Autor: Clara
veröffentlicht am: 19.04.2012
-Vic-
Als ich Stunden später den ersten Zorn etwas überwunden hatte und mich nicht mehr fühlte, als müsste ich ihn erwürgen, sobald er mir begegnen würde, ging ich nach unten, um mir etwas zu essen zu holen. Draußen tobte ein ziemlich ungemütlicher Gewittersturm und ich stellte mit einem Seufzen fest, dass Sonjas Hund Charlie mir so freudig entgegenkam, dass mir sofort klar war, dass sie wohl nicht mit ihm draußen gewesen war. Na super. Jetzt hatte ich diesem Arsch auch noch zu verdanken, dass ich mit dem Hund bei dem Sauwetter raus musste. Normalerweise war Sonja sehr gewissenhaft, was den Hund anging. Sie hatte hart dafür gekämpft, dass wir akzeptiert hatten, dass der Hund hier wohnen durfte und hatte sich deshalb immer besonders bemüht, dass Charlie uns nicht zu Last fiel. Mittlerweile war der riesige, sabbernde aber unglaublich leibenswerte Doggenrüde uns allen wirklich ans Herz gewachsen und ich war auch oft mit ihm unterwegs, aber bei diesem Wetter konnte ich da echt drauf verzichten. Charlie rannte aufgeregt um mich herum, aber entgegen meiner Erwartungen lief er nicht zur Tür sondern stürmte in die Küche, in der Licht brannte. >Oh, dann ist Sonja also noch auf. Deswegen ist er so hippelig<, dachte ich, doch in der Küche wurde ich erneut überrascht. Nico stand am Herd und kochte heiße Schokolade. Erschrocken drehte er sich zu mir um und begann sofort sich stotternd zu rechtfertigen: „Sonja hat so gefroren… Ich hab sie hoch geschickt… Duschen… Was Warmes anziehen… Damit sie sich aufwärmen kann…“, er deutete auf den Topf. Innerlich musste ich lachen. Wie leicht er doch aus der Fassung zu bringen war. Aber obwohl er so deplaziert in unserer Küche wirkte, hatte ich doch gleichzeitig Respekt vor ihm. Er hatte es also doch geschafft, an sie heranzukommen. Ich weiß nicht, wie er das machte, aber irgendwas musste an ihm sein. Fragte sich nur was. Wie schaffte er es, zu ihr durchzudringen? Ich musste das unbedingt herausfinden. Er rührte verlegen in dem Topf herum. Meine Anwesenheit schien ihn nervös zu machen. Es schien, als könne er mich nicht richtig einschätzen, was mich ein bisschen ruhiger werden ließ. Solange ich für ihn eine Gefahr darstellte und er wusste, dass das mein Haus und mein Mädchen waren, würde er sich wohl kaum danebenbenehmen und wenn doch…na ja, er würde es merken.
Charlie setzte sich neben ihn und sah ihm beim Rühren zu. „Er mag dich“, stellte ich in einem leicht verbitterten Tonfall fest, da Charlie mich anfangs nicht gemocht hatte. Er war immer eifersüchtig gewesen und sah mich immer mehrere Sekunden lang an, wenn ich mit Sonja geredet hatte, bevor er ihr hinterherlief. Es war, als wollte er mir sagen, dass er mich im Auge behielte. Entsprechend distanziert war ich dann ihm gegenüber. Ich fand ihn gruselig. Und obwohl er ein Hund war, fühlte ich mich permanent von ihm beobachtet und überwacht und das machte mir Angst, zumal seine beeindruckende Körpergröße (sein Rücken befand sich in etwa auf Hüfthöhe und sein Kopf etwas über dem Bauchnabel) mich dann doch etwas Respekt haben ließ. Aber Nico schien er auf Anhieb zu mögen. Was hatte dieser Mann bloß? Erst Sonja und jetzt auch noch Charlie. Wie kam es, dass er ihn sofort mochte und ich so hart daran hatte arbeiten müssen? Meine Laune drohte zu kippen. „Mhh, das hat Sonja auch schon gesagt“, sagte Nico und lächelte leicht. >Na super. Jaaaa. Ganz große Klasse. Streu doch auch noch Salz in die Wunden! < Ich versuchte, nicht an die Decke zu gehen und ging so ruhig wie nur möglich an den Kühlschrank. Meine Hand zitterte, als ich nach der Wasserflasche griff. Ich krampfte die Hand um die Flasche und machte die Kühlschranktür wieder zu. Vielleicht etwas heftiger als nötig. Ich sah Nico und Charlie zusammenzucken und verwundert zu mir herüberblicken. „Charlie, wir gehen!“, sagte ich mit unterdrückter Wut und nahm immer drei Stufen auf einmal, als ich die Treppe hinaufstürmte. Erst oben bemerkte ich, dass der Hund mir nicht gefolgt war. Er war wohl bei IHM geblieben. Ich stürmte die Treppe wieder runter, schnappte mir meine Jacke und meine Schuhe, verschwand nach draußen in den Regen und rannte los. Ich musste irgendwie meinen Kopf wieder klar bekommen. Ich durfte mich von dieser Eifersucht nicht mitreißen lassen!
