Autor: Carly
veröffentlicht am: 19.07.2013
Am 27. Juni sollte sich mein Leben endlich ändern! Ob zum positiven, oder negativen sei dahingestellt, doch zumindest kam ich aus dem tristen Alltag heraus.
Ich war gerade damit beschäftigt, mit Helena die Hecke in unserem Aphroditengarten zu schneiden, als Herr von Cratz auf uns zu kam und sich vor uns aufbaute. Sein Gesicht wurde von Unruhe umspielt. „Katharina, bitte erscheine in fünf Minuten in meinem Büro.“, ich nickte und war verwirrt, warum er nicht Pralle geschickt hatte, sondern persönlich gekommen war. Das war nämlich das Einzige, was er sagte, bevor er wieder verschwand. Ob andere Mitarbeiter wohl auch so oft Aufmerksamkeit bekamen, wie ich? Obwohl es nüchtern betrachtet ja nicht oft war. Einmal drei Tage in zwei Monaten. War vielleicht auch der normale Durchschnitt.
„Was hast du denn schon wieder angestellt?“, fragte Helena und blinzelte ebenso durcheinander, wie ich. Was hieß hier denn eigentlich schon wieder? Und meinem Wissen nach, hatte ich überhaupt gar nichts angestellt. Es sei denn, man konnte neuerdings Gedanken lesen. Die waren in der Tat nicht immer jungendfrei und angemessen. Ich seufzte.
„Nichts. Rein gar nichts.“
„Komisch.“, sie zuckte mit den Achseln und schnitt den Busch weiter.
„Kommst du bitte mit zum Büro?“
„Wieso das?“, sie legte ihren Kopf schief. „Ich mag nicht alleine.“, gestand ich und kicherte überaus kindisch um meine Unsicherheit zu überspielen. „Gut, aber ich bleibe nur vor der Tür stehen und warte.“
Ich salutierte zustimmend und wir marschierten los. Warum war ich eigentlich nicht einfach mit ihm mitgekommen? Von dem Nixengarten bis zu seinem Büro waren es immerhin ein paar Minuten. Zumindest in dem Demutsgang, den Helena und ich hinlegten.
Als wir vor der Tür standen und ich spannungsgeladen zu ihr rüberblinzelte, machte sie eine auffordernde Bewegung, wodurch ich mich dazu durchrang, anzuklopfen.
Ein Tiefes, aber freundliches „Komm rein“ ertönte und ich drückte den Henkel nach unten und trat herein. Doch kaum hatten meine Augen den Innenraum erfasst, wäre ich am Liebsten wieder rückwärts heraus gepurzelt.
Der Kaiser saß auf dem Ledersessel vor von Cratzs Schreibtisch und stand mit meiner Ankunft auf. Was war denn jetzt schon wieder los? Wollte er mich nicht endlich in Ruhe lassen? Litt er irgendwie an Amnesie? Er hasste mich fast so sehr, wie ich ihn.
„Was geht hier vor?“, fragte ich, schloss die Tür hinter mir und blickte meinen Arbeitgeber fragend an. Er zuckte kaum merklich mit den Schultern.
„Ich wollte Euch sprechen, Fräulein Hengest.“, sagte der König und ging auf mich zu, „Ihr habt meinen Brief zurückgewiesen und ich wollte mich vergewissern, das es sich hierbei um ein Missverständnis handelt.“
„Es tut mir Leid, es Euch so direkt zu sagen, doch ich habe kein Interesse daran Eure Mätresse zu werden.“
Mätresse! Helena! Die Chance, von der sie geredet hatte, sie war tatsächlich da!
Gleichzeitig schossen mir die Worte meiner Mutter in den Sinn, die befohlen hatte, auf jedes Wort des Kaisers zu hören. Was sollte ich nur tun? Ich wollte sicher nicht mit dem Mörder meines Vaters schlafen. Bäh!
Herr von Cratz schien mehr als überrascht.
„Was kann ich tun, um Euch umzustimmen?“
„Nicht viel. Aber ich hätte da einen Vorschlag.“
William von Hohenzollern zog eine Augenbraue nach oben. Ich stellte unerfreut fest, dass ich nicht wie vermutet die Einzige war, die zu dieser Tat fähig war.
