Heb den Kopf und sag mir, dass du eine Grenze siehst! - Teil 3

Autor: Cookyprincess
veröffentlicht am: 01.09.2014


Kapitel 2

Und dann war Montag. Er startete wie immer. Alle Gruppen, bis auf die F, saßen in einem großen Saal versammelt. Es wurde besprochen, was alles gut und was schief gelaufen ist die vergangene Woche. Dann wurden die Gestorbenen bedauert, es wurde gebetet und es wurden die Neuankömmlinge vorgestellt. Das war das erste Mal, dass ich Julian sah. Was ich dachte?
Ich muss ehrlich gestehen, dass ich dachte, was das nur wieder für ein arroganter Kerl sein konnte.
Er stand da vor der ganzen Klinik, als würde ihm das ganze gehören; seine Hände tief in seinen Hosentaschen verschwunden. Und er kaute auf irgendwas herum.
Doktor Limes stellte ihm einige Fragen zu seiner Person, doch ich hörte gar nicht zu, denn ich konnte mich nur darüber aufregen, wie er hier auftrat.
„Ich freue mich sehr Sie in meiner Gruppe willkommen zu heißen.“, beendete Limes seine Fragen. Solche Beteuerungen kamen nur in Gruppe-B vor. Wo anders freute sich keiner über Neuzugänge. Wieder etwas über was ich mich nur aufregen konnte.
Dann wurde noch über die Therapieverläufe Einzelner gesprochen und dann durften wir gehen.
Jeder musste sich das Zimmer mit Jemand aus seiner Gruppe teilen. So wurde Julian gleich unter Beschlag genommen. Die Coolen der Klinik mussten ihrem neuen Schützling natürlich gleich erzählen, wie der Hase hier so langlief. Es war ja auch wichtig sich pro Tag mindestens einmal mit einem geistig-behinderten geprügelt zu haben, oder die Schränke der Kleinkinder auszuräumen, die natürlich ab und an mit Leckereien gefüllt wurden. Einen netten Spruch durften wir Mädchen uns auch mal anhören, oder anzügliche Kommentare, oder man durfte sich auch mal anfassen lassen, denn es war ja die Aufgabe der Frau, dem Mann ein Spielzeug zu sein. Ich hatte dabei immer noch Glück, da ich so gut wie immer Boris bei mir hatte und irgendwie traute sich an den 2 m Mann keiner ran. Und Boris konnte austeilen. Kaum einer vergriff sich an mir oder an Clarissa. Zu uns war er zwar lieb, aber wir waren auch seine ein und alles`.
Meine Zimmergenossin war Lisa. Sie wurde grade letzte Woche 18 und schon merkte man, wie es stetig mit ihr bergab ging.
Sie aß auch nicht, wie alle Anderen, im Essenssaal, sonder separat, was mich zu der Annahme brachte, dass sie ihr etwas in ihre Mahlzeiten taten. Sie kam kaum noch aus dem Bett und sie war vorher schon krank. Wir hatten nie ein wirklich enges Verhältnis, dennoch tat sie mir Leid.
Jede Nacht hörte ich ihr Röcheln, ihre Anfälle, ihre Gebete, dass Gott sie doch endlich erlösen solle.
Doch er tat es nicht. Sie kämpfte immer weiter. Jeden Tag und jede Nacht. Deshalb stahl ich mich auch nachts aus meinem Zimmer, an der Schwester vorbei und schlich in die Bücherei.
Leider erweiterte sich das Repertoire nie und die Bücher waren schon so alt, dass ich mich jeden Tag mehr fragte, wie die Welt sich draußen veränderte. Ich hatte zwar noch nicht alle Bücher durch, dafür habe ich eine Vielzahl mehrfach gelesen. Einfach um zu versuchen die Gefühle hervorzurufen, die das erste Mal Lesen mit sich gebracht hatten. Aber Ungewissheit ist ein wertvolles Gut, wenn man weiß, dass man das ungewisse aufdecken kann, wenn man nur mehr Worte in sich aufsaugt.
