Heb den Kopf und sag mir, dass du eine Grenze siehst! - Teil 5

Autor: Celithizia
veröffentlicht am: 19.09.2014


Keine Ahnung wieso ich beim letzten Mal nicht unter meinen Namen gelistet wurde und es ist auch egal. Ich hoffe, dass diesmal alles stimmt und wünsche euch viel Spaß beim Lesen :)
LG


Kapitel 4

Am Dienstag besuchte mich Clarissa. Schwester Annegret schob ihren Körper mit dem Kind an der Hand durch die Tür. Ich saß ungerührt auf dem Bett, bis ich Clarissa sah.
„Was macht ihr denn hier?“, fragte ich von einer Welle des Glücks überrollt.
„Clary hat so sehr geweint, weil sie dich ewig nicht gesehen hat. Und da habe ich gedacht, dass ich sie dir mal vorbei bringe.“
„Danke!“
„Nun ich lass euch dann mal allein. Die Kinder wickeln sich nicht von alleine.“
Clarissa sprang mich an und schubste mich somit aufs Bett. So verblieben wir eine ganze Weile in der wir uns über die Unstimmigkeiten der Tapete unterhielten.
„Darf ich mit dir etwas malen?“, fragte sie als eine Weile Ruhe eingekehrt war.
„Ach Clarissa, du weißt doch, dass Boris immer die Blätter und die Stifte mitbringt.“
Sie nickte.
„Holen wir ihn mit her?“
„Das geht nicht…“
„Aber wieso nicht?“
„Weil ich das Zimmer nicht verlassen darf.“
„Und wieso nicht?“
„Ich war böse.“, sagte ich mit einem ironischen Unterton, von dem ich wusste, dass Clary ihn nicht verstehen würde.
„Du bist doch nie böse?“
„Die denken aber, dass ich böse war.“
„Wer sind die?“
Das Kinder in diesem Alter so viele Fragen stellen mussten. Ich wollte nicht mehr erzählen, da ich Angst hatte, dass sich das Mädchen verquatschen könnte.
Zum Glück klopfte es an der Tür.
„Herein.“, rief Clarissa.
„Dara?“, drang die Stimme von Julian durch die Tür.
„Die ist hier.“, sagte Clary und zeigte zur Bestätigung auf mich, als Julian die Tür öffnete.
Clarissa stand auf und ging zu ihm hinüber, streckte ihm die Hand hin und lächelte ihn freundlich an: „Hallo ich bin Clarissa. Und wer bist du?“
Ich schmunzelte, da er ziemlich verdutzt guckte.
„Julian.“, antwortete er als er ihre Hand nahm und Clary sie hin und her schüttelte.
„Sehr angenehm.“, meinte er noch.
„Was machst du hier?“, fragte ich leicht gereizt.
„Um ehrlich zu sein musste ich meinem Zimmergenossen entkommen.“
„Und da kommst du hier her?“
„Jap.“
Damit war dieses Thema abgehakt. Ich sah es in seinem Blick und in seiner Körpersprache. Bei diesem Kerl gab es kein `Nein`. Beziehungsweise selten.
Er hatte eine Jeans an, darüber trug er ein schwarzes Shirt und ein rot- schwarz kariertes Hemd.
Wie er da so stand: In meinem Zimmer, seine Hände tief in die Taschen seiner Hose verschwunden, konnte ich mir nicht erklären, was er hier wollte. Nicht nur in meinem Zimmer, sondern in der gesamten Klinik. Er passte absolut nicht ins Bild.
„Erzählst du mir jetzt wieder eine Geschichte Dara?“, fragte Clarissa und holte mich aus meinen Gedanken.
„Ich denke, dass Julian auch eine hören möchte.“, fügte sie hinzu und guckte ihn mit großen Augen erwartungsvoll an.
„Ja ich habe eh nichts zu tun.“, achselzuckend setzte er sich neben mich.
Clarissa kletterte auf meinen Schoß und ich schob uns so auf mein Bett, dass mein Rücken an der Wand ruhte. Julian tat es mir gleich.
„Über was soll ich erzählen?“, fragte ich Clary.
„Julian soll entscheiden.“
Wir guckten ihn beide an.
„Eh ich weiß nicht?“, meinte er stottern.
„Sag einfach irgendwas!“, stocherte Clarissa ihn an.
Er guckte schüchtern auf den Boden.
„Ich würde gern etwas über einen Helden hören.“
„Egal welcher Art?“, fragte ich lächelnd. Auf irgendeine Weise berührte mich seine Schüchternheit. Es kam mir vor, als wäre das ein selten erfüllter Kindheitstraum.
„Völlig egal.“