„Ihr erinnert Euch an Helena von Verdenz?“
„Mir dünkt den Namen bereits gehört zu haben.“
„Die blonde Badefrau, die Euch das letzte Mal betreut hat.“
„Ja, da habt Ihr Recht, ich erinnere mich.“
Natürlich hatte ich das! Ich werde ja wohl noch meine beste Freundin kennen. „Wie dem auch sei. Was würdet Ihr von Ihr als Eure neue Mätresse halten?“, fragte ich und spitzte meinen Blick. Komm schon! Sie hat ein hübsches Gesicht.
„Ihr wisst schon, welche Möglichkeiten eine Konkubine haben kann? Es ist nicht selten der Einstieg in den Adel.“
„Das ist mir durchaus bewusst.“
„Und dennoch würdet Ihr diese Möglichkeit an Eure Kollegin abtreten?“
„Mit Vergnügen sogar.“
Von Cratz schwieg immer noch. War er verstummt? Er saß auf seinem Stuhl und beobachtete uns gebannt. Ab und zu musste ich diesem schönen Kerl einen kleinen Blick widmen. Seine Ratlosigkeit wirkte einfach zu süß. So hatte ich ihn noch nie gesehen.
„Ich bin überrascht. Doch das vermögt Ihr ja des Öfteren zu erreichen. Doch ich möchte mich der Ehrlichkeit bedienen“
Was ganz Neues…
„Fräulein von Verdenz ist meinem Empfinden nach keine Frau, mit der ich meine Zeit verbringen möchte. Sie hat keinen Biss und ist meiner Interpretation nach auch nicht attraktiv.“
Boar, das hatte gesessen. Sie war ein bisschen mollig und hatte keine Wespentaille, war das schon Grund genug, sie als unattraktiv anzusehen?
„Dann sehe ich leider keine Möglichkeit einer Einigung. Wenn Ihr mich nun entschuldigen würdet, Euer Hoheit.“
„Das werde ich gewiss nicht tun. Eigentlich war es in meinem Sinn dies zu vermeiden, doch ich werde nun einen Befehl aussprechen. Herr von Cratz sei mein Zeuge. Ich befehle Euch, Fräulein Katharina Hengest, auf meinem Schloss in meine Dienste zu treten. Als Konkubine. Von Nun an bis an Euer Lebensende.“
Er hatte diese Worte in einem derartigen Befehlston ausgesprochen, dass es mir kalt den Rücken herunter lief. Mein Mund öffnete sich und ich konnte mich in der letzten Millisekunde daran hindern, den Kaiser als Idioten öffentlich zu beleidigen. Er entschied schon wieder über mein Leben, zum zweiten Mal traf er eine Entscheidung, die mein Leben verändern beziehungsweise verschlechtern sollte.
„Das geht nicht. Ich habe eine Familie, die auf das Geld, welches ich hier verdiene angewiesen ist!“
„Geld soll kein Problem mehr sein. Ihr werdet um das hundertfache verdienen.“
„Meine Mutter braucht meine Hilfe bei den Kindern.“
„Für eine Haushaltshilfe werde ich höchst persönlich Sorge tragen. Als meine Kurtisane ist für Euch und Eure Familie gesorgt, Katharina.“
Er blickte mir eindringlich in die Augen. Sein Blick war starr und fest. Er duldete kein Widerwort. Er erwartete nicht mal eins.
„Ihr habt bis Morgen Zeit Euer Hab und Gut zu packen. Ich werde Euch hier im Sprudelhof zum zweiten Läuten des Kirchturmes abholen und mit auf mein Schloss nehmen. Gehabt Euch wohl. Ihr dürft abtreten.“
Abtreten?! Dich werde ich zertreten!
Ich konnte es nicht fassen! Sollte ich weglaufen oder ihn erschlagen? Tränen quollen auf. Ich hasste es, wenn jemand über mein Leben entschied. Niemand hatte das Recht dazu. Ich stürmte nach draußen. Vorbei an Nena, die meinen Namen rief, vorbei an den zwei Türmen, die den Feierabend einläuteten und somit meinen letzten Abend bei meiner Familie. Mein Atem reichte so lange, wie noch nie. Ich war gekränkt, verletzt und enttäuscht. Was sollte Helena nun denken? Den Titel den ich ihr versprochen hatte, sollte ich nun tragen?
