Die Revolution der Madison Denver - Teil 4

Autor: emeliemia
veröffentlicht am: 18.06.2014


Ehrlich gesagt, habe ich mir Noahs Stimme viel höher vorgestellt. Sie ist tief und rau und jagt mir einen kleinen, kalten Schauer über den Rücken. Kimberly mustert ihn ungeniert von oben bis unten, dann lässt sie ihren Blick über das Abteil schweifen. Anscheinend sind alle Plätze belegt, so wie sie ihr Gesicht verzieht. Ihre Tüten hat sie auf den Sitz neben sich gelegt, also muss ich wohl oder übel Platz machen und rutsche ans Fenster.
Noch näher am Wald …
Sieh ihn nicht an, Madison, sage ich mir immer wieder. Wer weiß ob ich dann meine Neugier noch im Zaum halten kann? Und überhaupt, wie soll ich das eine Stunde und fünfzehn Minuten lang aushalten? Meine Fragen brennen mir auf der Zunge.
Mein Tablet piepst und ich fahre bei dem Ton zusammen. Es ist eine Nachricht von Kimberly:

Maddi! Was sollen die Anderen von uns denken, wenn die uns mit dem da sehen?!

Ich sehe sie an und zucke mit den Schultern. Es kümmert mich nicht, was die Anderen über mich denken. Im Moment habe ich nur eine Sorge, nämlich die, dass ich mein Mundwerk nicht halten kann. Kimberly schickt mir noch einen kotzenden Smiley, dann widmet sie sich wieder anderen Sachen zu.
»Sehr geehrte Fahrgäste,«, ertönt eine Frauenstimme durch die Lautsprecher. Augenblicklich verkrampfe ich mich und mir wird eiskalt. »Wir werden in Kürze Neo Ber erreichen und bedanken uns, dass Sie mit Metropolis Move gereist sind. Auf Wiedersehen!«
Ich spüre Noahs Blick auf mir ruhen und Unruhe macht sich in mir breit. Ich stehe nicht gern im Mittelpunkt, auch wenn es nur eine einzige Person ist, die ihre Aufmerksamkeit auf mich richtet. Meine Hände werden schwitzig
Meine Güte, Madison, jetzt reiß dich zusammen!
»Tschüss, Maddi. Wir sehen uns morgen!«, sagt Kimberly und klaubt ihren Kram zusammen. Der Zug hält und sie verschwindet.
Noah macht keine Anstalten aufzustehen. Ein mulmiges Gefühl überfällt mich. Er wohnt doch in Neo Ber oder irre ich mich etwa?
»Bis morgen.«, murmele ich ihr nach und überlege, ob ich mich Noah schräg gegenüber setzen soll. So merke ich wenigstens, wenn er mich ansieht. Doch während ich noch darüber nachdenke, setzt Noah sich einfach auf den Platz von Kimberly, stützt seine Unterarme auf die Knie und legt die Handflächen aneinander.
»Seltsam, dass du nicht genauso bist wie deine Freunde.«, beginnt er mit einem frechen Grinsen auf dem Gesicht. »Wenn Jones mit euch gegangen wäre, hätte sie mich ohne groß darüber nachzudenken zusammen geschissen. Von Kimberly kann man nichts erwarten. Aber ich dachte mir, wenn Jones nicht da ist, hast du die Hosen an.«
Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll, aber irgendetwas sagt mir, dass ich Sharleen in Schutz nehmen sollte.
»Sie heißt Sharleen.«, erwidere ich gereizt. »Und rede gefälligst nicht mit mir.«
Er lacht leise und lehnt sich zurück. Sein Blick ist neckisch und herausfordernd.
»Warum sollte ich?«, fragt er unschuldig und grinst wieder. »Noch gibt es kein Gesetz, dass es mir verbietet mich mit Leuten zu unterhalten.«
»Hör auf.«, wiederhole ich leise und versuche meine Stimme bedrohlich klingen zu lassen, was mir kläglich misslingt.
»Nein, Madison. Ich werde nicht aufhören.«, antwortet er. Mein Puls rast und ich merke, wie ich stärker und stärker Panik schiebe. »Und du wirst auch nicht aufhören. Auch wenn du es noch so sehr willst.«
Ich darf mir nicht anmerken lassen, dass er mir Angst einjagt. Ich muss selbstbewusst wirken, als ob mich nichts aus der Ruhe bringen kann.
»Lass mich in Ruhe.«, zische ich und bin froh, dass der Satz einigermaßen böse und selbstsicher klingt. Noah beugt sich erneut vor und hält mich mit seinen hellen, grünen Augen gefangen.
»Ich weiß, was du gesehen hast, Madison. Ich habe es auch gesehen.«, raunt er. Jetzt ist es ausgesprochen. Ich bin eine Eingeweihte. Ich weiß Bescheid. Bin ich nun auf der schwarzen Liste von Metropolis?
»Ich will nichts davon hören. Ich will das alles vergessen!«, versuche ich mich kläglich da raus zu reden. Aber es entspricht ja nicht einmal der Wahrheit, was ich da sage. Ich will herausfinden, was los ist. Und Noah weiß es oder er ahnt es zumindest.
»Bei dem, was in den nächsten Tagen passieren wird, kannst du das nicht vergessen. Es ist zu spät. Sie haben dich gesehen, Madison. Auch wenn du das nicht wahrhaben willst, du bist mittendrin.«
Noah hebt die Hand um mir wie bei einem Kumpel gegen die Schulter zu klopfen, doch ich schlage sie weg.
»Fass mich nicht an.«
»Morgen in der Mittagspause in der großen Bibliothek. Du musst jetzt aussteigen. Bis dann. Und halt die Ohren steif.«
Ich blicke nach draußen und sehe, wie der Zug in den Bahnhof von Soul einfährt. Hastig springe ich auf, schnappe mir meine Tasche und mache, dass ich weg komme.

