Autor: Sundown
veröffentlicht am: 26.08.2013
Schweigend betrachtete sie sich im Spiegel. Es war totenstill um sie herum. Durch das große Fenster in ihrem Rücken fielen die goldenen Strahlen der Mittagssonne. Sie streichelten Sacht über ihren Nacken und brachten die kleinen Staubkörner, die wild und wirr durch einen Luftzug durch den Raum wirbelten, zum Vorschein. Es war ein schönes Schauspiel, das sie in der Regel nur zu gerne beobachtete. Doch nun hatte sie ihre Aufmerksamkeit einem anderen Gegenstand zugewandt, einer kleinen Kette, die sie um den Hals trug und über deren Anhänger sie mit sanften Fingerspitzen strich. Der bläuliche Stein fühlte sich glatt und geschmeidig an. Und trotz der Körperwärme, die sie ausstrahlte, war er kalt. Um ihn herum, befand sich ein herzförmiger, goldener Rahmen, der den Stein allerdings nicht zu berühren schien. Ihr war nicht bewusst, durch welche Mechanismen der Opal in seiner Fassung gehalten wurde. Es wirkte wie Magie, doch sie glaubte eher an eine andere, vernünftigere Erklärung.
Sie legte den Kopf schief, wobei ihr die kurzen, schwarzen Franzen ihres schrägen Ponys in die Augen fielen. Es war eine wunderschöne Kette. Eine Kette, von der sie sich nicht erklären konnte, wie man sie auf der Toilette in der Schule hatte liegen lassen und vergessen können. Sie hatte sich vorgenommen, den Gegenstand nur einzupacken, um ihn am nächsten Tag, sobald das Sekretariat wieder geöffnet hatte, dort abzugeben und zu melden, wo sie ihn aufgefunden hatte. Doch zu Hause angekommen, hatte es ihr zutiefst in den Fingern gejuckt, hatte sie gereizt, das goldene Teil anzulegen. Und nun konnte sie sich nicht mehr dazu überwinden, die Kette abzulegen und in ihre Schultasche zu packen. Der blaue Stein, der wie schwerelos in der Mitte des Rahmens schwebte, fesselte sie. Und wenn sie sich der Sonne zuwandte, wusste sie, dass er in tausend verschiedenen Blau-, Grün und Goldtönen schimmern würde. Es würden Farben hervortreten, die sie zuvor noch nie in dieser Kombination gesehen hatte.
Sie strich die schwarze Haarpracht, die ihr lockig über die Schultern und Brüste fiel, nach hinten, um das Schmuckstück besser betrachten zu können. Es war wunderschön. Und es wäre grauenvoll egoistisch von ihr, die Kette zu behalten und sich nicht darum zu kümmern, dass sie ihrem ursprünglichen Besitzer zurückgegeben wurde. Wahrscheinlich war sie von unvorstellbaren Wert und es würde einem Diebstahl gleich kommen, sie ohne weiteres zu behalten.
Mit einem leisen Seufzer tastete sie mit ihren langen, feingliedrigen Fingern an ihrem Hals entlang, über das Schlüsselbein bis hin zum Nacken, wo sie schließlich den winzigen Verschluss der Kette ertastete. Sie versuchte ihn zu öffnen, doch scheinbar hatte sich irgendetwas eingeklemmt, sodass sie ihn nicht ohne weiteres zur Seite schieben konnte.
„Mia?“ Die Tür zu ihrem Zimmer wurde aufgestoßen und herein trat ein stattlich gebauter Junge mit verwuscheltem braunem Haar. Auf der Nase trug er eine große Brille, die den Blick fremder Leute auf die kleine Narbe zwischen seinen Augenbrauen fast vollständig verwehrte.
„Josh“, sagte sie und wandte sich ihm lächelnd zu. Beiläufig legte sie ihre Haare um den Hals und zog den Schal nach oben, sodass er die Kette nicht sehen konnte.
„Hey“, erwiderte er und kam auf sie zu. Mit einer sachten Bewegung zog er sie an der Hüfte an sich und drückte ihr einen sanften Kuss auf die rosigen Lippen. „Ich dachte ich entführe dich heute zu einem kleinen Mittagessen?“, fragend hob er eine Augenbraue.