Ich war noch Jungfrau. Ich wollte heiraten! Kinder bekommen! Eine Mätresse hatte kaum eine Chance zur Ehe. Sie durfte zwar heiraten, doch wer wollte das?! Wer wollte sich um die unehelichen Kinder eines Kaisers kümmern und sie sein Eigen nennen? Wer wollte mit der Gewissheit in eine Ehe gehen, dass die Frau mit einem anderen schlafen musste? Gegen ihren Willen!
„Katharina, um Gottes Willen! Was ist passiert?!“
Ich stürmte selbst an meiner Mutter vorbei und ließ mich auf mein Bett fallen. Meine Mutter rannte mir sorgend nach und setzte sich auf die Bettkante. Sie strich über meine Haare. Ich war ihr Sorgenkind, das wusste ich.
Ich richtete mich wieder auf und wischte meine Tränen ab. Doch es brachte nichts. Sofort kamen neue. Meine kleinen Geschwister setzten sich zu mir und knuddelten mich, ohne den Grund meiner Trauer zu wissen. Ich schätzte diese Eigenschaft. Sie konnten trösten, wie sonst keiner. Niemand hatte dieses Talent. Sie fragten nicht weiter nach, sondern wiegten sich in stummem Mitgefühl. Ganz anders meine Mutter.
„Katharina, so sprich doch mit mir.“
„Mutter.“, ich sprach ruhig und sah sie nicht an, „bleibst du fest in deiner Meinung, dass man jeden Befehl des Kaisers zu befolgen hat? Egal welcher Lebenseinstellung er dich beraubt. Egal ob er dir Ehre und Zukunft nimmt?“
Ich betete, dass das Wort „Nein“ fallen würde und sie sich Morgen gegen den Kaiser auflehnen würde. Das sie das nicht tat, muss ich nicht erzählen oder? Sie war einfach zu sehr von der Monarchie überzeugt. Sie glaubte tatsächlich daran, dass der Kaiser von Gottes Gnaden ernannt worden war. Ich hatte diesen naiven Glauben mit dem Verlust meines Vaters verloren. Ich wollte nun seine Ideale weiterleben und nicht ihre.
„Ja, meine Tochter. Egal welche Opfer ein Mensch bringen muss. Denk daran, du tust dieses Opfer nicht für dich. Du tust es für das Glück des Volkes.“
„Was hilft es dem Volk, wenn ich ihm uneheliche Kinder schenke? Wenn ich wie in einem Gefängnis lebe und das Sonnenlicht nicht sehen darf? Welchen Nutzen trägt das Volk, wenn ich jede Nacht die Augen schließe und warte, bis der Kaiser endlich meinen Raum verlässt und ich mich mit Schande in den Augen wieder anziehen darf? Welchen Nutzen Mutter?“
Sie blickte mich ratlos an.
„Was hat das zu bedeuten, Kind?“
„Es hat zu bedeuten, dass der Kaiser einen Befehl ausgesprochen hat, der mich Morgen zu seiner Mätresse machen wird.“, ich spürte die Leere in meinem Blick. Meine Augen fingen überhaupt kein Bild ein. Sie starrten vor sich hin ohne wirklich etwas zu sehen.
„Aber Katharina! Du hast eine völlig falsche Sicht auf diese Sache.“, ihr Gesicht begann zu strahlen und sie nahm meine Hände zwischen ihre, „Ist es nicht eher die Erlösung auf die wir so lange warten? Du hast die Möglichkeit in den Adel aufzusteigen, sobald der Kaiser dir einen Adelstitel verliehen hat.“
„Wer sagt, dass er das vorhat?“
„Selbst wenn er es nicht tut, wirst du mehr verdienen, als alle von uns zusammen. Wir würden endlich aus der Armut aussteigen können. Es ist ein Segen, Katharina, ein Segen. Und du musst es als Ehre ansehen, dass der Kaiser dich entjungfern wird. Viele Mädchen träumen diesen Traum. Nun lebe ihn und rette uns aus dieser schweren Zeit.“
Konnte das wirklich die Rettung aus der Armut sein? Würden meine Geschwister ein gutes Leben haben, nur weil ich meinen Körper verkaufte? Wenn die Worte meiner Mutter der Wahrheit entsprachen, wollte ich es tun. Nicht für mich und schon gar nicht für den Kaiser, sondern für die Kleinen, die nun wieder vergnügt auf dem Boden rumrutschten und spielten. Für die, um die ich mir stets Sorgen machte.