Und ich hatte Angst, dass ich dieses Gefühl der Ungewissheit nicht mehr spüren könnte, nie mehr spüren würde, wenn ich jedes Buch durchgelesen hatte.
Bei dem Gedanken überkam mich eine solche Leere, die mich fast zum Weinen brachte. Ich schlenderte also zu meinem Zimmer und bemerkte, dass die Tür offen war. Sofort war ich in Alarmbereitschaft. Ich lief schnell und schlitterte um die Ecke.
Schockmoment.
Dort war dieser Neue, dieser Julian und hockte neben Lisa.
„Was machst du hier?!“, fragte ich gereizt.
Er schreckte hoch.
„Was ist mit ihr?“
Er war vollkommen blass. Was sollte ich ihm sagen? Das ging ihn doch gar nichts an. Was interessierte er sich für so was.
Da er anscheinend auch mitbekam, dass ich ihm nicht antworten würde; wahrscheinlich dachte er ich wäre zu minderbemittelt oder hätte zu viel Angst oder was auch immer. Er sollte denken, was er wollte. Er sollte nur gehen.
Ihr entschuldigt meine Abneigung gegen Männer, aber ich denke doch, dass sie begründet ist.
Er war wieder völlig auf Lisa konzentriert.
„Wir müssen ihr helfen.“, sagte er mehr zu sich, als zu mir.
„Das geht nicht.“, platze ich heraus.
„Wieso nicht? Sie stirbt.“
„Sie ist krank. Das ist der Lauf der Dinge.“
Er musterte mich finster.
„So einfach macht ihr euch das? Das ist der Lauf der Dinge? Läuft das hier immer so kaltherzig ab?“
„Natürlich nicht.“
Er war perplex von meiner Antwort, dann stürmte er aus dem Zimmer und murmelte noch etwas von `Dem Lauf der Dinge`. Natürlich konnte man dieses Szenario nicht auf diesen Satz reduzieren. Es gab zu einer hohen Prozentzahl noch Dinge, die man hätte tun können, aber nicht bei einer Frau. Vergeudete Zeit und Mühe. Das wäre es.
Außerdem: Was machte sich dieser Tölpel darüber Gedanken? Er sollte bei seinen Problemen bleiben. Aber eins musste ich zugeben: Von allen Patienten war er der gepflegteste. Man hat ihm keinerlei Schwächen angesehen. Er hatte noch alle Zähne und auch sonst schien er mir nicht so unterbelichtet wie seine Gruppengenossen. Komisch.
Ich betrachtete die röchelnde Lisa nochmals bevor ich mich aufmachte um meiner Strafe beizuwohnen. Ich durfte mit kochen.
Die Kochfrauen waren auch relativ nett. Nur das Essen schmeckte nie, was aber selten an den Frauen lag, sondern ehr an den Zutaten.
Bei der Essensausgabe ging es zu erst in die zweite Etage um den Kindern zu erst das Essen zu geben. Clary freute sich riesig mich zu sehen. Und nur dieses Kind war mein Lichtblick. Boris natürlich auch, aber um Clarissa ging es mir mehr. Bei ihr hatte ich Mutterinstinkte.
Dann ging es wieder runter in den Essenssaal, wo man dann nur noch für die Ausgabe zuständig ist. Jeder Patient kriegt einen Teller und dann wird ihm eine bestimmte Menge drauf gemacht.
Bei den Männern mehr, als bei den Frauen.
Als Julian an der Reihe war, guckte er mich komisch an.
„Gib den Teller her.“, sagte ich genervt, als er sich nicht regte.
„Du bist gar keine Patientin, sondern hier Angestellt?“, fragte er.
„Die Kleine hier ist eine Patientin, die eine Strafe bekommen hat.“, fiel mir eine der Essensdamen ins Wort.
„Teller.“, sagte ich nochmal und diesmal gehorchte er.
