Autor: Clara
veröffentlicht am: 14.05.2012
-Vic-
Ich konnte mich nicht erinnern, wie ich dort hingekommen war, aber irgendwann fand ich mich in einer kleinen ziemlich heruntergekommen Bar wieder. Ich fühlte mich wie in Watte gepackt. Alles schien seltsam weit weg und leise und stumpf. Der Wirt hatte mich wohl schon mehrmals angesprochen ohne dass ich es bemerkt hatte, denn er packte mich unsanft am Arm und schüttelte mich unwirsch, wobei er mich gereizt anmeckerte. Mühsam hob ich den Kopf und versuchte sein Gesicht zu fixieren. Das Bild schien sich mit Zeitverzögerung zu bewegen und die Farben kamen mir unnatürlich gedämpft und rotstichig vor. Mein verschwommenes Sichtfeld glitt über leere Flaschen, die vor mir auf dem Tresen standen (Hatte die alle ich getrunken?), über den versifften Tresen, den Raum, in dem die Stühle schon hochgestellt waren und eine alte dicke Frau, die mit einem triefenden Wischmopp den Boden mit brauner Brühe bedeckte und deren Schuhe schmatzende Geräusche machten, wenn sie ein Stück weiter ging, um ein weiteres Stück Boden unter Wasser zu setzen. Schließlich schaffte ich es, den Wirt anzuschauen, sah, dass sich seine Lippen bewegten, verstand aber nicht, was er sagte. Mühsam rutschte ich vom Barhocker und klammerte mich am Tresen fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Meine Kleidung klebte klamm an meinem Körper. Alles drehte sich und die Deckenbeleuchtung tanzte auf und ab wie das Licht in der Disco. Schwankend stieß ich mich vom Tresen ab und wankte auf die Tür zu, die seltsam weit entfernt schien. War dieser Raum so unglaublich groß oder kam mir das nur so vor? Als ich es zur Tür geschafft hatte und sie mühsam öffnete, schlug mir der Regen ins Gesicht. Es goss immer noch in Strömen. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Uhr es war, geschweige denn wo ich eigentlich war.
Ich tastete mich an der Hauswand entlang. Der kühle Regen, der mir hart ins Gesicht schlug, ließ meinen Verstand wieder etwas klarer werden. Erst mal musste ich einen trockenen Platz finden und dann musste ich so schnell wie möglich wieder nach Hause! Vielleicht brauchte mich Sonja ja. Vielleicht hatte ihr unantastbar wunderbarer Nico ja doch mal einen Fehler gemacht und sie war nun verletzt und brauchte mich. Oder er hatte sie einfach sitzen lassen und sie war einsam. Oder sie hatte ihm gar nichts erzählt und ihm seine bescheuerte heiße Schokolade um die Ohren gefeuert, weil sie erkannt hatte, dass er nichts für sie war und sie wartete jetzt sehnsüchtig auf mich, um mir zu sagen, dass sie mit ihm einen Fehler gemacht hatte und ich schon immer der Richtige für sie gewesen war und sie nur so verdammt lange gebraucht hatte, um das zu bemerken. Oder er hatte wie immer alles genau richtig gemacht und sie hatte ihm ihr Herz ausgeschüttet und er war verständnisvoll und besorgt gewesen und nun lag sie in seinen Armen, ruhig, zufrieden, den Umständen entsprechend glücklich und war bereit mit ihm zusammen wieder in eine Leben ohne Trauer und Schmerz einzusteigen und ich hatte sie endgültig komplett an ihn verloren.
Mir wurde schlagartig übel und in einem Schwall suchte sich mein Mageninhalt seinen Weg ins Freie. Keuchend kniete ich auf dem Boden und hoffte, dass mein Magen sich bald vollständig entleert hätte. Zitterkrämpfe überfielen mich und die Mischung aus Kälte und Nässe schien mich zu lähmen.
-Sonja-
Gedankenverloren sah ich aus dem Fenster, lauschte dem Regen und beobachtete, wie er in breiten Bächen am Glas herabrann. Ich hatte starken Regen, vor allem in Verbindung mit Gewitter, schon immer geliebt. Ich liebte es, dem Regen zuzuhören, mir von ihm Geschichten erzählen zu lassen, mich von seiner Wucht mitreißen zu lassen und war immer total entspannt gewesen, wenn es geregnet und gewittert hatte. Doch heute stimmte mich der Regen gleichzeitig traurig. Heute untermalte er die wundervollen Erinnerungen an einen Sommer, der mir zu lange her schien und erzählte eine wunderbare Geschichte, deren Hauptperson leider keine weiteren Erlebnisse mehr mit mir teilen würde, an die der Regen uns erinnern könnte. Der Regen versetzte mich zurück in eine Zeit, in der ich die Welt hätte umarmen können, in der ich alles und jeden liebte, eine Zeit, die ich niemals hatte zu Ende gehen lassen wollen und die nun, etwas mehr als ein Jahr später, abrupt beendet worden war.