„Oh“, entgegnete sie schwach. „Ich würde liebend gerne, aber…“
„Aber deine Mum kocht mal wieder und dein Dad besteht auf deine Anwesenheit?“, ergänzte er und wuschelte ihr grinsend durch das Haar. „Schon in Ordnung.“
„Du kannst mit uns essen, wenn du magst.“ Sie strich ihm sanft über die Wange und beäugte ihn aufmunternd. „Das letzte Mal ist schon eine halbe Ewigkeit hier. Meine Eltern werden sich sicherlich freuen, dich mal wieder an unserem Tisch zu sehen.“
„Gerne“, er drückte ihr einen sanften Kuss auf die Stirn und trat anschließend einige Schritte von ihr zurück. „Du trägst bei diesem Wetter einen Schal?“ Er runzelte die Stirn und musterte seine Freundin zweifelnd.
„Er gehört zu meinem Outfit“, erklärte sie und deutete auf das blaue Kleid, das sie trug. „Ein Accessoire, schonmal davon gehört, Mister Keine-Ahnung-von-Mode?“
„Mit oder ohne Schal - das Kleid steht dir fantastisch.“
„Schmeichler“, sie gab ihm einen sanften Klaps auf die Brust, wo sie ihre Hand ruhen ließ. „Ich würde ja sagen, dass dir das Hemd auch ausgezeichnet steht“, fuhr sie fort, „aber ohne gefällst du mir einfach tausendmal besser.“ Ihre Augen blitzten schelmisch auf, als sie mit geschickten Fingern die ersten zwei Knöpfe öffnete und die nackte, sonnengebräunte Haut darunter zum Vorschein kam. Mit einer flinken Bewegung tauchte ihre Hand unter den feinen Stoff und ertastete die weiche, glatte Haut. Sie trat näher zu ihm, sodass sie nur noch wenige Zentimeter trennten und hob den Kopf, um zu ihm aufschauen zu können. „Hm, schon besser“, brummte sie. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und legte ihre Lippen sanft auf die ihres Freundes. Auffordernd knabberte sie an ihnen, forderte ihn auf, ihren Kuss zu erwidern, bis er schließlich mit einem leisen Lachen nachgab und sie mit seinen starken Armen fest an sich zog. „Du bist unmöglich“, murmelte er genüsslich. Sie spürte wie seine Zunge sanft ihre Lippen auseinander schob, vorsichtig tastend in ihren Mund eindrang und er sie schließlich sanft aber entschlossen küsste. Ihre Hände packten ihm am Hemd, zerrten ihn stolpernd in Richtung des Bettes, das in der hintersten Ecke des Zimmers stand. Als sie die hölzerne Kante in ihrer Kniekehle spürte, ließ sie sich rücklings auf die weiche Matratze fallen und zerrte Josh mit sich, sodass er auf ihr landete. Sie seufzte genüsslich als sie den schweren, muskulösen Körper auf sich spürte, wie er sich an sie schmiegte und wie seine Hände sanft über die Seiten ihres Bauches glitten. Doch als ihre Hände zu der Hose wanderten, die er trug, hielt Josh inne. „Was ist mit deinen Eltern?“, fragte er leise.
„Was soll mit denen sein?“, entgegnete sie und griff nach dem Gürtel, um ihn mit einer Bewegung aufzuzerren.
„Ist das nicht unangebracht, während deine Mutter oder dein Vater jeden Moment ins Zimmer stürmen könnten?“, hakte er nach und versuchte sich ein wenig von ihr zu entfernen.
„Liegt darin nicht das besondere Etwas?“, murmelte sie und reckte den Hals, um ihn zu küssen und so zum Schweigen zu bringen.
„Mia!“, sagte er energisch und umfasste ihre Handgelenke, damit sie sich nicht weiter an seiner Hose zu schaffen machen konnte.
„Was?!“, genervt funkelte sie ihn an. „Kannst du dir bitte einmal keine Gedanken machen und einfach das tun, wonach dir ist?“
„Das gehört sich nicht“, beharrte er und rollte sich von ihr runter. „Ich bin hier zu Gast, da macht man sich nicht einfach über die Tochter seiner Gastgeber her. Das gehört sich nicht“, wiederholte er.