Dieser Kerl war echt extrem komisch.
Nachdem meine `Schicht` vorbei war durfte ich auch etwas essen. Zum Glück musste ich nur mittags aushelfen, denn ich hatte mit Clarissa noch etwas vor.
Ich holte mir die Kleine und wir trafen uns mit Boris. Wir lernten heute Zahlen schreiben, da ich wusste, dass sie mit Boris bald einen Mathetest machen wollten. Außerdem wollte ich, dass Clary ihr Alter aufschreiben konnte, da sie sich das schon eine ganze Weile gewünscht hatte.
Die Zeit mit den beiden verging viel zu schnell, denn schon bald musste ich Clarissa wieder zurück bringen und auch Boris war erschöpft.

Um 8 Uhr war bereits Nachtruhe für unsere Station. Lisa wurde mit jeder Nacht ruhiger. Ich sang eine Melodie, die mir einst meine Mutter vorgesungen hatte. Lisa beruhigte das, ich hatte das im Gefühl.
Als es schon eine ganze Weile ruhig war, stieg ich in meiner Nachtkluft, welche aus einem einfachen, viel zu großen T-Shirt und meiner Unterwäsche bestand, aus dem Bett und schlich mich wieder einmal in die Bücherei. Ich hörte Schwester Maria im Zimmer nebenan mit Erika erzählen, ein 11 jähriges, geistig-behindertes Mädchen, welches immerzu Wahnvorstellungen hatte. Schwester Maria durfte mich unter keinen Umständen erwischen. Die Frau konnte mich einfach nicht leiden. Somit versuchte ich diesmal besonders leise zu sein. Es hätte mir gleich auffallen müssen, dass etwas anders war als sonst, aber in der ganzen Eile übersieht man die kleinsten Dinge und ist es nur das Licht, was brennt.
Ich konzentrierte mich so sehr auf meine Schritte, dass ich nicht einmal die Stimme, die aus der Bücherei drang, wahrnahm.
„Ja ich sag`s dir. Die stirbt. Alle wissen es, aber keiner untern.. Warte mal kurz. Ich höre da was“, er brach ab, als ich die Tür hinter mir schloss. Ein triumphierendes Lächeln meinerseits, bis ich das Licht bemerkte und den Schatten, der hinter einem Bücherregal hervortrat.
Julian.
Er hielt eine Kiste in seiner Hand. Wir starrten uns eine Weile an, bis aus der Kiste eine Stimme ertönte. Ich zuckte zurück.
Verwirrt dreinblickend folgte er meinen Blick und guckte auf das sprechende Gerät in seiner Hand.
„Du weißt nicht, was das ist?“, fragte er leicht spöttisch.
So weit ich gelesen hatte, war dies dieses Telefon, mit dem man andere Leute in weiter Entfernung erreichen konnte. Einfach indem man hineinsprach. Leider sah das ganz anders aus in den Büchern.
„Doch? Ein Telefon?“, gab ich gespielt sicher zurück.
Wo war die Schnur? Ich war wirklich verwirrt.
Julian hielt sich das Telefon ans Ohr und beendete das Gespräch.
„Das.“, er machte eine bedeutende Pause, indem er mir den Gegenstand zeigte, „Ist ein Handy“
Ich empfand es sicherer für mich nichts darauf zu sagen.
„Was machst du eigentlich hier?“, fragte er während er sein Handy in seine Tasche schob. Komische Erfindung.
Ich zuckte unbeholfen mit den Schultern. Er würde mich verraten.
„Ich habe mich verlaufen.“, sagte ich dann und stellte mich leicht dumm, „Es wäre nett, wenn das unter uns bleibt, ich bin auch gleich wieder weg.“
Mit dem Rücken zur Tür versuchte ich die Klinke zu erfassen. Julian schien mit meiner Ausrede zufrieden zu sein, aber er kam trotzdessen einen Schritt näher: „Wie lange bist du schon hier?“
Ich blieb abrupt stehen. Diese Frage hatte mir noch keiner gestellt.
