Juliana

Autor: lucy-josephin
veröffentlicht am: 31.03.2012


Donnerstag

>Juliana! < Ermahnte ich mich und biss mir auf die Lippen. Hätte ich das bloß nicht gesagt. Bestimmt wird Christina auftauchen und mich fertig machen. Ich bin noch nicht lange auf diesem Internat, aber dass ich nicht dazu gehöre, merkt man sofort. Außer die Lehrer. Die sind eh nur auf unsere Leistung aus. Alles was zählt ist die Leistung. Wer eine schlechte Note hat oder nicht bezahlen kann, fliegt von dem Elite-Internat. Wenn Christina mich von der Schule haben will, muss sie nur irgendetwas von ihr in mein Zimmer legen und der Internatsleiterin melden, ich hätte es geklaut. Christina könnte sich so etwas leisten: Sie ist reich, hübsch und nicht dumm. Die Internatsleiterin würde Christina die Klau-Geschichte abkaufen. Sie heißt Frau Tiegel, ist eine echte Schlange und unerträglich. Sie ist dünn wie Spagel und groß, was sehr einschüchternd ist, aber lange nicht mehr wirkt. Das einzig Gute: sie \"liebt Kinder, die herausragend gute Noten haben\" Das schlechte: Sven, Gregorius, Dörte, Tessa, und ich sind Lehrerlieblinge und stehen deswegen auf der Liste von Christina. Sie nutzt die Angst vor Demütigungen aus, um die Hausaufgaben abschreiben zu >dürfen<.
Heute, mein erster richtiger Tag, hab ich sie auffliegen lassen. Das war keine gute Idee. Die Lehrerin hat sich gleich das Aufgabenblatt von Christina angeschaut, Christina ermahnt und einen Vortrag über Hausaufgaben gehalten. Am Ende wollte sie Christina noch einmal alleine sprechen. Mitten in der Pause kam Christina mit einem zufriedenen Lächeln aus dem Klassenraum. Ich ahnte was sie getan hatte, um der Strafarbeit zu entgehen: Sie hatte alles bestritten und Dörte in die Schuhe geschoben. Wenn ich Pech habe, wird sie mir auch irgendwas zugeschoben haben. Christina kam jetzt mit ihrer Clique direkt auf mich zu. Ich wollte mich gerade verkrümeln, als mich von hinten jemand am Arm packe und mich fest hielt. Ich schaute auf und entdeckte, dass Felix, Christinas Verehrer, derjenige war, der mich nicht gehen lassen wollte. Er zischte mir gefährlich leise zu, dass ich doch noch nicht gehen könne. Mir blieb keine andere Wahl, als zu warten, bis die Zicken-Clique mich und den riesigen Felix erreichte. Angespannt schaute ich die sieben superreichen Girls an. Mit einem unauffälligen Nicken wies Christina Felix an, mich loszulassen und zu verschwinden. Ein wenig wiederwillig schlurfte er weg. Ich war nun super nervös und kaute auf meiner Lippe herum, bis ich Blut schmeckte und angewidert aufhörte. Christina sprach ihre Jüngerinnen mit ihrer herrischen Stimme an: „Was fällt ihr ein, mich zu verpfeifen? Sie hast wohl noch nichts gelernt, hier auf dem Internat!“ Allgemeines Gelächter tönte mir entgegen. „Warum ist sie eigentlich hier? Bestimmt wegen einem Stipendium. So wie die aussieht…“ Mir drehte sich der Magen um. Ich hasse Leute, die über einen lästern, obwohl man direkt daneben steht. Sie behandeln mich wie Luft. Wieder tönte Christinas Stimme klar und deutlich über das Gelächter der anderen. Sie wurden alle ganz ruhig und warteten wie ein Hofstaat auf das Auffliegen eines Skandals. „Und diese Frisur. Schaut euch das an. Das Vogelnest auf ihrem Kopf!“ Abermals dröhnendes Gelächter. „Sie hat wohl kein Geld für einen richtigen Friseur!!“ Christinas treue rechte Hand Fifi meldete sich zu Wort: „Ja, sie müsste mal ihre Haare waschen! Bestimmt hat sie auch Flöhe!!“ „Bestimmt!