„Ich werde es tun“, hörte ich mich sprechen, wobei mir bewusst war, dass ich sowieso keine Wahl hatte. Der Kaiser hatte den Befehl ausgesprochen. Würde ich mich dem widersetzen, war Arbeitslosigkeit noch mein geringstes Problem.
„Ich bin stolz auf dich! Dann schlaf dich nun aus und ziehe Morgen dein teures Kleid an.“
Ich nickte. Meine Mutter gab mir einen Kuss auf die Stirn und ging.
Teures Kleid? Im königlichen Schloss kosteten wahrscheinlich sogar die Bettvorleger mehr. Aber ein anderes hatte ich in der Tat nicht. Ich holte es aus dem Schrank und fasste über den rauen Stoff. Die letzte Veranstaltung, zu der ich dieses Kleid getragen hatte, war zur Hochzeit meiner großen Schwester. „Kathi?“, mein kleiner Bruder zupfte an meinem Rockzipfel. Ich hob ihn hoch und lächelte ihm zu, „was denn?“
„Heißt das, du gehst weg?“
Ich nickte. „Und was ist eine Mädesse?“, fragte die Nächste. „Eine Mätresse? Hm, schwer zu erklären. Das lasst ihr euch morgen schön von der Mama erzählen, ja?“
Sie stimmten einstimmig dafür und ich war mir sicher, dass sie es sowieso schnell wieder vergaßen, oder zumindest das Wort selbst nicht lange behalten werden konnte.
Der Kirchturm läutete und ich war überrascht, wie tief ich geschlafen hatte. Mein Bauch jedoch randalierte. Ich hatte auch gestern nichts mehr zu Abend gegessen. Aber selbst jetzt fehlte mir die Zeit dafür. Meine Mutter machte meine Haare, während ich das weinrote Kleid anzog. Sie bürstete sie ordentlich durch. Was bei meiner Lockenmähne schmerzhaft und nahezu unmöglich war. Sie machte mir eine Hochsteckfrisur und machte die Kleinen fertig. Mein Bruder musste Arbeiten und würde zu dem Abschied nicht kommen.
Meine Mutter schickte mich voraus und versprach nachzukommen.
Als ich das Badehaus betrat, wurde ich sofort von Bettina abgefangen und in den Aufenthaltsraum geschleift. Dort warteten bereits alle Badefrauen und sahen sich ratlos an. Ein leises Getuschel kam aus allen Ecken. Wie viel wussten sie? Ich fühlte mich unwohl in meiner Haut. Allein, dass ich nicht in Arbeitskleidung war, verriet, dass es um mich gehen würde.
Herr von Cratz betrat auch nur wenige Minuten später den Raum und ließ seinen Blick über die molligen Frauen schweifen.
„Ich möchte euch alle dazu auffordern, dass die folgenden Stunden nicht an die Öffentlichkeit dringen. Sollte ich davon erfahren, dass eine von euch ihren Mund geöffnet hat, um über Katharina Hengest zu reden, wird die Kündigung noch in der gleichen Stunde folgen. Vollkommene Diskretion ist gefragt.“
Die Worte verwirrten mich. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass so ein Geheimnis aus der Sache gemacht werden würde. Immerhin waren Mätressen eines Monarchen oft dem ganzen Volk bekannt und sogar in der Kirche toleriert. Das es sich um einen legitimierten Ehebruch handelte, schien die Welt zu ignorieren.
„Der Kaiser William von Hohenzollern wird Katharina mit auf sein Schloss nehmen.“
Bei diesem Satz sah ich, wie jeglicher Glanz aus Helenas Gesicht wich. Sie wurde blass und ernst. Oh, nein! Hoffentlich würde sie das Ganze nicht in den falschen Hals bekommen.