„Oh, Josh!“, frustriert schlug sie die Hände vor das Gesicht. „Das ist doch nicht dein ernst, oder? Wir leben nicht mehr im zwölften Jahrhundert, wo alle Väter erwarten, dass ihre Töchter bis zur Hochzeit Jungfern bleiben. Zudem weiß meine Mum darüber bescheid, dass ich so etwas wie ein Sexualleben habe. Also stell dich nicht so an!“
„Das macht es nicht besser“, beharrte Josh. „Ich finde es respektlos, es hier und jetzt auf der Stelle zu tun.“
Verzweifelt schloss sie die Augen und versuchte ruhig zu atmen, um wegen Joshs Starrsinn nicht auszurasten. In manchen Dingen, war dieser Kerl verdammt altmodisch. Es war schon ein Wunder, dass sie ihn überhaupt hatte dazu bringen können, das erste Mal mit ihr zu schlafen. Hätte er zuvor um ihre Hand angehalten, um ihre Ehre und Tugend zu bewahren, wäre sie nicht weiter verblüfft gewesen.Er war stets ein Gentlemen, immer darauf bedacht, das Richtige zu tun.
„Vergiss es einfach“, sagte sie schließlich und erhob sich mit einer raschen Bewegung.
„Du bist sauer“, stellte er fest, während er sich aufsetzte. „Mia…“
„Nichts Mia“, unterbrach sie ihn fauchend und fuhr zu ihm herum, um ihn mit zornigen Augen anzufunkeln. „Ich versuche dich zu verführen und du weist mich ohne Weiteres einfach ab - und das wegen meinen verdammten Eltern, die eventuell jeden Moment ins Zimmer kommen könnten! Ich fass es nicht!“, sie raufte sich die Haare.
„Ich versuch doch einfach nur…“, er brach ab und stockte, suchte nach den richtigen Worten. „Ich fühl mich nicht wohl dabei, wenn ich glaube, dass es nicht richtig ist. Das hat nichts damit zu tun, dass ich dich nicht begehren würde - im Gegenteil. Ich möchte doch nur, dass du nicht in eine komische Situation gerätst, oder Stress mit deinem Dad bekommst, nur weil wir uns beide nicht zusammen reisen können. Du weißt wie er ist, und ich will nicht herausfinden, wie er reagiert, wenn er uns in flagranti erwischt.“
Daraufhin schwieg Mia, zu zornig, um noch etwas darauf erwidern zu können.
Irgendwie wusste sie selbst nicht, warum sie deswegen am liebsten einen gewaltigen Streit mit ihrem Freund angefangen hätte. Sie fühlte sich nicht nur zurückgewiesen. Es machte sie wütend, wütend auf Josh, dass er immer ein verdammter Gentleman sein musste und nie einfach mal locker, frei sein konnte, das tat, worauf er Lust hatte. Er war ein Mensch, der sich stets an Regeln hielt - und das war eine Charaktereigenschaft, die sie an ihm teils schätzte und teils verachtete. Mit ihm war sie in irgendeiner Weise eingeschränkt. Sie konnte diesen wilden Freiheitsdrang, diese Leidenschaft in ihrem Inneren nie vollkommen ausleben, weil er zu oft an ihrer Seite war und ihren Eifer bremste.
Sie liebte ihn - das war keine Frage. Und sie konnte sich vorstellen, ihr gesamtes Leben mit ihm zu verbringen, so tiefgründig waren ihre Gefühle für den Mann, der in jeder Situation wusste, wie er sie trösten, für sie da sein konnte. Er hatte sie in den vergangenen Wochen, Monate und Jahre, die sie nun zusammen waren, niemals im Stich gelassen, hatte sich immer für sie eingesetzt, sich zu ihr bekannt, sie vor seinen eigenen Freunden bevorzugt und hatte sie ohne zu Zögern an seine erste Stelle platziert. Er liebte sie aufrichtig und innig und lies keinen Moment verstreichen, in dem er ihr das nicht vor Augen führte.
Aber es gab Momente, da wünschte sie sich in ihrer Beziehung mehr Disharmonie, mehr Leidenschaft. Es gab zu wenige Tage, an denen sie stritten - das kam eigentlich nie vor, denn er war stets derjenige, der einlenkte, um einer Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen und sie zu beschwichtigen. Und ohne Streit, gab es keine Versöhnung, kein Auf und Ab sondern nur eine konstante Kurve, eine Gerade, ohne Höhen und Tiefen.