„9 Jahre.“
Er machte große Augen.
„Wie alt bist du?“
„16, bitte tu mir nichts. Ich bin kein guter Zeitvertreib, wirklich! Wahrscheinlich bin ich auch zu jung.“, begann ich mich rauszureden, da ich es langsam mit der Angst zu tun bekam. Boris war nicht da.
„Was?“, er guckte mich verdutzt an. „Ich will dir nichts tun…“, sagte er; so versöhnlich und doch kam er einen weiteren Schritt auf mich zu.
Also öffnete ich die Tür und floh auf mein Zimmer zurück. Auch wenn Sicherheit etwas anderes war.
Er folgte mir nicht, dass war mir klar, als ich so in meinem Bett lag und sein Gesicht einfach nicht aus meinem Kopf verbannen konnte. Seine braunen, aufmerksamen Augen, die absolut nicht hier her passten. Die Neugier war ihm ins Gesicht geschrieben. Es verwirrte mich einfach nur.
Nach längerem Grübeln darüber, was dieser Mensch hier verloren hatte, schlief ich ein.

Die nächsten Nächte traute ich mich nicht mehr in die Bücherei, da mir bewusst war, dass man sich nicht zweimal in einer Woche verlaufen konnte.
Leider schlief ich dadurch aber auch nicht gut. Ich fand kaum noch Ruhe. Das Röcheln aus dem Bett, welches am anderen Ende des Zimmers stand, machte mich nervös, brachte mich an den Rand der Verzweiflung.

Am Donnerstag hatte ich wieder eine Sitzung bei meinem Puppendoktor.
Ich saß ihm gegenüber.
„Hallo Dara, wie geht es dir heute?“
„Gut“
„Nana meine Liebe. Ich sehe dich an und weiß, dass das gelogen ist.“
Ich zuckte verzweifelt mit den Schultern.
„Willst du mir nicht von deinen Ängsten erzählen?“, fragte er weiter.
„Eigentlich will ich das nicht.“
„Dann lass mich raten: Du hast Angst, dass du den Idealen der Welt draußen nicht entsprechen kannst, dass du dem nicht gewachsen bist.“
Nun schaute ich verwirrt. Das war ja mal sowas von daneben.
„Ideale sind Dinge, die wir erreichen müssen, die die Etikette von uns erwarten“, erklärte er mir.
Er hatte meinen Blick wieder komplett falsch verstanden. Ansonsten hätte ich das schweigend hingenommen, aber heute war etwas anders. Ich hatte kaum geschlafen und war leicht gereizt.
„Etikette ist...“, fing er an, doch ich unterbrach ihn: „Ich weiß selbst, was Ideale und Etikette sind! Und ich habe auch keine Angst vor der Welt da draußen, da ich weiß, dass ich sie nie wieder zu Gesicht bekomme. Außerdem bin ich es Leid mir Ihre verschobene Vorstellung von einer Frau meines Alters anzuhören. Sie haben ja gar keine Ahnung wo von sie reden. Ihr ganzes Wissen beruht auf Beobachtungen und eigene Interpretation, vor allem: Falsche Interpretation. Ich finde ja, dass ein Therapeut auf den Menschen eingehen sollte und nicht auf das Geschlecht. Für mich sind Sie einfach nur ein Puppendoktor!“
Mein Ausbruch tat mir in dem Moment Leid, als er vorbei war, nicht um Seinetwillen, sondern Meinetwegen. An seinem Blick konnte ich sehen, wie wütend und entrüstet er war.
„Miss Dara Liman,“, fing er an, als hätte er mich zum ersten Mal gesehen, „Es schickt sich nicht für eine Dame einen Mann meines Alters so zurecht zu weisen. Nun verlasse mein Büro.“
Keine Konsequenz?
„Und schick mir Schwester Maria vorbei.“, fügte er noch hinzu, als ich schon dabei war die Tür zu schließen.