Meine Unsicherheit war mir sicherlich anzusehen. Doch was sollte ich machen? Ich hatte Angst vor dem, was folgen sollte. Ich hatte Angst vor dem Kaiser, Angst vor dem Schloss und Angst vor dem Adel. Angst, Angst, Angst! Und ich wusste nicht warum diese Panik meine Glieder dermaßen lähmte. Ich hatte mich nie zuvor so hilflos gefühlt.
„Das Volk soll vorerst nicht erfahren, um wen es sich handelt. Der Kaiser wird sie öffentlich zur Schau stellen, wenn er es für richtig hält. Somit müssen wir Katharina in einen Schleier hüllen, damit sie nicht erkannt werden kann.“
Er schickte Pralle weg, um ein ganz bestimmtes Kleid aus den Privaträumen zu holen.
Als mir von Cratz gerade keine Aufmerksamkeit widmete ging ich auf Helena zu, doch ich sah, wie sie rückwärtsgehend den Raum verließ. Die anderen Frauen tummelten sich nun um mich und schälten mich aus meinen Klamotten. Es war mir äußerst unangenehm. Ich konnte gar nicht verstehen, wie Adlige es genießen konnten, von fremden Frauen ausgezogen zu werden. Ich kannte hier jede einzelne Frau und konnte es nicht als angenehm empfinden.
Es klopfte an der Tür und meine Mutter trat ein. Sie hatte unsere alte Ledertasche dabei und lächelte mich mit Tränen in den Augen an. Pralle hatte mittlerweile ein schwarzes, bodenlanges Kleid geholt, in das ich reingezwängt wurde. Ein Schleier wurde in meiner Frisur befestigt und hing nun über mein Gesicht. Meine Sicht war somit neblig. Die Aufregung stieg. Mit jedem schmachtenden Blick, der mir zu teil wurde, wurde ich mir mehr und mehr die Schwere dieser Veränderung bewusst.
„Gute Arbeit die Damen! Nun lasst mich bitte mit Fräulein Hengest alleine.“
Alle, inklusive meiner Mutter, gehorchten Cratz und verließen den Raum. Ich sah ihn demütig an, dabei wusste ich nicht mal, ob er meine Augen sehen konnte.
„Ich möchte dir, Katharina, auf diesem Wege alles Gute wünschen. Du warst, trotz aller Differenzen, eine herausragende Arbeitskraft und…du wirst mir fehlen.“, er nahm meine Hand und küsste diese. Ich begann zu schluchzen. Ich hätte niemals gedacht, dass es mir schwer fallen könnte, diesen Beruf an den Nagel zu hängen, doch er bedeutete mir etwas. Wie es immer schön heißt: Man weiß erst, wie sehr man etwas liebt, wenn man es vermisst.
„Herr von Cratz, ich danke Euch für alles, was Ihr für mich getan habt.“
Er nahm den Schleier zwischen seine Finger und legte ihn über meinen Kopf, um mir in die Augen zu sehen. Er umschloss mein Gesicht mit seinen Händen. Sie zitterten etwas und waren sehr kalt. Doch es war die erste, und wohl einzige intime Berührung. Er kam mit seinem Gesicht nah an meines. Eine elektrische Spannung baute sich zwischen den wenigen Millimetern unserer Lippen auf und ich rechnete schon damit, dass er mich jeden Moment küssen und ich den ersten Kuss meines Lebens erfahren würde. Dann zuckte er jedoch weg und blickte in eine andere Richtung. War es der Kaiser oder seine Ehefrau, der ihn nun daran hinderte zu tun, was sein Körper von ihm verlangte?
„Vergiss uns nicht.“
„Niemals.“, hauchte ich, worauf er den Schleier wieder vor mein Gesicht fallen ließ. Er hob die Ledertasche auf, die meine Mutter im Raum stehen gelassen hatte, und bedeutete mir mit einer Handbewegung raus zugehen. Wir verließen den Raum und gingen zur Eingangshalle des Badehauses sieben. Der Kaiser und Graf Emil warteten dort bereits auf uns. Natürlich waren noch mehr vom königlichen Hof anwesend, die ich jedoch nicht kannte.