Doch sie hatte niemals ernsthaft darüber nachgedacht, die Beziehung zu Josh zu beenden. Sie konnte sich ein Leben ohne ihn an ihrer Seite nicht vorstellen. Wer würde sie morgens anrufen, um sicherzustellen, dass sie nicht verschlief? Wer würde sich darum kümmern, dass ihre Mathematiknoten nicht wieder in den Keller stürzten? Wer würde sie zum Lachen bringen? Wer würde ihr diese Geborgenheit schenken, die er ihr gab? Wer würde sie so verstehen, wie er es tat? Wer würde sie trösten? Es gab niemanden, der sie so genau kannte, wie er es tat. Sie hatte keine beste Freundin, die alles über sie wusste, die sie in- und auswendig kannte. Sie hatte ihn, als besten und festen Freund. Sie würde es nicht überleben, ihn zu verlieren.
Diese Erkenntnis brachte sie zu einem Seufzer. Sie drehte sich zu ihm um und legte ihm eine Hand an die Wange, um ihm gleichzeitig einen versöhnlichen, sanften Kuss auf die Lippen zu hauchen. „Schon in Ordnung“, sagte sie. „Wir holen das einfach später nach.“
Er lächelte erleichtert und nahm ihre Hand in die seine. „Dann lass uns nach unten gehen. Vielleicht können wir deiner Mutter noch etwas helfen.“
Zusammen verließen die Beiden das Zimmer, wandten sich nach rechts einer alten, hölzernen Wendeltreppe zu, die laut knarrte, wenn man auf die falsche Stelle trat. Das Haus war schon alt. Es musste mehrere Kriege und eine Menge Jahrzehnte überstanden haben - wenn nicht sogar Jahrhunderte. Es war schon seit Generationen im Besitz von Mias Familie, die sich immer sorgfältig um den Zustand des Gebäudes gekümmert hat. In regelmäßigen Abständen wurden Böden, Wände und Decken restauriert, neue Zimmer angebaut oder renoviert, der Garten neu angelegt und der Keller gesäubert, wo sich allerdings selten jemand aufhielt, da die Höhe dieses Geschosses weniger als eineinhalb Meter betrug.
Die Küche befand sich in der Etage und war mit dem Esszimmer verbunden. Mias Mutter stand am Herd, hatte eine weiße Schürze über ihre Bluse gezogen und einen hölzernen Kochlöffel in der Hand, während sie hektisch in einem großem Kochbuch blätterte. Ihr Vater saß bereits am gedeckten Tisch und las die Zeitung, die er am Morgen aus Eile hatte liegen lassen müssen.
„Oh Josh!“, hauchte Yvaine und ließ Buch und Löffel liegen, sobald sie den Jungen erblickte. Sie war eine kleine, etwas rundliche Frau, sehr herzhaft und liebevoll, und auch sehr begeistert von dem Freund ihrer Tochter. Sie drückte ihn an ihren üppigen Busen und reckte den Arm nach oben, um ihn durch das sowieso schon zerzauste Haar zu wuscheln. „Wie schön, dich mal wieder zu sehen. Ich hol gleich noch ein Gedeck raus! Du isst hier oder? Ja, natürlich isst du hier, was für eine Frage“, sie strahlte und wandte sich schnell wieder um, um an den Schrank über der Spüle zu gelangen, wo die Teller verstaut waren.
„Joshua.“ Tyron ähnelte seiner Frau in keiner Weise. Er war weder klein, noch dick, noch so herzhaft und belebt wie Yvaine. Er war ein großer, schlaksiger Mann, der seine Tochter zwar liebte, doch in ihrer Erziehung sehr streng voran ging. Er war derjenige, der die Regeln im Haus machte, der Mia sagte, wann sie zu Hause zu sein hatte. Anfangs hatte er sogar versucht ihr vorzuschreiben, wen sie mit nach Hause bringen durfte und wen nicht, doch da war er auf einen gewaltigen Widerstand gestoßen und hatte schnell einsehen müssen, dass seine Tochter da einen ganz eigenen Starrsinn hatte.
Josh gegenüber war er nicht gerade abgeneigt, doch eine große Zuneigung, wie sie seine Frau verspürte, empfand er für den langjährigen Freund seiner Tochter nicht. Er wurde in diesem Haus von Tyron mehr akzeptiert als respektiert, weil dem Vater keine andere Wahl blieb, wenn er seine Tochter nicht verlieren wollte. Diese hatte ihm schon vor Jahren klar gemacht, dass sie sich ohne weiteres für Jason entscheiden würde, würde ihr Vater weiterhin einen Aufstand gegen diese Beziehung führen und in dem Falle, dass er sie vor die Wahl stellen würde.