Ich entferne mich rasch von dem Zug und eile in die nächstbeste, öffentliche Toilette. Dort stütze ich mich am Waschbeckenrand ab und versuche meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen.
Das war mit Abstand das hitzigste und verwirrendste Gespräch, was ich jemals geführt habe und irgendeine leise Vorahnung sagt mir, dass es nicht das Letzte gewesen ist.
Ich mustere mein Gesicht im Spiegel. Große, braune Augen, braune Haare, eine kleine, mit winzigen Sommersprossen versehene Nase, die bei näherer Betrachtung ein bisschen schief ist und ein großer, rosafarbener Mund. Meine Haut ist im Gegensatz zu der von vielen Anderen ziemlich rein. Normalerweise ist sie ein bisschen dunkel, doch jetzt gerade bin ich sehr blass. Das habe ich Noah zu verdanken.
Mistkerl.
Als ich den Bahnhof verlasse, wirft die Sonne ihre letzten Strahlen auf die Straße und taucht alles in ein orangegelbes Licht. Ich schließe für einen Moment die Augen und versuche alles für einen Moment zu vergessen und das letzte bisschen Wärme zu genießen. Und für einen Augenblick gelingt mir das auch, aber sobald ich die Augen öffne, ist dieses seltsam beklemmende Gefühl wieder da. Meine Tasche schulternd, mache ich mich auf den Heimweg.
Ich lasse das Gespräch Revue passieren und höre förmlich, wie es in meinem Kopf anfängt zu rattern und zu arbeiten.
Warum?
Warum muss das ausgerechnet mir passieren?
Was hat das alles auf sich?

Als ich Zuhause ankomme, stöpsele ich mein Tablet an die Lautsprecherbox in unserem Wohnzimmer und drehe das Volumen voll auf, sodass ich das Gefühl habe, dass durch den Bass die Erde bebt. Mein Herz wummert im Takt mit und mein Trommelfell ist bestimmt kurz vor dem zerbersten. Aber immerhin hat es die gewünschte Wirkung. Die laute Musik verhindert, dass ich weiter nachdenke und sogar das beklemmende Gefühl verschwindet. Dieses wird zwar ersetzt durch ein anderes Gefühl, was wesentlich angenehmer ist, sich jedoch auch nicht sonderlich schön anfühlt.
Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass meine Mutter in ungefähr einer Stunde nach Hause kommen wird. Ich gehe ins Bad und wasche mein Gesicht und meinen Hals. Wieder zurück in der Küche, überlege ich, was ich kochen könnte. Mittwochs ist der einzige Tag, wo ich das Abendessen kochen muss.
Mein Herz schlägt im Rhythmus der Musik mit. Ich beschließe Couscous und Gemüse zu kochen. Im Kühlschrank gibt es noch Paprika, Tomaten, Karotten und Mais. Das ist alles aus unserem Garten. Meine Mutter hält viel von selbstgemachtem Essen mit frischen Zutaten, da man heutzutage keine natürlichen Zutaten mehr kaufen kann. Die Auswahl in den Supermärkten besteht aus genmanipulierten Obst und Gemüse und Fertiggerichten. Niemand nimmt sich mehr die Zeit zum Kochen, alles muss schnell gehen. Meine Mutter findet das schrecklich, da sie eine leidenschaftliche Köchin ist.