Der Kaiser kam auf mich zu und begrüßte mich mit einem bezaubernden Lächeln. Auch er entfernte den Schleier aus meinem Gesicht und vergewisserte sich, dass es sich um mich handelte. Er nickte von Cratz zu und wir liefen nach draußen. Auf dem Innenhof standen bereits Kutschen. Große Kutschen mit jeweiligem Vierergespann Pferden. Nun wurde es tatsächlich ernst. Es gab kein Zurück mehr.
Außerdem war eine große Menschenmenge anwesend, um das Schauspiel zu beobachten. Ich erspähte zwar meine Familie, doch wer fehlte war Helena. Sie war verschwunden. Ein Kutscher öffnete mir die Tür der zweiten Kutsche und deutete hinein. Als ich meinen Fuß bereits zum Einsteigen angehoben hatte, überkam mich eine Welle der Unzufriedenheit und ich machte auf dem Ansatz kehrt, um meinen Blick erneut durch die Menge schweifen zu lassen. Meine Mutter schüttelte den Kopf. Ein entsetztes Raunen ging durch die Menge. Aber was sollte ich tun? Ich konnte nicht gehen, ohne Helena alles zu erklären. Ohne ihr klar zu machen, dass ich alles versucht hatte.
Zusätzlich waren so viele Augen auf mich gerichtet, die mich verunsicherten. Ich entfernte mich weitere zwei Schritte von der Kutsche. Von Cratz hatte seine Stirn in Falten gelegt und schien meine Gefühle verstehen zu können, doch damit schien er der Einzige zu bleiben. Plötzlich kam Graf Emil und drückte mich an den Schultern zurück. Mit sanfter Gewalt zwang er mich dazu, in die Kutsche einzusteigen.
Das Getuschel der Menschen wurde lauter. Ich beugte mich und setzte mich auf diese gepolsterten Bänke. Der Graf setzte sich zu mir und schloss die Tür.
Die Kutsche setzte sich sofort in Bewegung. Ich versuchte weiterhin Helena durch das Fenster zu erblicken, doch sie war tatsächlich nicht da. Ich startete in ein neues Leben, ohne Helena sagen zu können, wie leid es mir tat. Es tat mir im Herzen weh. Ich riss den Schleier von meinen Haaren und ließ meinen Kopf gegen die Kutschenwand sinken. Durch die Kopfpflastersteine wurde die Kutsche erschüttert und übertrug dieses Vibrieren auf meinen Kopf.
„Fräulein Hengest, warum sträubt Ihr Euch so gegen ein besseres Leben?“, fragte der Graf plötzlich und blickte mich mit seinen offenen Augen an.
„Woher wollt Ihr wissen, wie mein Leben in Bad Nauheim war? Ihr kennt mich nicht.“
Ich erwiderte seinen Blick nicht. Ich verfolgte viel lieber, wie die Stadtlandschaft meiner Heimat sich immer weiter von uns entfernte. Mein Herz wurde immer schwerer, doch ich wollte keine Träne mehr vergießen. Ich war nie eine Heulsuse gewesen und das war sicher auch kein Grund für mich, in Tränen auszubrechen. „Warum sitzt Ihr eigentlich nicht bei Eurem Kaiser?“
„Weil ihn die absurde Befürchtung plagte, Ihr könntet aus der Fahrenden Kutsche springen.“
„Gar nicht so abwegig.“, gab ich zu und musste zum ersten Mal etwas darüber kichern, was um mich geschah. Hätte meine Seite der Kutsche eine Tür, hätte ich diesen Versuch auch in Anwesenheit des Grafen in Erwägung gezogen. Doch das über ihn drüber springen, war dann doch keine Möglichkeit meiner Sportlichkeit.
„Wie lange wird die Reise eigentlich dauern?“, fragte ich, während ich die wandelnde Landschaft verfolgte.
„Einige Stunden, schätze ich.“
„Sagte Euch der Kaiser, warum er ausgerechnet mich wollte?“, ich vermied es das Wort Mätresse in den Mund zu nehmen. Egal wie viele andere Namen es dafür auch geben mochte.