„Mr. Terrell“, entgegnete Joshua höflich und nickte ihm zu. Dieser hatte jedoch bereits wieder die Zeitung in der Hand und schlug eifrig die Seite um.
„Kaum zu glauben“, fluchte Tyron schließlich und fuchtelte mit dem knisternden Papier herum. „Habt ihr diesen Artikel bereits gelesen? Einfach unglaublich!“
„Was ist denn los, Dad?“, fragte Mia und ließ das Geschirrhandtuch sinken, mit dem sie gerade die Küchentheke trocken gewischt hatte. Sie ging um den Stuhl ihres Vaters herum und lugte ihm vorsichtig über die Schulter.
„Mehr und mehr verbünden sich die Städte und Dörfer die noch übrig sind mit diesen… diesen… Barbaren! Mit den Feinden! Sie vernebeln den Verstand der Menschen immer mehr mit ihren Gaben zum Reden und Handeln. Das sind Monster, das sollte man niemals aus den Augen verlieren. Monster, deren Opfer wir sind! Das sind keine Verbündete, die wir in unser Haus lassen dürfen. Verstoßen sollten wir sie, allesamt! Oder gar töten, das wäre die sicherstes Variante, diese Bastarde los zu werden…“
„Na, na, na, Schatz, du spuckst ja Gift. Wirf nicht zu eifrig mit Verwünschungen um dich, das gehört sich nicht, wenn ein Gast anwesend ist“, mahnte ihn seine Frau.
„Gast, pah“, er machte eine abschätzige Bewegung und schielte zu Joshua, der mit verschränkten Armen an der Wand lehnte und Tyron aus zusammengekniffenen Augen musterte.
„Dad“, zischte Mia, als sie die Abneigung Josh gegenüber in seinem Ton vernahm. „Sprich nicht immer in diesem Ton. Du weißt, dass ich das nicht ausstehen kann.“
Er rümpfte die Nase und schüttelte nur noch stumm den Kopf, während er sich wieder der Zeitung zuwandte. „Lykantrophe, Vampire… und das sollen wir alles unter uns dulden? Kaum zu glauben, dass dagegen nichts unternommen wird“, maulte er leise weiter. „Wie sollen wir unsere Kinder schützen, wenn wir diese Monster nicht von den Guten unterscheiden können? Akzeptieren wir sie unter uns, so zerren sie unsere Mädchen und Buben in die nächste Gasse und verspeisen sie zum Nachtisch…“
„Herr Gott noch mal, Tyron!“, schrie Yvaine entsetzt auf. „Reis dich zusammen! Was du da von dir gibst, ist kaum zu ertragen!“
„Ich finde, ihr Mann hat Recht, Mrs. Terrell“, mischte sich Joshua ein. Mia warf ihm einen eindringlichen Blick zu und schüttelte stumm den Kopf. Doch ihr Freund ignorierte diese Geste und fuhr nach einer kurzen Pause fort. „Wir leben in gefährlichen Zeiten. Sich auf diese Eindringlinge einzulassen ist ein gewaltiger Fehler, den die Menschen in naher Zukunft gewiss bereuen werden. Wir wissen nicht, von wo sie kommen, was sie sind. Es ist nie falsch, misstrauisch und vorsichtig zu sein. Nicht, in der Zeit, in der wir leben. Und dass sich einige Dörfer mit diesen Monstern verbünden, ist eine Schande. Wir können nur für sie beten, dass sie die nächsten Jahre noch erleben werden. “
„Ganz meiner Meinung“, stimmte Tyron mit ein. Das war das einzige, Mia bekannte Thema, in denen sich Mias beiden Männer nicht in die Haare bekamen, sondern in allen Punkten übereinstimmten.