“ Eine von den Girls nahm ihren Becher mit Apfelschorle und kippte ihn mir über. Das brüllende Lachen der Anderen kam mir entgegen, was natürlich auch die restlichen Schüler anlockte. Entsetzt über diese Dreistigkeit und mit den Tränen kämpfend rannte ich an allen vorbei und in die Toilette. Dort wurde mir auch klar, dass wenn ich jetzt zur Leiterin gehen würde, es nur noch mehr Ärger mit der Zicken-Clique gibt. Also ging ich in mein Zimmer, das ich, zum Glück, mit niemandem teilen musste, und zog mich um. Ich wusch mir das klebrige Zeug von der Haut, zog mir einen bunt gestreiften Pulli und eine ausgebleichte Jeans an. Dann ging ich hinunter, lief über einen begrünten Platz und stieg eine leicht geschwungene Treppe hoch, die zu den Schulräumen führte. Ich kam natürlich zu spät, was Herrn Gregorinski nicht gefiel. Aber nachdem ich sagte, dass ich mir meine Apfelschorle übergeschüttet habe, war er wieder etwas besänftigt und ich konnte mich wieder dem Unterricht zuwenden.
Wir nahmen gerade binomische Formeln durch und Herr Gregorinski konnte, meiner Meinung nach, kein bisschen erklären. „In drei Wochen werden wir einen Test über den kompletten Stoff des Schuljahres schreiben und …“ sagte er und der Rest seines Satzes wurde vom Stöhnen und Gemurmel der Schüler übertönt. „Darf ich um Ruhe bitten?! Ruhe! Ruhe!!“ Das Gemurmel wurde leiser und Herr Gregorinski erläuterte, dass wir des Weiteren ein neues Thema haben: wieder einmal Geometrie. Geometrie ist eine Qual. Ich schleppte mich durch Mathematik, Französisch und Deutsch. Alles außer Deutsch entspricht nicht meinem Lieblingsfach. Aber gerade in Deutsch lasen wir ein Buch. Langweilig ist der Unterricht auch noch, da ich es schon durchgelesen hatte. Außerdem musste unbedingt Sven sich neben mich setzen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass die ganze Klasse hinter meinem Rücken über Sven und mich lachte. Um Svens Annäherungsversuchen zu entgehen, rückte ich immer ein Stückchen von ihm weg. Von dieser Peinlichkeit erlöste mich der Gong, der zum Ende der Schule läutete. Ich packte meine Sachen und flüchtete vor den Zicken und Sven. Beim Vorbeigehen sah ich Christina die Verachtung, mit der sie mich musterte, an.
Als in meinem Zimmer war und an meinem Schreibtisch saß, ließ ich meinen Blick über meine neue Umgebung schweifen. Das Bett war ein stabiles, großes Teil, das schwarz lackiert war. Daneben stand ein kleines Nachtschränkchen auf dem meine 15 Bücher bestimmt keinen Platz finden würden. Ein kleines Regal und ein Schrank säumten die Wand. Die Wand war schneeweiß, der Schreibtisch groß, aber es fehlte eine Lampe. Mir war es egal, weil ich meine eigene Lampe dabei hatte. Ein Andenken an meine Mutter. An meine tote Mutter. Tot. Ein Wort, das sich in mein Leben eingegraben hat. Mein Vater und meine Mutter sind bei einem Autounfall gestorben, meine Oma und mein Opa hatten den Krieg nicht überlebt. Deshalb bin ich bei meiner Tante aufgewachsen. Jetzt liegt sie im Krankenhaus und hat einen Tumor in der linken Lunge. Ihre linke Lunge wird im Moment von einer Maschine beatmet. Meine Tante wird wahrscheinlich auch sterben. Meine letzte Verwandte. Tot.
Wie in Trance mache ich meine Hausaufgaben, erst Mathe, dann Französisch und Deutsch. Alles verschwamm vor meinen Augen und ich war nur halb bei der Sache. Schließlich legte mich aufs Bett. Dann schloss ich die Augen und fiel in einen unruhigen Schlaf.






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