Also lief ich auf unsere Station und sagte ihr Bescheid, jedoch konnte ich nicht umhin ihr zu folgen. Als Schwester Maria im Zimmer von Genver verschwand, stellte ich mich an die Tür und lauschte.

Die Schwester eröffnete das Gespräch.
„Sie wollten mich sprechen?“
„Ja ich habe dir etwas über Miss Dara Liman zu verkünden.“
„Was hat die Göre nun wieder gemacht?“
„Das spielt keine Rolle, aber ich brauche deine Unterstützung um sie zu knacken.“
„Entschuldigung, ich verstehe den Ausdruck nicht?“
„Ich werde aus ihr ein seelisches Wrack machen. Sie hat für meine Erkenntnisse ein viel zu großes Selbstwertgefühl. Das Mädchen wird uns nicht mehr lange auf der Nase herum tanzen.“

In meinem Kopf ratterte es. Ich verschwand ohne wirklich zu wissen wohin, von der Tür weg.
Mir war schlecht und jetzt hatte ich wirklich Angst. Bis dato hatte ich mich erfolgreich durchgemogelt. Nach der Interpretation des Gehörten ging das nun nicht mehr. Was würde aus Clary, wenn sie aus mir ein seelisches Wrack (ich hatte keine Ahnung, wie ich das interpretieren konnte) machten? Oder aus Boris?
Diese Nacht musste ich unbedingt wieder in die Bücherei. UNBEDINGT.
Der ganze Tag lief wie ein Film an mir vorbei. Immer wieder kamen mir die Worte in den Sinn. Das sind wohl die Schattenseiten des Nichtvergessens.
Ich half bei der Essensvergabe und übte mit Clary und Boris im Vorhof die Zahlen bis 20.
Wir saßen auf einem abgelegenen kleinen Platz in der Sonne. Ich saß der Klinik mit dem Rücken zugewandt und guckte zu, wie die beiden versuchten meine Vorzeichnungen nachzumalen.
Auf einmal wurde ich von hinten an meinen Haaren gezogen.
Ich fiel auf den Rücken. Es war Freddy einer der Gruppe B.
„Na du Göre?“, fragte er und ich rappelte mich auf.
„Was willst du?“, kam es von mir.
Er kam näher.
„Jetzt da Lisa keine Zeit mehr für mich hat, brauche ich eine neue Spielgefährtin.“, meinte er.
Eines musste man ihm lassen, trotz seiner fehlenden Intelligenz, welche zudem proportional zu seinen fehlenden Zähnen war, hatte er Kraft.
„Dann such dir eine.“
„Das habe ich. Und dann sehe ich dich hier sitzen.“
Hinter mir regte sich etwas, als Freddy noch näher kam und mich an sich zog. Ich wehrte mich.
„Lass mich los!“ Ich war schon außer Puste.
„Aber dann hätte ich gar keinen Spaß.“
„Lass sie los.“, kam es von einem sehr, sehr, sehr wütenden Boris.
Freddy schubste mich zur Seite und ich fiel unsanft auf den Boden.
„Habe ich und was willst du nun machen? Willst du mit mir kämpfen?“
Als Boris zum Schlag ansetzte, hielt ich, denn in der Zeit war ich wieder aufgestanden, seine Faust fest.
„Der ist es nicht wert“, versuchte ich den großen Mann zu beruhigen. Er nickte nur.
„Mach, dass du wegkommst.“, keifte ich zu Freddy und zumindest so viel Intelligenz besaß er. Er verschwand wirklich.
„Danke Boris“
Ich drehte mich zu dem Riesen um und umarmte ihn. Er erwiderte meine Umarmung.
„Malst du mir ein Pferd?“, fragte er.
„Ja natürlich.“

Diesmal schlich ich mich in meinen normalen Sachen in die Bücherei. Es musste doch irgendwas zu seelischer Selbstverteidigung geben. Oder sonst irgend etwas dieser Art. Ich lasse mich von diesem Puppendoktor nicht unterkriegen.