„Ihr und eure Vorurteile“, murmelte sie. „Ihr verurteilt sie, bevor ihr ihnen eine Chance in unserer Heimat gebt. Ihr missbilligt ihre Existenz, wobei ihr noch nichts von ihnen wisst. Ihr seht ihre Missetaten - doch vor allem anderen haltet ihr die Augen verschlossen…“
„Mia!“, unterbrach Tyron seine Tochter streng und blitzte in ihre Richtung. „Ich verbitte dir diesen Ton. Du weißt nicht, von wo du sprichst. Doch wie solltest du auch - man kann es dir nicht verübeln. Du bist noch ein kleines, junges Mädchen, das mit seinen naiven Augen die Welt betrachtet und in ihr nur das Gute vernehmen möchte. Doch du irrst. Sie sind Mörder. Zu oft haben sie schon die unseren gestohlen…“
„In der Vergangenheit hat auch unsere Spezies Menschenmassen ausgerottet - und das nicht, um zu überleben, sondern aus minderen Gründen wie Neid, Hass oder Missverständnis gegenüber ihren Religionen, Traditionen und Kulturen. Wieso sollten wir besser sein, als die Anderen? Was macht uns besser, Dad? Unsere Menschlichkeit?“ Sie stockte kurz, als sie die Wut im Gesicht ihres Vaters erkannte. Sie wusste, dass er es nicht billigte, wenn sie ihm widersprach - vor allem nicht, wenn ein Gast anwesend war, und sei es nur ihr Freund. In seinen Augen war ein solches Verhalten respektlos und diente nur dazu ihm vor Fremde bloß zu stellen, ihnen zu zeigen, wie wenig er seine eigene Tochter doch im Griff hatte.
Und trotzdem fuhr sie fort, denn sie teilte diesen Hass und die Vorurteile den anderen Spezies gegenüber nicht. Sie konnte es nicht. Wie sollte sie auch? Wie sollte sie Lebewesen verurteilen, denen sie noch nie zuvor begegnet war? Von denen sie nur in der Zeitung las? Geschichten, von denen sie nicht einmal sicher sein konnte, dass sie der Wahrheit entsprachen? Wie sollte sie sie hassen, wenn sie von ihnen rein gar nichts wusste? Morde, Blutvergießen. Nichts Anderes wurde von ihnen erzählt. Und es war nichts Anderes als es vor einiger Zeit auch unter der menschlichen Rasse gegeben hatte . Damals hatten ebenfalls zahlreiche Mörder und Übeltäter existiert - doch genau so wie die Bösen unter der menschlichen Rasse das Licht erblickt hatten, so hatte es auch stets die Guten gegeben. Und bevor sie nicht vom Gegenteil überzeugt wurde, glaubte sie daran, dass es auch unter den Anderen eine gute Seite gab.
„Wenn du mich fragst, unterscheiden wir uns kein Stück von ihnen“, sagte sie letztendlich.
Einen Moment blieb es totenstill in der Küche und gerade als Tyron den Mund öffnete um ein Donnerwetter loszulassen, bewegte sich Yvaine zum Herd, riss einen Topf in die Höhe und zwitscherte gezwungen fröhlich: „Das Essen ist fertig! Hopp, hopp, auf die Plätze mit euch.“ Mit dem Ellenbogen schob sie Josh auf einen freien Platz am Tisch zu. „Wir wollen uns doch nicht die Stimmung mit solchen dunklen Gedanken verderben lassen, oder? Ich habe so schön gekocht, da wäre es schade, wenn es einen so bitteren Beigeschmack haben würde.“
Stumm nickten alle und luden sich die Teller voll.
„Wie war dein Schultag, Schatz?“, startete Yvaine den Versuch, ein normales Gespräch in Gang zu bringen. „Hast du irgendetwas spannendes erlebt?“
„Nein“, entgegnete Mia. „Momentan ist es ziemlich eintönig.“ Ihre Gedanken wanderten zu der Kette, die sie um den Hals trug und deren Existenz sie für einen kurzen Moment vergessen hatte.
Sie musste sie zurückbringen. Das sagte ihr ihr eigener Verstand, ihr von den Eltern erzogenes Herz, ihre Manieren. Doch die andere Seite in ihr, der verstandlose, emotionale Teil schrie, dass sie sie behalten sollte. Sie war so schön, so wertvoll… wer so etwas einfach liegen ließ, wusste dessen nicht zu schätzen. Bei ihr war sie wesentlich besser aufgehoben.