Charlie, der die ganze Zeit vor dem Sofa gelegen hatte, stand auf und legte mir den Kopf auf den Schoß. Tränen schossen mir in die Augen. Ich küsste ihn auf den Kopf und vergrub mein Gesicht an seinem Hals. Einen Moment drohte der Schmerz mich erneut zu übermannen und eine Träne suchte sich ihren Weg über meine Wange in sein Fell. Ich kämpfte. > Nicht jetzt! Nein! Nicht jetzt! < Ich hatte es so lange geschafft, unsere Geschichte Stück für Stück zu erzählen, dann durfte ich jetzt nicht wieder zusammenbrechen! Die Tränen waren gerade dabei, die Überhand zu gewinnen, als ich Nicos Hand auf meinem Rücken spürte. Sanft löste er meine Hände aus Charlies Fell und hob meinen Kopf an. Einen Augenblick sah er mich einfach nur an, ich konnte seinen Blick nicht deuten. „Wie hat Charlie euch zusammengebracht?“, fragte er dann leise. Ich musste lachen. „Woher weißt du…?“, ich deutete verwirrt auf Charlie. Er grinste und zuckte nur mit den Schultern. „Also?“, fragte er fordernd. Mein Blick schweifte wieder zum Fenster und ich beobachtete wieder den Regen.
„Es war letzten Sommer, in einer Nacht wie heute. Es war ein richtig fieses Gewitter und Kilian und ich hatten uns mal wieder wegen irgendwelcher Nichtigkeiten in den Haaren. Ich weiß gar nicht mehr genau, aber ich glaube es ging darum, dass ich von einem Freund Besuch gehabt hatte und er sich tierisch darüber aufgeregt hat und meinte, ich müsse bei den anderen Bescheid sagen, bevor ich irgendwen mitbringe, es könne nicht sein, dass hier andauernd irgendwelche Typen rumlatschten ohne dass sie vorher davon wüssten oder so in der Art.“, ich musste lachen, als ich mich an Kilians übertriebenen Wutausbruch wegen dieser Sache erinnerte. Nico zog eine Augenbraue hoch und grinste. „Soso“, sagte er nur. Ein breites Grinsen machte sich auf meinem Gesicht breit. „Hmm!“, antwortete ich ihm. „Auf jeden Fall hat er sich total unnötig aufgeregt und sogar eine große Porzellanschale in der Küche auf dem Boden zerschlagen. Ich hab mich so über seinen Aufstand geärgert, es war nie die Rede davon gewesen, dass ich meinen Besuch seit neuestem anmelden musste und das war ja auch ein Jahr lang nie ein Problem gewesen und dass er sich dann so aufregt hat mich in den Wahnsinn getrieben. Und als er dann die Schüssel zertrümmert hat, hab ich gesagt, dass er mich mal kann, hab mir meine Jacke geschnappt und bin raus in den Regen. Ich musste irgendwie den Kopf wieder freikriegen und das schien mir in dem Moment mit ihm in einem Haus unmöglich. Also bin ich im strömenden Regen spazieren gegangen und hab versucht, die Psyche dieses Mannes zu entschlüsseln, was mir leider nie wirklich gelungen ist!“, ich musste erneut grinsen. Nico lachte. „Ist vielleicht auch besser so!“, er zwinkerte mir zu. Ich grinste und zuckte mit den Schultern. „Manchmal schon, ja. Aber in dem Moment hätte ich es schon gerne gewusst.“ „Hmm, also ich kann mir schon denken, was ihn so hat ausrasten lassen!“, sagte er und ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Ich sah ihn erstaunt an. „Echt? Was?“ Er sah mich verwundert an. „Er hat es dir nie erzählt?“ Ich war verwirrt. „Was hat er mir nicht erzählt?“ Nico wirkte nachdenklich, doch plötzlich grinste er verschmitzt. „Ach nichts, kann ich dir nicht sagen, das verstößt gegen den Ehrenkodex unter Männern!“ Ich musste lachen. „So was gibt es?“ Er sah mich entrüstet an. „Natürlich! Das ist das ungeschriebene Wort, das jeder Mann kennt und das immer oberste Priorität hat!“ „Und was besagt der Kodex? Dass man Frauen nicht in Männergeheimnisse einweihen darf?“, meine Belustigung stieg. Er grinste. „Unter Anderem!“ Und sein Grinsen zeigte deutlich, dass er nicht mehr verraten würde. „Aber du lenkst vom Thema ab!“, sagte er gespielt vorwurfsvoll. „Richtig! Also zurück zum Thema. Wo war ich?“ „Du musstest den Kopf freibekommen und hast sein Verhalten nicht verstanden!