In der Bücherei brannte kein Licht, also machte ich es an.
Am Fenster stand er. An die Fensterbank gelehnt. Ich hatte gespürt, dass er dort sein würde.
„Ich wusste, dass du es wieder versuchen würdest.“, fing Julian an.
„Was?“
„Hier herein zu kommen. Es stand dir ins Gesicht geschrieben“
Er stieß sich ab und kam auf mich zugeschlendert.
„Also: Was suchst du hier?“
Ich funkelte ihn böse an.
„Was sucht man wohl in einer Bücherei? Sicher keine Kosmetikmittel.“
Mit dieser schnippischen Antwort hatte er nicht gerechnet.
Ich setzte aber noch eins drauf: „Und ein Backrezept suche ich auch nicht, falls du das Denken solltest“
Nun starrte er mich regelrecht an.
„Und was suchst du dann?“, fragte er, als er sich wieder gefangen hatte.
„Nun ein Buch.“
„Das ist mir auch klar.“
„Dann hättest du dir die Frage auch sparen können.“
„Was für ein Buch?“
„Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“
„Mich würde nur interessieren, was eine Frau in deinem Alter, so spät in der Nacht in der Bücherei sucht. Etwas Verbotenes vielleicht?“
Ich antwortete nicht.
„Vielleicht darf ich meine Hilfe anbieten?“
„Nein.“
Die schnelle Ablehnung verblüffte ihn. Ließ ihn sprachlos werden. Anscheinend ein Gefühl, welches er selten kannte.
Ich ließ ihn stehen, immerhin hatte ich eine Aufgabe zu erledigen. Jedes Buch, welches ich noch nicht in der Hand hatte, schaute ich mir an und durchforstete ungenau die Seiten um herauszufinden, um welche Art Buch es sich handelte.
Ich spürte, dass er mich angaffte.
„Hör mal ich muss mich hier wirklich konzentrieren und du störst. Entweder du gehst deinen Tätigkeiten weiter nach und sei es nur doof in der Ecke rumstehen, aber BITTE starr mich nicht so an.“, blaffte ich ihn an.
„Tätigkeiten, ja?“, er schüttelte kichernd den Kopf. „Interessant.“
„Nicht all zu sehr.“ Er setzte sich auf den Boden und begann ein Buch zu lesen, welches ich auch erst vor kurzem zum 2. Mal gelesen hatte. Es war ziemlich hochtrabend geschrieben. Um ehrlich zu sein gehörte es in keine Klinik in der Kinder, sowie geistig behinderte Menschen einquartiert sind.
Eine ganze Weile war es ruhig und er tat gar nicht der Gleichen mir etwas zu tun.
Ich schien etwas Vertrauen aufzubauen, denn ich fragte: „Wieso bist du eigentlich hier? Also nicht in der Bücherei sondern in der Klinik?“
Er hob den Kopf.
„Meine Eltern sind der Meinung, dass ich zu Rowdy-Haft bin.“
„Das kann ich mir vorstellen“
„Und was ist mit dir?“
„Ich denke, dass ich den Idealen meiner Eltern, als kleine brave Hausfrau nicht so ganz entspreche.“
„Das wiederrum, kann ich mir vorstellen.“
Dafür erntete er ein Lächeln. Er packte da Buch beiseite.
„Schon fertig?“, fragte ich und lächelte siegessicher, „Oder ist dir der Schreibstil von Magnus Kawals etwas zu trivial?“
Er guckte mich an.
„Um ehrlich zu sein, werde ich nicht warm mit ihm, was daran liegt, dass dieser Schreibstil alles andere als trivial ist.“
„Ich musste es auch mit Duden lesen“, gestand ich.
„Du hast dieses Buch gelesen?“, fragte er ehrlich überrascht.