Erst als ich schon einige hundert Meter gelaufen war, fiel mir auf, dass ich die Jacke nicht angezogen hatte (hätte auch nichts genützt, es war nämlich die Falsche), die Wasserflasche immer noch in der Hand hielt, keinen Hausschlüssel dabeihatte und mein Handy auf dem Küchentisch abgelegt und nicht wieder eingesteckt hatte. „FUCK!“, schrie ich eine Häuserreihe an, aber der Regen verschluckte alles und ließ es seltsam dumpf klingen. Ich stellte die Flasche auf dem Bürgersteig ab, warf mir meine Jeansjacke über die Schultern und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Langsam ging ich weiter. Immer geradeaus. Schritt für Schritt. Keine Ahnung wohin. Hauptsache nicht mit meinen Gedanken alleine im Regen herumstehen.
-Sonja-
Nico hatte heiße Schokolade gemacht. Ich war gerührt. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass er nicht mehr da wäre, wenn ich wiederkomme. Aber er war da. Unerschütterlich sorgenvoll. Und warm. Vielleicht war es das, was mich daran hinderte, ihn einfach wegzuschicken. Die Wärme, die er mir gab, die ich so vermisste in der letzten Zeit.
Er wirkte verlegen, als er mir die große Tasse entgegenstreckte. „Du hättest das nicht machen brauchen“, sagte ich. Ich musste abweisend geklungen haben, denn er wirkte ein wenig eingeschnappt. „Du musst es ja nicht trinken!“, sagte er kühl. „Tut mir Leid, war nicht so gemeint!“, versuchte ich mich zu entschuldigen. „Danke!“, ich nahm die Tasse entgegen, setzte mich ans andere Ende vom Sofa, zog die Beine an und kuschelte mich in eine Decke ein. Dann schloss ich beide Hände um die Tasse und genoss die Wärme der Tasse und den Geruch nach Zuhause und Beschütztsein und Sorgenfreiheit. Ich sah ihn an und wusste, er konnte sehen, wie es mir ging. „Wo soll ich anfangen?“, fragte ich schließlich und versuchte mich mental darauf vorzubereiten, zu erzählen ohne in Tränen auszubrechen. „Ganz von vorne“, sagte er leise und in seinem Tonfall lag etwas, was ich nicht deuten konnte. Ich schluckte. „Du hast alle Zeit der Welt!“, sagte er, zog seine Schuhe aus und setzte sich bequemer hin. Es war wie immer, er saß am einen Ende des Sofas, ich am anderen. Irgendwie unnatürlich weit voneinander entfernt und hatten vor, über den Tod meines besten Freundes zu reden. Die Situation kam mir paradox vor. Ich versuchte mich zusammenzureißen und begann stockend zu erzählen:
„Als ich hier eingezogen bin, hatte ich hauptsächlich das Ziel vor Augen, für möglichst wenig Geld an ein möglichst großes Zimmer in einer WG zu kommen. Die Personen, mit denen ich zukünftig zusammenwohnen sollte, erschienen mir gar nicht so wichtig. Ich dachte mir, die sind ja eh nie da, die werden mich schon in Ruhe lassen. Und dieses Haus hier war umwerfend für den Preis, den das Zimmer gekostet hat. Das Haus, die Gegend und ganz ehrlich, die Jungs waren optisch auch ein Grund hier einzuziehen“, ich musste grinsen. Nico sah mich an. Sein Grinsen war mindestens genau so breit wie meins. „Na ja, also so toll sind die jetzt auch wieder nicht!“, sagte er und klang gespielt eingeschnappt. Ich musste lachen. „Man sieht, dass du keine Ahnung hast! Doch sind sie!“, ich zwinkerte ihm zu. „Das sind Männer, wo glaub ich keine Frau was dagegen hat, sich mit ihnen Wohnzimmer, Bad, Küche und Garten zu teilen. Jede meiner Freundinnen, die hier waren, hat einen halben Herzinfarkt bekommen, als sie gesehen hat, mit was für Typen ich zusammenwohne und wollte sofort einziehen.“ „Die spinnen doch alle!“, sagte er und schüttelte lachend den Kopf. „Also, obwohl ich die Jungs optisch ganz ansprechend fand…“ „Was ich nicht verstehen kann“, unterbrach mich Nico grinsend. Ich warf ihm einen gespielt genervten Blick zu. „Also noch mal: Ich fand die Jungs zwar optisch ansprechend, aber mir war schon bei der ersten Besichtigung klar, dass das reiche, verwöhnte, eitle Schönlinge sind, die sich eindeutig für was Besseres halten. Aber wie gesagt, ich dachte ja, ich würde nicht allzu viel mit ihnen zu tun haben. Also war ich begeistert, als ich das hier gesehen habe.
