Alea iacta est - Teil 3

Autor: Finnicka
veröffentlicht am: 07.04.2014


Nachdem sie noch eine Weile draußen unter dem Baum auf der Bank gesessen hatten, begleitete Finn seine Freundin letztendlich zu ihrem Zimmer, wo sie sich mit einem langen, ausgiebigen Kuss voneinander verabschiedeten. Dann verschwand er aus ihrem Blickfeld, während sie sich schließlich auch umwandte und in dem Raum hinter der Tür verschwand.
Sie hatte das Glück, dass sie sich zur Zeit mit niemandem ein Zimmer teilen musste. Ihre Zimmergenossin hatte bedauerlicherweise vor einigen Tagen einen Zusammenstoß mit einem Auto gehabt, als sie mit dem ausgeliehenen Fahrrad der Schule in die Stadt hatte fahren wollen. Ihr war nichts Schlimmeres passiert - nur einige gebrochene Rippen und eine leichte Gehirnerschütterung. Doch die Eltern des Mädchens hatten beschlossen, sie lieber mit nach Hause zu nehmen, damit sie ja optimal umsorgt und bemuttert werden konnte... Mia schnaubte bei dem Gedanken an sie. Sie mochte Selma nicht sonderlich. Sie hatten sich nie viel miteinander unterhalten und somit wusste sie eigentlich nicht viel von dem schwarzhaarigen Mädchen. Doch das, was sie wusste, hatte ihr gereicht und das bestätigt, was sie sich selbst bereits zusammengereimt hatte.
Selma war ein hübsches Mädchen. Groß, schlang, sportlich, mit wunderschönem langen, schwarzem Haar. Sie hatte große, braune Augen, eine sanfte Stimme und wusste sich anmutig zu bewegen. In ihrer Freizeit trug sie die von Papi gesponserten Markenklamotten - nie ließ sie sich dazu hinab, irgendetwas - in ihren Augen - minderwertigeres anzuziehen. Sie achtete ausnahmslos immer darauf, dass ihre Klamotten und das dazu passende Make-up perfekt saßen.
Sie war eingebildet, arrogant und eine verwöhnte Zicke. Mia war froh, sie für einige Zeit los zu sein. So hatte sie das sowieso schon enge Zimmer ganz für sich alleine und musste nicht auf ihre empfindliche Zimmergenossin Rücksicht nehmen.
Seufzend schmiss sie sich nun auf ihr Bett und versuchte ein wenig zu entspannen. Sie hatte noch eine gute Stunde Zeit, bis die wöchentliche Versammlung in der Aula stattfinden würde. Nachdenklich wanderte ihre Hand zu ihrem Hals, wo die warme, goldene Kette hing. Sie spielte mit dem Anhänger und fragte sich, wo Finn so ein wertvolles Stück hatte auftreiben und vor allem hatte bezahlen können.

Sie verschlief die Versammlung. Keine zehn Minuten, nachdem sie sich auf das Bett geschmissen hatte, waren ihr die Augen zu gefallen und ihr Geist war in das Land der Träume übergewechselt. Als sie erwachte, wurde ihr Zimmer nur noch durch den hellen Schein des Mondes erleuchtet. Durch das offen stehende Fenster kam ein kalter Wind.
Mia fröstelte. Sie rieb sich die nackten Arme und ging zum Fenster, um es zu schließen. Doch dann zögerte sie, lehnte sich hinaus und atmete die frische, nächtliche Luft ein. Sie roch herrlich nach Frühling.
Eine Weile stand sie noch so da, den Kopf gen Himmel gewandt, die Sterne betrachtend. Es war so seelenruhig dort draußen, dass sie heftig erschrocken zusammenzuckte, als in der Ferne ein Wolf heulte. Das Geräusch jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken und ließ sie zittern.
Normalerweise heulten in dieser Umgebung keine Wölfe. Es heulten keine Wölfe, weil es hier normalerweise keine Wölfe gab. Schon gar nicht so nahe am Schulgelände, und der Lautstärke des Geheules nach zu urteilen, konnte sich das Tier nur wenige Kilometer von ihrem jetzigen Standpunkt aus befinden.
Sie schüttelte den Kopf und schloss das Fenster. Sie musste träumen.