Clarissa rutschte von meinem Schoß herunter und guckte Julian grinsend an, dann schweifte ihr Blick zu mir und es passierte wie jedes Mal, wenn ich dem Mädchen etwas erzählte. Ihr Blick verschleierte sich und sie rutschte in ihre Fantasiewelt in der sie sich alles genau vorstellte und ich ihr nur zu gern gefolgt wäre.
„Nun,“, ich räusperte mich und schloss meine Augen um mich ganz auf die Geschichte zu konzentrieren, „ Es war einmal ein kleiner Junge, der von zu Hause weglief. Ihr müsst wissen, dass er vorher einen riesigen Streit mit seinem Vater hatte. Er liebte ihn- keine Frage, aber sie waren selten einer Meinung. Sein Vater war ein einfacher Bauer und brauchte jede Hilfe auf dem Feld. Sein Sohn jedoch war mehr von der Welt draußen fasziniert. Er wollte sie entdecken, kennenlernen und er versuchte sie zu verstehen. So lief er in die große, weite Welt mit nichts außer sich und einem Stein. Denn sein Glücksstein durfte nirgends fehlen. So kam es, dass er an einem Wald vorbei kam und da hörte er ein leises Wimmern. Er folgte dem klagenden Laut und was er da sah jagte ihm einen großen Schrecken ein: Es war ein riesiger Hirsch, der sich mit seinem Geweih im Gestrüpp eines tiefgelegenem Baumes verheddert hatte. Der kleine Junge wollte weitergehen, das Tier sich selbst überlassen, doch mit jedem weiteren Schritt wurde ihm mulmiger. `Halte dich von wilden Tieren fern. Sie haben mehr Angst vor dir, als du vor ihnen und sie handeln immer instinktiv. Sie wollen dir vielleicht im Grunde nichts tun, aber aus Angst macht man die komischsten Sachen`, hallte die Stimme seines Vater ihm nach. Diesen Satz konnte man wenden und drehen, wie man wollte. Er könnte gemeint haben, dass er sich in dieser Situation noch viel mehr vor dem Hirsch fürchten sollte, da dieser ja schon so Angst hatte. So aber, sah der Junge den Satz nicht. Nein. Er lief zurück und nährte sich dem Tier langsamen Schrittes. Der Hirsch beobachtete den Jungen und als sich ihre Blicke trafen, konnte er die Angst förmlich spüren. Er konnte sie ergreifen und sie vermischte sich mit seiner eigenen. Trotzdem stieg der Junge auf den Baum, darauf bedacht dem großen Tier nicht zu nahe zu kommen. Er sprach beruhigende Worte, als er auf dem Ast saß in dem der Hirsch feststeckte.
Der junge fischte seinen Stern aus seiner Tasche und begann die kleinen Zweige von dem Geweih zu trennen. Es dauerte eine halbe Ewigkeit. Doch dann war es vollbracht. Der Hirsch entriss sich des Baumes und vor lauter Schreck ließ der Junge seinen Stein, sein einziges Gut, fallen. Er landete direkt im Geweih des Tieres und verhakte sich. Traurig musste der kleine Junge mit ansehen, wie sein Glücksstein, den er schon viele Jahre dabei hatte in den Wald verschleppt wurde.“
Ich machte meine Augen wieder auf und wurde unter den interessierten Blick von Julian rot.
„Das war`s?“, fragte er mit großen Augen.
„Nein! Aber ich muss jetzt zum Essen und morgen erzählt Dara weiter. So machen wir das immer.“, sagte Clarissa bestimmt und schlüpfte vom Bett.
Pünktlich wie immer steckte Schwester Annegret ihren Kopf durch die geöffnete Tür.
„Komm Clarissa.“, meinte die Schwester und winkte mir zu.
„Bis morgen.“, sagte das kleine Mädchen und verschwand.
Julian musterte mich.
„Was?“, fragte ich etwas unbehaglich.
„Ich frage mich nur, wo du die Worte hernimmst.“
Er deutete auf meinen Kopf.
„So viel passt doch da gar nicht rein.“
„Doch natürlich. Man muss nur wissen, wie man es speichert.“
„Was würdest du tun, wenn du nicht hier wärst?“, fragte er mich nach längerem Schweigen.
Ich guckte verdutzt.
„Tanzen.“
„Tanzen?“ Er lächelte, „Wieso?“
„Es klingt interessant. Man schwebt über den Boden. Ich würde gern schweben.“
Nun lachte er. Er lachte über mich und meinen Traum. Das war so typisch. Boris hatte nicht gelacht.
„Du lachst mich aus, aber dazu hast du keinen Grund.“
„Ich lache dich nicht aus. Es ist nur der Gedanke. DU bist hier seit 9 Jahren und dann willst du Tanzen? Die Vorstellung finde ich niedlich.“