Schon in den ersten Tagen wurde ich eines Besseren gelehrt, was das Miteinander in einer WG betrifft. Die Jungs waren aufdringlich, scheinbar immer da, wo ich gerade hinwollte und so interessiert an meinem Privatleben, dass ich Angst hatte, sie würden mein Zimmer durchsuchen, wenn ich mal wegginge. Auch das Charakterliche hatte ich gewaltig unterschätzt. Die Jungs waren das eitelste, aufgeblasendste und faulste Pack, das mir je untergekommen war. Es gab permanent Streit. Vor allem wegen Kleinigkeiten wie den Müll raus bringen, das Wohnzimmer aufräumen, der ganze Mist halt, der so anfällt. Außerdem war Kochen diesen Männern ein Fremdwort. Die konnten nicht mal Nudeln kochen.“ Nico sah mich verwundert an. „Wie bekommt man so was hin?“ „Keine Ahnung, die wurden immer von ihrem Personal bekocht und als sie in die WG gezogen sind, haben sie zu Bestellungen übergewechselt. Ihr Motto war „Arbeit ist Raub der Würde“ oder so in der Art.“ „Klingt nach supernetter WG-Gesellschaft!“, sagte Nico lachend. „Überaus liebenswert, aufmerksam, fleißig, leise, angenehm zurückhaltend, ordentlich, genügsam, bescheiden,…“, ich musste lachen. „Nein, natürlich waren sie schrecklich! Dann hat aber die Schule wieder angefangen und dann war ich immer erst gegen Abend wieder hier und dann waren sie nicht mehr da. Sie sind jeden Abend zu irgendwem Feiern gegangen. Also hatte ich hier meine Ruhe. Schlimm waren nur die Wochenenden. Die Jungs haben immer ewig lang geschlafen und ich hab mich dann nie getraut, mich im Haus zu bewegen, weil ich Angst hatte, sie zu wecken. Später stellte ich fest, dass die Angst völlig unbegründet war. Und wenn es ein Erdbeben gegeben hätte, wäre keiner von denen wach geworden!“ Nico grinste. „Ja, so Leute kenne ich auch!“ „Na ja, irgendwann hat sich das mit den Streitereien gegeben. Ich hab abends immer mit einen von ihnen zusammen gekocht, wir haben den Gärtner gekündigt und die Putzfrau und mit der Zeit wurden die Jungs immer selbstständiger. Wir haben immer mehr miteinander unternommen und haben Freundschaften geschlossen. Der Einzige, mit dem ich nie warm geworden bin, war Kilian.“ Nico sah mich erstaunt an. „Du und Kilian, ihr wart die besten Freunde, die ich mir vorstellen kann!“ „Nein. Im ersten Jahr, in dem ich hier gewohnt hab, war er abweisend und aggressiv, hat immer gemeckert und auf mir rumgehackt. Keiner konnte sagen, warum. Aber wir haben uns oft richtig heftig gestritten. Er gab immer vor absolut cool und unnahbar zu sein. Als wäre die WG nur ein Zwischenstopp, den er machen musste, um seine Ziele zu erreichen. Er hat sich benommen, als sei ihm alles egal. Die Anderen kannten das schon und hatten sich alle so mehr oder weniger akzeptiert. Aber du kennst mich ja, ich komm mit so was nicht klar.“ Nico nickte und grinste mich an: „Das kenne ich nur zu gut!“, ich schubste ihn lachend weg. Mir fiel auf, dass er jetzt nur noch ein paar Zentimeter von mir entfernt saß. Er war also, ohne dass ich es gemerkt hatte, zu mir herübergerückt. Wir sahen uns an und trafen das stille Einverständnis, dass ich so tat, als hätte ich es nicht bemerkt und als wäre es normal, dass er da saß und er tat, als hätte er von Anfang an da gesessen. Wir trafen das Einverständnis, die seltsame Spannung nicht zu bemerken.
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