„Ja zweimal.“
„Du verarscht mich doch?“
„Ich tue was?“
„Mich verarschen?“
Ich hatte diese Redewendung noch nie gehört. Um ehrlich zu sein, musste ich gestehen, dass ich gelacht hätte, wenn es sich um andere Umstände gehandelt hätte. Es klang einfach witzig. Ich verarsche dich.
„Du hast keinen Schimmer, was das bedeutet, oder?“
Ich schüttelte peinlich berührt den Kopf. Er ließ mich annehmen, dass es sich hierbei um eine Bildungslücke handelte.
„Du machst dir einen Spaß daraus mich zu belügen, oder?“
„Nein ich kenne diese Redewendung wirklich nicht.“
Er schüttelte verwirrt den Kopf.
„Nein! Das war die Definition von `Jemanden verarschen`. Du kommst mir mit Begriffen wie trivial und Tätigkeiten und weißt so etwas nicht.“
„Nun ich bezweifle, dass es ein Muss ist, solch ein Wort in sein Vokabular mit aufzunehmen.“
„Das ist Jugendsprache.“
Ich wollte nicht aufdringlich wirken oder so, aber es interessierte mich brennend, was es sonst noch für Veränderungen gegeben hatte. Von den Dingen abgesehen, die ich selbst als ich noch auf freiem Fuße war, nicht kennenlernen konnte. Aber ich wollte ihm auch irgendwie nicht zeigen, wie sehr es mich interessierte.
„Ok.“
„Wie heißt du eigentlich?“
„Ist das von Belang? Was sagt der Name eines Menschen aus? Nicht das Geringste.“
„Das stimmt schon, aber ich würde gern wissen, wie ich dich ansprechen kann.“
„Gar nicht.“
Ich sollte mich von diesem Menschen fernhalten. Das sagte mir jede Faser meines Körpers.
„Es ist schon spät.“, mit diesen Worten schickte ich mich an zu gehen.
„Hebt man den Kopf, so sieht man keine Grenze.“
Ein Zitat aus dem Buch. Ich drehte mich nicht um, nicht um zu fragen, was er damit meinte und doch verfolgte mich dieses Zitat die ganze Nacht.

Die Tage verstrichen und es passierte nichts Spektakuläres. Ich fand kein Buch, was mir im Geringsten weiterhelfen konnte. Julian war ebenfalls öfter in der Bücherei, doch unsere Gespräche fielen ehr karg aus, was mehr an mir lag, als an ihm.
Ich fing an ihn zu mögen und das war ein absolutes Vergehen an mir selbst. Aber wie konnte man einen so aufmerksamen und klugen Menschen nicht mögen können? Ich verstand die Welt nicht mehr. Männer sollten nicht so nett zu Frauen sein. Ich hatte gedacht, hatte angenommen, dass dies in irgendeiner Weise verboten war.
Und dann ging ich in der Nacht von Samstag auf Sonntag zurück ins Zimmer. Die Tür stand offen und ich ahnte, was passiert war. Schwester Maria kam heraus und lief mir entgegen.
„Wo warst du? Das wird ein Nachspiel haben!“, meckerte sie los.
„Was ist passiert?“
Doch sie musste mir nicht antworten. Sie kamen mit einer Trage aus dem Zimmer, eine Decke über die leblose Gestalt, die sich darunter verbarg. Lisa war die erste Tote, die ich sah. Und wieder brannte sich das Bild unwiderruflich in meine Gedanken.
Ihr weißer, dünner Arm lugte unter der Decke hervor. Ich zitterte. Klar war Lisa nicht die erste, die in diesem Zimmer gestorben ist, aber bei meiner vorherigen Zimmergenossin hatte ich tief und fest geschlafen, als es passierte.
Ich beobachtete, wie sie von zwei fremden Männern weggetragen wurde.
Hatte ihr Gott sie erhört? Ich hoffte für sie, dass sie nun an einem besseren Platz war.
Sollte ich jetzt einfach ins Bett gehen und so tun, als wäre nichts passiert?