Ich belächelte das, obwohl mir gar nicht nach Lächeln zumute war. Ich war verletzt, dass er gelacht hat. Wieder nahm er seinen komischen Kasten aus seiner Tasche und stand auf.
„Komm steh auf.“, meinte er aufmunternd.
„Nein.“
Er guckte mich verdutzt an und hielt mir seine Hand hin.
„Trau dich.“
Ich legte meine Hand in seine und er zog mich vom Bett hoch. Nun standen wir uns gegenüber und er tippte auf sein Handy (Ich erinnerte mich, dass er es so genannt hatte) ein.
Dann ertönten Laute aus dem Gerät und ich schreckte zurück.
Die Töne vermischten sich und es kam zusammenhängende Melodien heraus.
„Musik?“, fragte ich.
„Ja genau und dazu werden wir jetzt tanzen.“
„Und die kommt aus deinem Handy?“
Er nickte und legte seine Hand auf meine Hüfte um mich an sich zu ziehen.
„Gib mir deine Hand.“, sagte er und ich guckte nur verwirrt.
So nah war ich noch nicht einmal Boris gekommen. Ich war vollends verwirrt wie wenig es ihm ausmachte mich zu berühren. Ich hingegen zitterte wie Espenlaub. Trotzdem legte ich meine Hand in seine.
Ich hatte oft mitbekommen, wenn Lisa Männerbesuch bekommen hatte und immer wieder stellte ich mir die Frage, wie sie das machte. Sich so zu verkaufen war doch nicht normal. Sich so berühren lassen.
Aber hier war es etwas anderes, auf eine verdrehte Art vertraute ich Julian.
Er zeigte mir ein paar Schritte und ihm schien es gar nichts auszumachen, dass ich ihm öfter auf die Füße trat.
„Siehst du: So schwer ist es gar nicht.“, sagte er schließlich. Mein Blick glitt von seinen Füßen auf die ich mich konzentriert hatte und ging zu seinem Gesicht.
„Ja. Und es macht Spaß!“
„Du bist ein Naturtalent.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob man das so bezeichnen könnte. Aber ich denke, dass du genug Vergleichsmöglichkeiten hast um zu wissen, dass das nicht der Fall ist.“
„Ich sagte dir ja schon, dass du nicht über andere Menschen urteilen sollst. Ich habe noch nie mit einem Mädchen getanzt.“
„Oh“
Ich distanzierte mich von ihm. Ob aus Unglauben oder Schock weiß ich nicht mehr.
Er beobachtete mich.
„Was willst du von mir?“, flüsterte ich und er zuckte unbeholfen mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht. Ich glaube, dass ich mit dir am besten reden kann…“
„Wie meinst du das?“
„Von dir kommt halt auch was wieder. Man kann mit dir reden. Außer der Therapeuten kann hier keiner von A bis B denken.“
Ich guckte verdutzt, als er einfach weiter sprach: „Ich glaube, dass du deine wahre Intelligenz versuchst zu verstecken, aber umso verzweifelter du es versuchst, desto mehr gibst du von dir Preis. Aber ich sehe auch deine Angst. Die brauchst du nicht zu haben, wirklich- ich will dir nichts tun.“
Ich biss mir auf die Lippen. Sollte ich meine Gedanken, die schrecklichen Bilder mit ihm teilen?
Als ob er meine Unentschlossenheit spürte, fügte er hinzu: „Du kannst mir alles sagen. Ich kann dir helfen, wenn du mich lässt.“
Und wenn das hier alles nur eine große Lüge ist? Was sollte ich nur tun.
Auf einmal war mir alles klar: Ich musste mich von diesem Kerl verschließen. Er wusste schon zu viel und er würde es Herr Doktor Genver sagen und dieser würde mich mit diesem Wissen fertig machen.
Zeitlich passte alles genau ins Bild.
„Ist schon okay. Du hast ein völlig falsches Bild von mir. Ich bin weder schlau noch kann ich dir irgendetwas erzählen. Und Angst habe ich lediglich vor der Nähe mit dir. Wenn du mir die Angst nehmen willst, dann gehst du jetzt besser.“
Er lächelte.
„Ich weiß, dass du lügst, aber ich werde dich nicht bedrängen.“
Mit diesen Worten verschwand er aus meinem Zimmer und es füllte sich wieder mit dieser gähnenden Leere. Als hätte ich grade etwas Fundamentales verloren.






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