Schatten des Mondes - Teil 5

Autor: Ai
veröffentlicht am: 11.10.2012


Träge schleppte ich mich zur Tür um sie zu öffnen. Am liebsten hätte ich sie auch gleich wieder zugeschlagen, als ich sah, wer da stand. Es war Martha Diggins. Zur Abwechslung mal einfach nur ein Mensch, dafür ein ganz besonders lästiger. Sie war – und diese Beschreibung passte zu ihr, wie die Faust aufs Auge – ein altes Klatschweib. Das war einer der Gründe, warum ich sie nicht so Recht leiden konnte.
„Hallo Schätzen“, sagte sie und kniff mir mit ihren dicken Wurstfingern in die Wange. Das war der Zweite. Und der Dritte war, dass sich diese Frau anscheinen nur einmal pro Woche wusch, obwohl sie schwitzte, wie ein Schwein und um ehrlich zu sein, so sah sie auch aus.
„Mrs Diggins“, sagte ich, mit dem falschesten Lächeln, dass ich aufbringen konnte. „Was führt Sie hierher?“
„Ach Schätzchen“, seufzte sie und versuchte sich, an mir vorbei ins Haus zu quetschen. Doch ich ließ nicht locker und blieb in der Tür stehen. Sie hatte keine Chance. Wenn ich wollte, konnte ich eine ungeheure Kraft aufbringen, die selbst schwitzende Schweine davon abhielt, in mein Haus zu kommen.
„Was gibt’s, Mrs Diggins?“ fragte ich noch einmal genervt.
„Nun ja“, wenigstens hatte sie jetzt aufgegeben, ins Haus zu kommen. „Ist deine Mutter zuhause? Ich war nämlich schon in ihrem Laden, aber da …“
„Nein, ist sie nicht!“ unterbrach ich sie. Ich konnte ihr dummes Geschwafel nicht leiden. Dauernd redete sie um den heißen Brei herum. „Kann ich ihr etwas ausrichten?“
„Nein, nein. Schon gut Kleines!“ Plötzlich war sie gar nicht mehr scharf darauf, ins Haus zu kommen. Ganz im Gegenteil, sie wollte so schnell wie möglich weg von hier. Ich konnte mir schon denken, warum. Tja, Pech für Mrs Schweinebacke, dass mir meine Mutter zwar nicht Alles erzählte, aber Alles über ihre Kunden. Sie wollte Mama wahrscheinlich schon wieder um einen Liebeszauber für ihren fledermausohrigen Sohn bitten. Sie konnte es einfach nicht ertragen, dass ihr fast vierzigjähriger Prachtjunge einfach keine Frau fand. Doch Mama konnte solche Zauber, die Leute zu etwas brachten, was sie eigentlich gar nicht wollten, überhaupt nicht leiden. Außerdem gab es keinen Liebeszauber, der seine Wirkung nicht doch irgendwann verlor. Somit war diese Bitte ziemlich sinnlos. Trotzdem kam Mrs Diggins mindestens einmal in der Woche damit an.
Aber jetzt huschte sie, schneller als ich gedacht hätte, dass sie es könnte, über die Straße. Dabei war ihr der Umzugswagen natürlich nicht entgangen. Und als ich die Tür wieder schloss, war ich mir sicher, dass Mrs Diggins schon mindestens zwei Leuten von den neuen Nachbarn erzählt hatte.
Genervt trottete ich wieder zurück zu meinem Müsli, das inzwischen schon total durchgeweigt war. Ich hasste matschiges Müsli. Also kippte ich es in Chicas säuberlich ausgeschleckten Napf, woraufhin diese sofort die Ohren hob und langsam wieder aus ihrem Dornröschenschlaf erwachte. Ihre Prioritäten waren klar gesetzt. Essen, schlafen, spielen, spazieren gehen.
Ich beschloss, dass es langsam Zeit wurde, sich aus den Schlafsachen und in normales Gewand zu begeben. Nachdem ich mir einen Rock und ein Shirt übergestreift und meine Haare gemacht hatte, ließ ich mich auf mein Bett fallen und schloss für einen Moment die Augen. Was der Einzug unserer Neuen Nachbarn wohl für Folgen haben würde? Wussten diese Menschen überhaupt, wo sie da hingezogen waren? Ich bezweifle das sehr, denn außerhalb dieses Tals waren all diese Kreaturen nur ein Märchen. Abgesehen von den Kreaturen selbst, die irgendwo auf dieser Erde lebten, wusste niemand, dass sie wirklich existierten. Deshalb erschien es mir äußerst unwahrscheinlich, dass ausgerechnet diese Menschen wussten, er oder was ihre neuen Nachbarn waren.
„Violette? Kommst du mal bitte?“ Die Stimme meiner Mutter riss mich aus meinen Gedanken.
„Ja“, sagte ich. während ich auf dem Weg nach Unten war. „Was gibt’s?“
„Es geht um die neuen Nachbarn“, sagte sie kühl.
„Die Menschen?“
„Nicht ganz.“
„Was heißt nicht ganz?“ fragte ich verwirrt.
„Es sind keine Menschen.“ Keine Menschen? Was sollte das nun schon wieder heißen? Ich konnte doch Menschen von magischen Kreaturen unterscheiden.
„Was sollen sie den bitteschön dann sein?“
„Na ja, eigentlich sind es schon Menschen, aber streng genommen sind es keine.“ Was?
„Mama, bitte hör auf in Rätzeln zu sprechen und sag mir einfach wer oder was sie sind!“ Langsam war ich genervt.
„Geister.“
„Was?“
„Es sind Geister.“
„So was gibt’s?“
Mama musste lachen. „Wir leben in einer Stadt voller übernatürlicher Wesen und du wunderst dich, dass es Geister gibt?“
„Ja, ich hab noch nie welche gesehen.“
„Das liegt wohl auch daran, dass magische Wesen generell und die meisten Menschen auch nicht zu Geistern werden.“
„Es gibt Geister“, stellte ich erstaunt fest.
„Ja, das hast du gut erkannt“, sagte Mama schmunzelnd. Sie wollte mich nur ärgern, aber ich ging nicht darauf ein.
„Und was wollen die hier?“
„Wohnen.“
„Aber es sind Geister. Heißt das nicht, dass sie eigentlich nicht mehr in diese Welt gehören?“
Meine Mutter runzelte die Stirn. „Ja, eigentlich hast du recht.“
„Und warum sind sie dann hier?“
„Weil sie ganz offensichtlich noch nicht dorthin können, wo sie eigentlich hingehören und bevor sie irgendwo in Montana herumirren und die Leute verrückt machen, hat Draco sie zu uns geholt.“
„Und warum können sie noch nicht weg?“
„Tja“, sie zuckte mit den Schultern. „Das wissen nur sie. Es gibt wohl noch irgendetwas, das sie an diese Welt bindet.“
„Wie lange sind sie schon tot?“ fragte ich neugierig.
„Fast fünfzig Jahre.“
„Was?!“ Das hatte ich nicht erwartet.
„Sie, also die Familie Wilcker, kam bei einem Großbrand in ihrem eigenen Haus um.“
„Was ist passiert?“
„Das Dienstmädchen hatte wohl durch das Stochern im Kaminfeuer, einen Funken auf den Teppich befördert und nicht bemerkt, was sie getan hatte.“
„Ist sie auch dabei?“
„Nein, sie wurde kein Geist. Nur die Familie Wilcker, also Mr und Mrs Wilker und ihre Kinder Elizabeth und William durften diese Welt noch nicht verlassen.“ Wie traurig.





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