„Eintönig“, wiederholte Yvaine langsam. Ihr war anzusehen, dass sie verkrampft ein anderes Thema suchte, um die angespannte Stimmung im Raum zu lösen. „Und wie geht es dir, Josh? Ich habe gehört, dass dein Vater bald mit den anderen Männern von der Jagd zurückkommt?“
Er nickte. „Das stimmt. Sie sind bereits auf den Rückweg und haben reichlich Beute gemacht. Meine Mutter und ich wollen ein paar Dorfbewohner zusammentrommeln, die uns bei der Vorbereitung eines großen Festes zu Ehren unserer erfolgreichen Leute helfen. Vielleicht habt Ihr Interesse und mögt uns zur Hand gehen? Es soll noch an diesem Sonnabend stattfinden und es ist noch reichlich zu tun.“
Die braunhaarige Frau nickte und ihre grauen Augen wanderten zu ihrem Mann. „Wir beide werden euch da sehr gerne helfen, nicht wahr, Tyron?“ In ihrer Stimme schwang eine bestimmte Schärfe mit, die ihren Mann einen kurzen Moment alarmiert aufschauen ließ und daran hinderte, in irgendeiner Weise zu widersprechen oder sich rausreden zu wollen.
„Natürlich“, sagte er mit tonloser Stimme und senkte dabei seinen Blick zurück auf die Zeitung.
Zufrieden lächelte Yvaine, ließ Messer und Gabel sinken und faltete die Hände zusammen. „Ich werde deiner Mutter in der Küche zur Hand gehen und mein Mann wird sich um eine Menge Wein kümmern. Ich bin sicher, das wird eine wunderschöne Feier. Es ist eine fantastische Idee etwas Licht in eine so düstere Zeit zu bringen. Das wird uns alle auf andere Gedanken bringen - etwas, das wohl jeder hier dringend nötig hat. Der düstere Alltag, die grauenvollen Geschichten um uns herum - das sind Dinge, die unsere Geister und Seelen nur zu stark belasten. Zu selten hört man hier ein fröhliches, heiteres Lachen - viel mehr die wütenden Stimmen unserer Männer und das klirren der Schwerter, die aufeinanderprallen um für den schlimmsten Fall einer Gefahr gewappnet zu sein. Ich freue mich auf den Sonnabend, wo helle Musik durch die Straßen und Gassen tönen wird, wo jeder für einen kurzen Moment seine Gedanken in eine andere Richtung lenken kann. Ich bin Dankbar für die Idee deiner Familie.“ Ein warmes Lächeln funkelte in ihren Augen. „Und richte deiner Mutter aus, dass ich die Nachricht auch meinen Freundinnen überbringen werde und jeden um weitere Hilfe bitten werde“, dabei legte sie eine Hand auf die von Joshua und drückte sie sanft. „Ich weiß, dass sie es besonders schwer hatte in der vergangenen Zeit. Wie geht es ihr?“
Dankbar nickte der Junge und sagte: „Sie hat mal schlechte und mal noch schlechtere Tage. Selten einen guten, doch sie schlägt sich tapfer.“ Mia warf ihrem Freund einen tröstenden Blick zu. Sie wusste, dass ihm die Krankheit seiner Mutter sehr zusetzte. Sie litt an einer schlimmen Herzinsuffizienz, die von Tag zu Tag immer schlimmer zu werden schien. Die dadurch verursachte grauenvollen Atemnot, schien ihr bei jeder zu großen Belastung die Kehle zuzuschnüren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie nicht einmal mehr den Gang vom Schlafzimmer bis zur Küche ohne Hilfe schaffen würde.
„Wenn wir dir oder deiner Familie irgendwie helfen können - wir sind für euch da“, versprach Yvaine.
Dafür liebte Mia ihre Mutter. Sie liebte sie dafür, dass sie unglaublich hilfsbereit und liebevoll war - und das nicht nur ihrer eignen Tochter gegenüber. Sie war eine Frau, der das Wohl des gesamtes Dorfes am Herzen lag, die sich für alle Schwachen und Gebrechlichen einsetzte und stets versuchte, den Zusammenhalt des Dorfes zu stärken. Sie liebte sie dafür, dass sie immer ein offenes Ohr für jeden hatte, sie niemanden verurteilte. Sie liebte sie dafür, dass sie ihre Mutter war.
„Ich danke Ihnen, Mrs. Terrell“, entgegnete Joshua. „Meine Familie und ich wissen Ihre Unterstützung sehr zu schätzen.“
Die restlichen Minuten schwiegen alle und aßen nur still das Mittagessen auf. Danach schmiss Yvaine ihre Tochter mit ihrem Freund aus dem Haus, um in Ruhe die Küche aufräumen zu können, ohne dass ihr jemand „zwischen den Füßen rumlungerte“ - wie sie sagte. Doch Mia wusste, dass sie nur in Ruhe ein Hühnchen mit ihrem Mann rupfen wollte, der sich aufgeführt hatte, wie der letzte Tölpel.