„Nicht direkt. Er sagte nur, er hätte eine Frau einer äußerst seltenen Gattung getroffen.“
„Äußerst seltene Gattung“, ich schnalzte missbilligend mit der Zunge, „ich bin doch kein Tier.“
„Durchaus nicht.“
Ich blickte zum ersten Mal seit der Abreise zu dem Grafen herüber. Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen.
„Seid Ihr verheiratet, Graf Emil?“
„Wozu sucht Ihr Antwort auf eine solche Frage?“
„Ich weiß nicht, ist mir so in den Sinn gekommen.“
„Es schickt sich nicht für eine Dame vom Hofe, die Ihr nun zweifelsohne seid, die Gedanken auf der Zunge zu tragen.“
„Nun haben diese Gedanken jedoch meine Zunge verlassen.“, ich kicherte.
„Nein, ich bin ledig.“, antwortete er plötzlich in einem etwas kränklichen Ton. „Das wundert mich ein wenig. Ihr seid charmant.“
„Ich danke, doch wieder war der weg von Kopf bis Zunge nicht sehr weit.“
„Oh, das ist wahr. Ich sollte besser aufpassen. Seid Ihr des Schreibens mächtig?“
Auf einmal wurde der Graf von einem offenen Lachen geschüttelt. „Dies war keine Gedankenfrage. Ich würde Euch gerne um einen Gefallen bitten.“
Er wurde Augenblicklich ruhig und wartete, bis ich fortfuhr.
„Ich konnte mich nicht von meiner Freundin verabschieden. Sie kann lesen, da ihr Vater ihr dies lehrte. Er war Schriftführer. Ich würde ihr gerne einen Brief schreiben. Es ist mir jedoch nicht möglich. Würdet Ihr diesen für mich verfassen?“
„Am Schloss gibt es Schreiber, die für solche Aufgaben zuständig sind.“
„Es ist aber sehr privat und ich würde diese Aufgabe gerne von jemandem übernehmen lassen, dem ich vertrauen kann.“
„Ihr vertraut mir bereits?“
Ich überlegte kurz. Ja, vertraute ich ihm? Ein klein wenig schon. Er wirkte seriöser als der Kaiser. Er schien zwar Gefühlen gegenüber sehr verschlossen zu sein, doch das machte ihn für mich auf ironische Weise vertrauenserweckend.
„Sagen wir, ich kenne nicht viele hier, doch von meinen wenigen Bekanntschaften gebt Ihr mir das Gefühl, welches dem Gefühl des Vertrauens am Nächsten kommt.“
Er lächelte geschmeichelt: „Gut, wir werden beginnen, sobald wir in Schloss Himmelstein angekommen sind.“
„Himmelstein?! Ich dachte es geht nach Hohenzollern?!“, verwirrt blinzelte ich ihn an und musste mir verkneifen, seine rot hervortretende Narbe neben der Nase zu betrachten.
„Aber nein! Sein Urgroßvater war lediglich der Erbauer der Burg Hohenzollern. Aber es handelt sich, wie der Name schon sagt, um eine Burg. Leben tut er selbstverständlich in einem Schloss. In dem Schloss Himmelstein.“
„Noch nie gehört! Aber bis dahin kann ich nicht warten. Könnten wir nicht jetzt mit dem Brief beginnen?“
„Aber wie soll ich denn bei diesem Gewackel die Feder ordentlich führen? Es wird nicht gerade meiner schönsten Handschrift gleichen.“
„Das soll es auch nicht. Hauptsache, sie kann es lesen.“
Der Graf atmete einmal tief durch und stimmte letzten Endes zu. Er holte ein kleines Tintenfass, eine große Vogelfeder und dunkles Pergamentpapier aus seiner Tasche. Er öffnete das Tintenfässchen und gab es mir in die Hand. Gespannt sah ich zu, wie er den gespitzten Anfang der Feder in die schwarze Tinte tauchte. Ich hatte noch nie gesehen, wie jemand geschrieben hat. Ich hatte bisher nur die fertigen Schriften gesehen. Deswegen schaute ich gebannt auf das Papier.