“ „Genau. Ich bin also im Regen spazieren gegangen…“ „Weil das ja auch so unglaublich gemütlich und entspannend ist!“, sagte Nico frech. „Hey, unterbrich mich nicht andauernd!“, ich schubste ihn lachend weg, er tat, als würde er vom Sofa fallen. „Hör auf, es handelt sich hier um ein sehr ernstes Gespräch!“, sagte ich lachend. Er setzte sich aufrecht hin, legte die Hände auf seine Knie und sah mich mit aufgerissenen Augen an. „Ich lausche gebannt jedem deiner Worte!“ Ich musste losprusten. Dann wurde er wieder ernst und sah mich abwartend an. „Du hast noch nie einen Spaziergang im strömenden Regen gemacht, oder?!“ Er zeigte mir einen Vogel. „Spinnst du? So was machen nur so durchgeknallte Leute wie du!“ Ich sprang auf. „Dann komm mit!“, ich griff nach seiner Hand und zog ihn in Richtung Terasse. Er ließ sich das Stück mitziehen, blieb dann aber unter dem Dach der Terasse stehen und weigerte sich, auch nur einen Schritt in den Regen zu machen, der wie eine Wand wirkte. „Komm schon!“, ich versuchte ihn das Stück zu ziehen, aber er hatte nicht nur einen enormen Größen- sondern auch einen nicht ganz unerheblichen Gewichtsvorteil mir gegenüber und so interessierte es ihn nicht im Mindesten, dass ich an ihm herumzerrte. „Oh komm schon, das ist wirklich toll!“, quengelte ich. „Du hast wirklich einen Knall!“, sagte er lachend und verschränkte die Arme vor der Brust. „Okay, dann geh ich eben ohne dich!“, sagte ich trotzig und stand mit zwei großen Schritten im Regen, barfuss, in Top und Jeans und wendete dem Regen das Gesicht zu. Dann breitete ich die Arme aus und fing an, mich laut jauchzend im Kreis zu drehen. Der Regen fühlte sich wunderbar an: Kühl und frisch und rein und kräftig. Er erweckte mich zum Leben und erst jetzt bemerkte ich, in was für einer Lethargie ich die letzten Wochen gesteckt hatte. Meine Augen waren geschlossen und ich konzentrierte mich auf das Gefühl der Tropfen auf der Haut und das Rauschen des Regens und das wunderbare Gefühl des nassen Grases unter meinen nackten Füßen. Ich fühlte mich frei, vollkommen losgelöst. Bilder von Kilian und mir im Regen tauchten in meinem Kopf auf. Charlie kam von der Terasse heruntergestürmt und umsprang mich mit freudigem Gebell.
„Sonja, du spinnst! Lass den Quatsch! Komm wieder her! Du wirst noch krank!“, rief Nico mir immer wieder verzweifelt von der Terasse aus zu, doch ich ignorierte ihn. „Komm her, sonst hol ich dich!“, rief er drohend. Ich lachte. „Wenn du dich traust!“, rief ich ihm zu und wendete wieder mit geschlossenen Augen mein Gesicht dem Himmel zu.
Und dann stand er auf einmal vor mir. Ich ließ die Augen geschlossen und tat, als würde ich ihn nicht bemerken, doch er stand einfach nur direkt vor mir. Minutenlang. Langsam öffnete ich die Augen und sah ihn an. „Und, sehr schlimm?“ Er grinste. „Furchtbar!“, sagte er und kam einen Schritt auf mich zu. Eine halbe Ewigkeit sahen wir uns einfach nur an. Ich fand seinen Blick zu intensiv und wollte den Blick abwenden, aber ich war wie gebannt und schaffte es einfach nicht wegzuschauen. Dann senkte er verlegen den Blick. „Kommst du freiwillig mit rein oder muss ich dich tragen?“, die Verlegenheit war verschwunden, er sah mich auffordernd an. Ich verschränkte die Arme. „Du hast dich vorhin ja auch geweigert, warum also…“, ich konnte den Satz gar nicht beenden, da hatte er mich schon geschnappt und trug mich entschlossenen Schrittes zurück zur Terasse. Erschrocken schrie ich auf und klammerte mich an seinem Hals fest. Charlie rannte aufgeregt um uns herum.
Als wir im Trockenen angekommen waren, setzte er mich langsam ab und ich löste vorsichtig die Arme von seinem Hals. Als er mich ansah, traute ich mich kaum zu atmen. Seine Nähe schien irgendetwas Seltsames mit meinem Kopf anzustellen, was mir die Fähigkeit klar zu denken nahm.
Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4 Teil 5 Teil 6 Teil 7 Teil 8 Teil 9 Teil 10