Die Stunde ist fast um, als ich fertig bin. Ich drehe die Musik leiser und merke, wie das beklemmende Gefühl wiederkommt und zwar noch stärker als vorhin.
Das laute Knacken der Metalltür lässt mich zusammenfahren und ich stütze mich für einen Moment auf die Theke ab. Okay Madison, verhalte dich normal, sage ich mir.
»Perfektes Timing!«, rufe ich und merke, dass meine Stimme ein wenig zittert. Verdammt. Ich hole tief Luft und sage: »Du kommst gerade richtig zum Tisch aufdecken!«
Jetzt klinge ich schon wesentlich normaler.
Meine Mutter kommt in die Küche und ich drehe mich schnell zum Herd und tue, als ob ich noch irgendetwas machen muss, nur um ihr nicht ins Gesicht zu schauen. Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange und deckt den Tisch für zwei Personen auf.
Wir leben zu zweit seit ich denken kann. Mein Vater ist noch vor meiner Geburt abgehauen. Warum weiß ich nicht und meine Mutter möchte auch nicht darüber mit mir reden. Sie hat kein einziges Foto von ihm, hat mir nicht einmal seinen Namen verraten, weil sie sagt, dass er ein Arsch war und nicht möchte, dass ich irgendetwas von ihm weiß. Ich habe mich damit abgefunden das zu akzeptieren, aber wurmen tut es mich doch.
Während wir essen herrscht Schweigen. Ich versuche ihr nicht in die Augen zu schauen. Sie sagt oft, dass man in meinem Gesicht lesen kann, wie in einem Buch. Da ist sie jedoch die Einzige, die das so sieht. Ich glaube, Kimberly würde sehr viel dafür geben um einmal zu wissen, was in mir vorgeht.
»Du bist ja immer noch ein bisschen blass um die Nase, Maddi.«, meint sie plötzlich und ich zucke innerlich zusammen. Mist!
»Ich – Äh – das ist immer noch wegen der Sache im Zug.«, stottere ich und schaue weg. Aus den Augenwinkeln erkenne ich, wie sie sich über den Tisch beugt und fährt mit ihrer Hand über meine Wange.
»Das wird wieder, Maddi. Es war ja nur einmal.«, erwidert sie mit beruhigender Stimme, aber ihre Augen sagen mir etwas Anderes. Sie leuchten seltsam und es ist dasselbe Leuchten wie bei Noah. Ich nicke schluckend.
Was geht hier vor sich? Diese ganze Situation wirkt mehr und mehr verkorkst und unwirklich. Als ob sich jemand einen schlechten Scherz erlaubt.
»Wenn du fertig bist, dann nimm ein Bad. Ich räume dann ab und mache den Abwasch.«, schlägt meine Mutter vor und ich nicke erneut. Ich beeile mich aufzuessen und widerstehe dem Drang aus der Küche zu stürmen. Das würde nur noch mehr den Argwohn meiner Mutter auf mich lenken.

Bäder sollen ja eigentlich entspannen, jedoch ist das bei mir überhaupt nicht der Fall. Ich fühle mich genauso wie zuvor. Mit einem Seufzen mache ich mich bettfertig und kuschele mich in meine Decke. Wenige Augenblicke später kommt meine Mutter ins Zimmer.
»Erinnerst du dich noch an dein Schlaflied?«, sagt sie und grinst leicht.
Ich ziehe die Decke über meinen Kopf und stöhne. »Ja. Bitte nicht.«
Meine leisen Proteste ignorierend fängt sie an das Lied zu singen. Jeder hat doch ein bestimmtes Schlaflied, was einem Abends immer vorgesungen wurde. Meines heißt Nefeli und ist in einer Sprache, die meine Mutter erfunden hat, weil ich die anderen blöd fand. Früher konnte sie es mir nicht oft genug vorsingen. Heute kann man mich prima damit quälen.
Deswegen fauche ich mit lauter und genervter Stimme: »Mama, hör auf damit! Ich habe gerade nicht den Nerv dafür mir ein Lied anzuhören.«
Meine Mutter verstummt und ich stecke meinen Kopf aus der Decke raus. Sie sieht etwas enttäuscht aus. Sofort habe ich ein schlechtes Gewissen.
»Tut mir Leid, aber ich habe wirklich keine Nerven dafür. Ich bin müde und würde jetzt gerne schlafen.«, füge ich deshalb mit freundlicherer Stimme hinzu.
»Okay, Maddi. Ich dachte, dass hellt sich vielleicht ein wenig auf.«
Ich schüttele vorsichtig den Kopf. Meine Mutter nickt und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.
»Gute Nacht. Schlaf schön.«, sagt sie im Weggehen.
»Gute Nacht.«, erwidere ich.
Als die Tür ins Schloss fällt seufze ich leise, drehe mich um, vergrabe mein Gesicht ins Kissen und schließe die Augen.

Als ich die Augen wieder öffne, liege ich in derselben Position wie vorher. Anscheinend habe ich mich in der Nacht kein Stückchen bewegt, denn mein Nacken ist steif und schmerzt als ich den Kopf hebe.
Oh super, denke ich entnervt. Was kommt als Nächstes, Leben?
Meine Mutter ist schon weg, als ich in die Küche hinunter schlurfe. Ich verzichte auf den Kaffee, das Gebräu ist mir zu widerlich. Mein Blick fällt auf einen giftgrünen Apfel und mir fällt ein, dass Äpfel noch besser wach machen als Kaffee.
Mein Weg zum Bahnhof ist nicht weiter erwähnenswert. Doch als ich im Zug sitze piepst mein Tablet. Verwundert hole ich es aus meinem Rucksack. Normalerweise ist Kimberly die Einzige, die mir Nachrichten schickt, manchmal auch Sharleen, doch das ist eher nur sporadisch und kommt vielleicht ein zwei Mal im Monat vor.

Letzter Waggon, Obergeschoss. Wenn du mehr wissen willst. N





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