„Ihr solltet mir schon diktieren, was ich schreiben soll, sonst wird das Papier lange leer bleiben.“
„Ach ja. Also: Liebe Helena“, ich unterbrach noch einmal, „der Inhalt bleibt aber unter uns!“
„Ihr habt mein Wort.“
„Ich danke Euch! Gut, noch einmal von vorne:
Liebe Helena,
Ich weiß genau, was die Ereignisse des heutigen Tages für Gefühle bei dir ausgelöst haben. Du fühlst völlige Enttäuschung und Verrat. Doch ich hoffe, du wirst den Brief zu Ende lesen, bevor du ihn weglegst. Mir ist es wichtig, dir zu erklären, was passiert ist und warum alles so kam, wie es kam. Du hast meine Bestürzung am vergangenen Tag doch gesehen. Es war nicht in meinem Sinne Konkubine zu werden. Ich habe versucht, den Kaiser zu überzeugen, dass du die Richtige bist. Er wollte nicht auf mich hören. Und diese Reise trete ich nur an, weil der Befehl des Kaisers mir im Nacken sitzt. Um tausendes lieber wüsste ich dich in dieser hölzernen Kutsche sitzen.
Ich bin sicher deine Gefühle für William von Hohenzollern sind ernst und kommen von Herzen. So wäre für dich dies eine Reise ins Glück. Ich fühle Angst und Unsicherheit. Doch bedenken wir einmal deine Worte: Ist es meine Bestimmung, so wird eine neue Chance kommen!
Das Schicksal spielt seine Spiele, und es gibt einen Sinn dahinter, den wir nicht sehen können. Doch die Zukunft wird uns belehren.
Weißt du noch was? Du bist zweifelsohne sowieso zu gut für den Kaiser. Das sollen keine Worte sein, die ich nur verfasse, um dich wieder Wohl zu stimmen, sondern, die mir mein Herz verrät. Du bist so ein besonderer Mensch und verdienst jemand Besonderen. Du weißt, was der Kaiser meiner Familie angetan hat, was er dir und mir angetan hat. Beiße dich nicht an Äußerlichkeiten fest………………………………“
Der Brief wurde länger, als ich gedacht hatte. Meine Gedanken waren ein rotes endloses Band. Nach jedem Zentimeter, der geschafft war, entdeckte ich die weiterführende Schnur. Graf Emil schrieb in schnörkeliger Handschrift mit. Ich war fasziniert von seiner Haltung der Hände dabei und beobachtete ihn mit Vergnügen. Ich hatte mich im Laufe des Schreibens sogar an seine Schulter gelehnt, um besser sehen zu können. Umso länger der Brief wurde, desto schöner sah der Zettel aus. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass er ohne dieses Gewackel noch schöner schreiben konnte. Vielleicht verstand ich aber auch schlicht und ergreifend nichts davon.
„Ich will, dass du weißt, wie viel du mir bedeutest! Pass auf dich auf und vergesse mich nicht. Ich werde dich niemals vergessen!
Deine Katharina Hengest, auf ein baldiges Wiedersehen.“
Der Graf nahm mir das Tintenfässchen aus der Hand und verschloss es wieder. Er pustete über das Blatt und faltete den Brief zusammen. Dann überreichte er ihn mir. „Ich danke Euch von Herzen.“
„Das habe ich gerne getan. Dennoch kann ich mir die Bemerkung nicht verkneifen, dass mich der Inhalt etwas überrascht hat.“
Ich nickte: „Kann ich mir vorstellen. Doch denkt an euer Wort!“
„Natürlich, kein einziges Wort wird meine Lippen je verlassen.“
„Es war doch richtig Euch zu vertrauen!“, freute ich mich und ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus und meine Laune hatte sich seid der Abfahrt so erheblich gebessert, dass ich es gar nicht verstehen konnte. Vielleicht war es einfach die Last, die nun durch den Brief von meinen Schultern fiel, oder es war die Dauer der Reise, die etwas Gras über die Sache wachsen ließ.
„Seht Ihr? Das ist Himmelstein.“, der Graf zeigte nach draußen und eine große Residenz nahm meine Aufmerksamkeit ein.
Ich hauchte einen Laut der Begeisterung. Es sah alles so wunderschön aus. Fast wie in den Geschichten, die ich meinen Geschwistern immer auftischte. Die Angst wich der Neugier auf das Neue. Vielleicht war es wirklich gar nicht schlecht, mal in das Leben der Oberen fünftausend blicken zu dürfen.
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