Am nächsten Morgen regnet es, weswegen sie keinen vernünftigen Grund finden konnte, den Unterricht sinnvoll zu schwänzen. Also duschte sie, packte ihre Tasche und machte sich auf zum Speisesaal, wo Finn bereits auf sie wartete.
"Gut geschlafen?", begrüßte er sie lächelnd. Über seiner Schulter hing eine braune Ledertasche, seine Haare waren verwuschelt und seine Augen vor Müdigkeit noch tief dunkel. Er trug heute ein grünes Polohemd, was ihm unglaublich gut stand.
Mia antwortete nicht sondern blickte nur überrascht in den Speisesaal. "Was machen die ganzen Leute da?" Sie nickte in die Richtung eines langen Tisches, wo mindestens zwanzig Schüler saßen, von denen sie schwören konnte, dass sie sie bisher noch nie gesehen hatte. "Tag der offenen Tür, oder was?", fragte sie skeptisch und hob eine Braue.
"Wärst du gestern und die Wochen davor auf der Versammlung gewesen, wüsstest du bescheid", mischte sich eine Jungenstimme ein. Es war Jess, der ebenso verschlafen aussah wie Finn.
"Dafür bin ich ausgeschlafen und sehe nicht so verranzt aus wie ihr", konterte sie. "Was habt ihr heute Nacht getrieben? Bettparty?"
Jess zuckte mit den Schultern. "Schlafstörungen bei Vollmond. Schon mal davon gehört?"
"Davon gehört - Ja. Daran glauben - nein. Ich jedenfalls habe geschlafen wie ein Stein" Sie musterte Jess und verkniff sich ein Lachen, als sie den Kissenabdruck in seinem Gesicht sah. Er sah so unglaublich fertig aus - als wäre der Wecker erst vor zwei Minuten angesprungen und als wäre er ohne seinem Spiegelbild eines Blickes zu würdigen losgeeilt, völlig in Panik aufgelöst, er könnte das Frühstück verpassen. Das wäre unverzeihlich, schrecklich, fürchterlich gewesen, denn schließlich ist das Frühstück ja die wichtigste Mahlzeit am Tag...
Ihr Freund sah auch nicht viel besser aus. Sachte zupfte sie ihm eine länglichen Fussel aus den Haaren und versuchte zu retten was zu retten war. "Konntest du so schlecht schlafen?", fragte Mia an Finn gewandt.
Er grinste verpennt. "Unnötige Frage im Anbetracht meines Anblickes, oder?"
Irgendwie sah er so verschlafen unglaublich niedlich aus. Sie drückte ihm einen Kuss auf den Mund und murmelte mit rauchiger Stimme: "Ich könnte dir auch das Frühstück ans Bett bringen. Das hat zum einen den Vorteil, dass du es bequem und warm hast, und zum anderen dass es einen anständigen Nachtisch gibt, den nur du genießen darfst. Und", fügte sie ungeniert hinzu, "und ich verspreche dir, dass er dich sicherlich wach machen... wachhalten wird", verbesserte sie.
Sie hörte ihn leise an ihren Lippen lachen und spürte, wie er die Arme um sie legte und hinter ihrem Rücken verschränkte. "Warum gehen wir nicht gleich nach oben?", entgegnete er leise.
"Auf was warten wir?", sie küsste ihn.
"Leute!", stöhnte Jess genervt, der ungeduldig mit dem Fuß auf dem Boden tippte und das Prozedere beobachtet. "Könnt ihr diese Techtelmechtel-Gespräche nicht irgendwo führen, wo es niemand mitbekommt? Oder zumindest irgendwo, wo ich nicht anwesend bin? Und die Finger voneinander lassen?"
"Und uns am besten erst gar nicht ansehen?" Mia verdrehte die Augen und wandte sich um. "Sei nicht so verklemmt, Jess", zog sie ihn auf, grinste allerdings dabei. Sie wusste nur zu gut, wie sehr es den blonden Jungen störte, wenn Mia und Finn zu offen miteinander umgingen. Sie war sogar fest davon überzeugt, dass er schwul war und ihn allgemein die Vorstellung an eine intime Interaktion zwischen Männlein und Weiblein anekelte. Zumal hatte sie ihn schon oft dabei beobachten können, wie er beim Anblick eines Paares das Gesicht verzog und angewidert darüber den Kopf schüttelte.
Sie warf Finn noch einen kurzen wir-holen-das-später-nach-Blick zu - sie hoffte, er verstand und interpretierte ihn richtig - und lenkte Jess zuliebe das Thema wieder in eine andere Richtung. "Wie auch immer. Wärt ihr so lieb und würdet mich über das fremde Pack in unserer Kantine aufklären, oder wollt ihr mich zur Strafe meiner Abwesendheit bei der gestrigen Versammlung im Dunkeln schwelgen lassen, bis ich mir alles selbst zusammengereimt habe?"
Jess sah schon viel versöhnlicher aus, weil sie eingelenkt hatte und antwortete zur Belohnung: "Das, liebe Mia, sind unsere Ausländer." Mit erwartungsfrohen Augen sah er sie an.
"Unsere Ausländer", wiederholte sie gedehnt.
Sie wartete darauf, dass er fortfuhr. Doch er schwieg, bis ihr klar wurde, dass er dachte, sie wüsste was das zu bedeuten hatte. Sie vergaß zu oft, dass er nicht in der Lage war, die unterschiedliche Betonung und Tonhöhe von Worten und die Mimik der sprechenden Person richtig zu interpretieren. "Was für Ausländer?", fragte sie schließlich ungeduldig.
