'Lüge!'. Alles gelogen. Und noch dazu schlecht.
'Aber bitte...' begann Basti schließlich. 'Wenn du Papier brauchst, sollst du welches kriegen. Brauchst du auch einen Stift?'
Zaghaft nickte Anni ihm zu.
Er zog die Schublade seines Schreibtisches auf und ergriff das Buch, welches in schwarzes Leder gebunden war. Anni´s Herz raste, hoffentlich hatte er nicht bemerkt, dass sie es nicht genau so wieder hin gelegt hatte, wie es vorher lag. Entschlossen knallte er das Buch auf die Tischplatte und legte einen Kugelschreiber darauf.
'Was ist das?' fragte Anni, wohl wissend, um was es sich handelte.
'Da kannst du das Geburtsdatum deiner Mutter rein schreiben. Reiß die Seite dann einfach raus.'
'Was?!'
'Sicher, ist doch nur ein Notizbuch.'
'Das ist doch nicht nur ein Notizbu...'
Im selben Moment hatte sie sich verraten.
'Du hast also darin gelesen, ja?'
Basti´s Augenbrauen zogen sich kantig nach unten und er blickte sie finster an.
Plötzlich sprudelte es aus Anni heraus und Tränen strömten über ihr Gesicht. Sie spürte kaum, wie sie vor ihm auf die Knie fiel und ihm fast die Füße küsste.
'Es tut mir so schrecklich Leid, es war keine Absicht, ich war so neugierig, es tut mir so Leid...'
Nachdem sie diesen Satz x-mal wiederholt hatte, kniete sich Basti vor sie und hob ihren Kopf an, damit sie ihm unweigerlich in das Gesicht blicken musste.
Hinter ihrem Tränenschleier erkannte sie seine Gesichtszüge, die noch immer kalt und unnahbar wirkte. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und blickte ihn an.
'Bist du sehr böse auf mich?'
Kurz schnaufte Basti auf.
'Böse? Ob ich böse bin? Anni! Du hast mir mein intimstes und größtes Geheimnis weggenommen! Das habe ich noch nie jemandem erzählt! Niemandem! Nicht mal meiner ersten großen Liebe! Es sollte niemals auch nur irgend ein Mensch davon erfahren. Und wenn ich das Bedürfnis habe, über meine Vergangenheit zu sprechen, dann komme ich doch zu dir und tue es auch, aber du platzt einfach in mein Leben, nimmst mir alles! Du raubst mir mein Herz, meine Gedanken und jetzt noch meine Geheimnisse! Und du willst allen Ernstes von mir wissen, ob ich böse bin?! Ich könnte platzen!'
Laut knallte Basti´s Faust auf den Schreibtisch. Beunruhigend krächzte das Holz auf, als er sich auf die Tischplatte beugte und das Tagebuch an blickte.
'Es tut mir wirklich Leid, Basti. Bitte glaube mir, ich wollte dir nicht zu nahe treten.''Es hat mich so viel Überwindung gekostet mit dir über meinen Stiefvater zu sprechen! Ich musste wirklich hart mit mir und meinem Gewissen kämpfen und irgendwann sagte mir mein Bauchgefühl, dass ich dir vertrauen kann. Wie kannst du mir also so einen Tritt in den Rücken versetzen?! Du hast mein Vertrauen auf das Übelste missbraucht! Wie kann ich dir jemals wieder in die Augen blicken?! Dieses Geheimnis bedeutet für mich Scham und Schande und es war schon schlimm genug, zu wissen, dass es dieses Geheimnis gibt, aber jetzt... Jetzt bist du Mitwisser! Wie kann ich dir mit diesem Schamgefühl noch in die Augen blicken?!'Basti´s Stimme brach und schließlich ließ er sich aufgelöst auf seinen Stuhl nieder. Wütend krachte er sein Tagebuch zurück in die Schublade und schmiss selbige zu.
'Ich will es doch nicht wieder tun, Basti.'
'Dazu wirst du auch keine Gelegenheit mehr haben. Geh jetzt bitte in dein Zimmer, ich kann dich nicht mehr sehen.'
'Aber...'
'Und bitte missachte meine Gefühle nicht noch weiter, indem du alles breit quatschst, was du gelesen hast.'
'Ja, aber...'
'Nichts aber. Geh jetzt. BITTE!'
Anni schlüpfte in ihre Hausschlappen und öffnete leise die Tür zum Flur.
'Bist du dir ganz sicher, dass ich gehen soll?'
Kaum spürbar nickte er ihr zu und sie ließ die Tür ins Schloss fallen.
Was hatte sie nur angerichtet? Natürlich war er sauer. Kein wunder! Sie wäre selbst nicht anders gewesen. Man stelle sich vor, jemand hätte ihr Tagebuch gefunden und einfach gelesen. Sicher, damals war sie noch jung, gerade mal dreizehn, als sie eines hatte, aber es war ihr größter Schatz und mit dem kleinen Schloss, was davor hing, verbarg sie ihre kleinen Geheimnisse vor der Außenwelt. Das war ihr Stück Privatsphäre, welches sie sich selbst geschaffen hatte und niemand hatte es zerstören können.
Für Basti musste das genau so sein. Nur hatte sie seine Privatsphäre durchbrochen, und das mit Leichtigkeit. Außerdem standen da nicht nur so belanglose Dinge wie 'Mandy hat wieder einen neuen Freund.'. Sachen, die Anni damals immer notiert hatte. Diesmal hatte sie sich wirklich knietief in die Scheiße geritten und sicher würde sich das Problem nicht einfach wieder in Luft auflösen. Unentschlossen stand sie vor ihrer Zimmertür und grübelte vor sich hin.
Schlafen konnte sie jetzt auf keinen Fall. Was Basti wohl gerade machte?
Leise schlich sie wieder zu seiner Tür zurück und presste ihr Ohr daran. Kaum hörbar vernahm sie ein Schluchzen und plötzlich das Zerreißen von Papier. Entsetzt zog sie den Kopf von der Tür weg.
'Er zerreißt sein Tagebuch!' schoss es ihr durch den Kopf und wieder bildeten sich Tränen in ihren Augen.
Zaghaft klopfte sie an seine Tür.
'Basti?'
'Geh weg, bitte.'
'Darf ich rein kommen?'
'Nein!'
'Ich muss dir aber etwas sehr wichtiges sagen!'
'Ich wüsste nicht, was für mich so wichtig sein sollte, dass du ausgerechnet jetzt in mein Zimmer musst.'
Wieder erklang das Geräusch von Papier, welches zerrissen wird.
'Basti, ich hab auch ein Geheimnis. Davon weiß niemand, außer mir.'
'Na und?'
'Darf ich rein kommen? Dann erzähle ich es dir.'
'Ich bin nicht sicher, ob ich es überhaupt hören will.'
'Dann erzähle ich es eben hier.'
Anni hockte sich auf den Fußboden und lehnte ihren Kopf gegen Basti´s Tür.
'Weißt du, warum ich auf dieser Schule bin?'
Nach kurzer Zeit kam ein klägliches 'Nein' zum Vorschein.
'Meine Eltern haben mich hier her geschickt, weil ich mit vierzehn schon sechs mal straffällig geworden bin. Von Diebstahl über Körperverletzung bis hin zu Erpressung. Früher war ich richtig schlimm.'
'Das ist wohl kaum ein Geheimnis, wenn deine Eltern dich deswegen hier her geschickt haben.'
'Das nicht, aber meine Reaktion auf die Versetzung hier her schon...'







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