Ich stand da wie angewurzelt, unfähig mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Schwester Maria kam mit einem Lappen und einem Geschirrhandtuch.
„Du solltest jetzt schlafen gehen.“, giftete sie mich an.
„Ich soll zurück in dieses Zimmer?“
„Ja ich mache doch jetzt sauber. Sei nicht so zimperlich.“
Die hatte ja Nerven. Mit einem Lappen. Wer weiß, was für Infektionskrankheiten dort Samba tanzten.
Langsam ging ich ins Zimmer und beobachtete wie Schwester Maria oberflächlich das Bett säuberte in welchen Lisa gestorben war. Ich setzte mich auf den Rand meines Bettes.
„Ich werde dein Fehlen morgen der Klinikleitung melden.“, sagte sie, als sie das Licht ausschaltete und mich allein ließ.
Allein.
So allein, wie Lisa heute Nacht gestorben ist. Die Erkenntnis traf mich mit einem tiefen Stich. Ich konnte mir zwar nur schwer vorstellen wie es ist zu sterben, aber ich bin der festen Überzeugung, dass niemand allein sterben sollte. Allein in einem dunklen Zimmer. Ohne Jemand, der einem beruhigende Worte zuflüstert. Ohne Jemand, der einen den tiefen Schmerz für kurze Zeit vergessen lässt.
Das allerletzte Gefühl auf Erden sollte kein Schmerz sein.
Ich hasste mich dafür, nicht im Raum gewesen zu sein. Ich gab mir zwar in keinster Weise die Schuld, ich hätte es nicht verhindern, aber angenehmer machen können. Als ich die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster stechen sah, bemerkte ich erst, dass ich weinte. Ich kniete mich auf den Boden und faltete vor meiner Brust die Hände zusammen.

Lieber Gott, wenn du mich hörst, dann muss ich mich wohl dafür entschuldigen, dass ich in letzter Zeit nicht bis gar nicht gebetet habe, aber ich denke, dass du die Gründe verstehst. Ich hoffe auch, dass dich meine Bitte nicht entsetzt, denn sie ist ohne jegliche Neigung von Hohn, Arroganz oder Verachtung. Ich bitte dich lediglich Lisa bei dir aufzunehmen und eine schützende Hand auf Clarissa und Boris zu haben. Ich bitte dich, weil ich nicht die Mittel und die Kraft dazu habe dies selbst zu tun.
Sicher haben wir immer eine Wahl, aber ich bin am Ende und ich habe Angst.
Ja jetzt weißt du es! Ich habe Angst vor dem Verlieren und dem Vermissen. Das sind Gefühle, die ich nur allzu gut kenne und dennoch.. Sie jagen mir eine Heiden Angst ein.
Lieber Gott, ich erbitte nur dies. Bitte.

Und wieder verschwamm meine Sicht und ich fing bitterlich an zu weinen.
Am Sonntag vergab mir Schwester Maria eine Ausgangssperre, als Strafe für mein Nichteinhalten der Nachtruhe. Es wäre nicht so gewesen, dass mich irgendwas an diesem Tag aus dem Bett gebracht hätte. Ich aß nicht, ich trank nicht. Meine Tränen waren schon in den frühen Morgenstunden versiegt und doch wollte ich weinen. Ich konnte jedoch nicht. Am späten Nachmittag bekam ich einen Zitteranfall und ich musste mich übergeben. Ich hatte schon Bilder im Kopf, wie ich an meinem eigenem Erbrochenen ersticke, wäre Schwester Maria nicht kurz herein gekommen um zu gucken, ob ich noch da war.
Sie war natürlich alles andere als begeistert, als sie mich da so liegen sah, aber sie säuberte mich und bezog mein Bett neu. An mir lief das wiederum nur als Film ab.
Solche Phasen hatte ich übrigens öfter. Daher war es auch für Schwester Maria nicht weiter neu, dass ich nicht redete und mich kaum bewegte.






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