Er fing an, hemmungslos zu lachen und hörte erst damit auf, als er merkte, dass das kein Witz ihrerseits gewesen war. "Oh", entfuhr es ihm. "Du meinst das ernst", stellte er fest. Er schaute sie mit einem mitleidigen Blick an, als er erkannte, dass sie aufgrund ihrer häufigen Abwesenheit bei wichtigen Sitzungen einfach zu informiert war, um solch grundlegend wichtige Dinge wissen zu können.
Doch er machte seinerseits keine Anstalt ihr zu erklären, was um Himmels Willen das zu bedeuten hatte.
"Finn?", gefrustet wandte sie sich ihm zu.
Er lächelte erbarmungsvoll. "Erinnerst du dich an das Förderungsprojekt, das unser Direktor vor einigen Wochen vorgestellt hat?"
Mia schwieg und Finn seufzte ergeben, als er erkannte, dass er mit seiner Erklärung ganz von vorne beginnen musste. "Wir und viele andere Internate landesweit sind seit einigen Monaten die Paten verschiedener Schulen auf der ganzen Welt. Das sind alles Schulen, mit sehr eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten, die von verwaisten und armen Jugendlichen besucht werden und die diesen keine richtige Bildung ermöglichen können. Durch das Projekt versucht man diesen Menschen zu helfen und sie in ihrer Ausbildung zu unterstützen, damit auch sie später eine Chance auf ein anständiges Leben haben. Da allerdings auch das Budget unserer Schulen sehr beschränkt ist, werden durch ein bestimmtes Auswahlverfahren nur ausgewählte Schüler hier her geholt, die die Gelegenheit bekommen, ein Jahr an unserer Schule zu verbringen und auch die Chance auf ein längeres Visum."
"Verstehe ich nicht", entgegnete Mia knapp und hob abwehrend die Hände, als Finn sie anstarrte, als würde er nun doch langsam an ihrem Verstand zweifeln und Jess nur traurig über ihre Unwissenheit und Unverständnis den Kopf schüttelte. "Das Prinzip ist mir schon klar", erklärte sie schnell. Sie könnte schwören, dass Jess gerade erleichtert geseufzt hatte. "Ich verstehe nur nicht, wie so ein System fair sein soll. Ich kann mir kein Auswahlverfahren vorstellen, das rechtfertigt, dass genau diese Gruppe von Jugendliche die Chance ihres Lebens bekommen. Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Einige verbringen das Jahr ihres Lebens an Schulen in den Vereinigten Staaten und der Rest verkümmert zwischen den zerfallenden Wänden ihrer Unterrichtsstätten?"
"So darfst du das nicht sehen, Mia", mischte sich Jess nun doch wieder ein. Er klang ungeduldig. "Das ist erst der Anfang eines größeren Projekts. Denk doch einmal über die Grenzen hinaus. Diese Idee wird sich wie ein Lauffeuer verbreiten. Es werden sich nach und nach immer mehr Menschen finden, die unsere Schulen finanziell unterstützen werden. Durch Propaganda und Weiterentwicklung der Idee wird das bald ein weltweites Projekt sein, dass nicht nur von den Vereinigten Staaten gefördert wird, sondern auch Unterstützung aus ganz Europa bekommt." Nun wirkte Jess regelrecht euphorisch, als hätte er die Entdeckung des Jahrhunderts gemacht. Zudem leuchteten seine Augen fast so hell wie die Sonne und sprühten Funken, wie ein Feuerwerk an Silvester..
Auch wenn diese Funken nicht auf Mia überspringen wollten. Sie konnte zwar sehr wohl nachvollziehen, dass es sensationell wäre, wenn das Projekt ausreifen und schließlich voller Vollkommenheit in seine Endphase übergehen würde. Doch niemand achtete darauf, wer in der Zwischenzeit, in der Zeit zwischen jetzt und dem sensationellen Ergebnis leiden musste. Wie viele Kinder in all den Ländern würden da sitzen, in ihrem tristen Leben gefangen und sich fragen, warum nicht sie? Warum nicht sie genommen und die Chance ihres Lebens bekommen hatten, sondern der Andere? Der Andere, der vielleicht sogar ein Nachbar, ein Freund oder gar ein Geliebter gewesen war? Wie viele würden in der Gosse landen und sich fragen, was sie falsch gemacht hatten, was im Namen Gottes nicht mit ihnen stimmte, dass sie nicht genommen worden waren?
Es zog in ihrer Brust, als sie sich das Szenario bildlich vorstellte. Ein Mädchen, mit Tränen in den Augen, dünnen, zittrigen Beinen, auf denen sie sich kaum aufrecht halten konnte, abgemagert, bis auf die Knochen, gekennzeichnet durch die Grausamkeit und Härte des Lebens als Kind ohne Eltern und Familie, das die Hand nach ihrer einzigen Freundin ausstreckte, nach ihr greifen und sie festhalten und doch gehen lassen wollte, da sie sie so sehr liebte, und ihr alles Glück der Welt gönnte, das bisher der einzige Halt ihres erbärmlich befristeten Daseins dargestellte hatte. Das Mädchen, welches freudestrahlend ihren Weg entlang ins Glück begann und geblendet von dieser unglaublich großartigen Fügung des Schicksal nicht die seelische Qual ihrer jahrelangen Freundin erkannte und aus Euphorie die Tränen des Schmerzens mit den Tränen der Freude verwechselte.
"Mia", Finn stupste sie sanft an.
Sie schüttelte den Kopf und das grausame Bild vor ihren Augen zu vertreiben und sagte schließlich: "Lasst uns frühstücken gehen."





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