Autor: Ascaeldor
veröffentlicht am: 14.09.2015
~Prolog~
Die Stadt Stirling, Schottland, Mitte des 19. Jahrhunderts. Eine recht kleine Ortschaft, umgeben von grünen Weiden, die vor allem im Sommer von vielen Schafen abgegrast werden. Weder Industrialisierung noch der Kohleabbau hatten hier bisher Einzug halten können. Ein paar Meilen außerhalb ein kleines Dorf und noch etwas weiter weg das Lansbury-Manor mit anhängendem Kurgestüt. Wir schreiben einen warmen Frühlingstag.
Kapitel 1 ~ A New Cinderella Story
"Das Haus ist verflucht!" Meggan deutete mit ihren Fingern die lange, geschwungene Straße hinauf zum Lansbury-Manor. Sie sog scharf die Luft ein und blies sie angestrengt wieder aus. "Und deshalb muss man auch sehr vorsichtig sein, wenn man da rein geht."
"Und warum sollte man da dann überhaupt hingehen?" Emily, die das Gespräch angehört hatte, blickte von Meggan zu ihrer älteren Cousine Madeleine. "Wenn es doch verflucht ist?" stellte sie noch einmal dramatisch fest und fegte das restliche Stroh, dass sie aus dem Stall geholt hatte, zusammen.
"Ganz einfach, dumme Ziege. Dort gibt es Schokolade. Das weiß doch jedes Kind!" Madeleine verdrehte die Augen und blickte zu Meggan. "Die beste Schokolade überhaupt!"
Meggan nickte. Die Sache war ganz klar. Wenn man etwas Geld hatte, dann konnte man sich unten im Dorf Bonbons kaufen. Oh ja, Bonbons, die waren lecker. Mit Kirsche, Zitrone und manchmal sogar mit Honig. Doch nur eine kleine Tüte dieser Köstlichkeiten war unsagbar teuer. Schokolade bekam man nur in Stirling, der nächst größeren Stadt. Und Schokolade war noch einmal eine ganz andere Kategorie. Sie war süß, klebrig und schmolz im Mund, wie es keine andere Süßigkeit tat. Nur fuhr man eben nicht täglich in die Stadt, ganz davon ab, das man diese Pralinen sowieso nur bezahlen konnte, wenn man wirklich viel Geld hatte. So viel Geld, wie dieser furchteinflößende und zurückgezogen lebende Kauz, den man nur selten zu Gesicht bekam und der ein riesiges Stück Land sein Eigen nannte, auf dem ein monströses Herrenhaus stand. Nun trug es sich zu, dass irgendwann eines der Kinder im Dorf, natürlich rein zufällig, feststellte, dass man im Lansbury-Manor auch Schokolade bekommen konnte, wenn m
an sich nur geschickt genug anstellte und sich nicht erwischen ließ. Denn wurde man erwischt, blühte einem eine Strafe, die man sein Lebtag nicht wieder vergessen würde. Der Besitzer war ein böser Mensch. Nachts, so erzählte man sich, kreisten Raben um sein Haus und sein Anwesen wurde von Höllenhunden bewacht, die alles zerfleischten, was sie zu schnappen vermochten. Außerdem gab es da noch dieses Pferd, welches ihm treu ergeben war und seinen Ursprung mit Sicherheit in einem Hort der Dämonen hatte. Viele Leute im Dorf sprachen schlecht von ihm, zurecht, schließlich war es kein Geheimnis, dass in seinem Anwesen bereits drei Mädchen verschwunden waren. Auch sie waren auf der Jagd nach der heißbegehrten Schokolade gewesen und nie wieder zurück gekommen. So sagte man.
"Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Schokolade so besonders sein soll, dass man dafür freiwillig in dieses Haus geht." Emily blies sich eine Strähne ihres blonden Haares aus dem Gesicht und wischte sich ihre Hände an ihrer Schürze sauber. Die warme Frühlingssonne setzte glitzernde Stellen auf ihr hüftlanges Haar und wärmte allmählich den Boden, der viele Monate hart und eisig gewesen war.
"Natürlich nicht!" giftete ihre Cousine Madeleine, "Weil du einfach keine Ahnung hast, meine Liebe. Und überhaupt, was stehst du hier herum? Hast du nichts zu tun? Wenn Vater dich beim Trödeln erwischt, gibt es nur wieder Ärger!"
"Ja, ja." flötete Emily und verschwand wieder im Stall. Sie war seit vier Uhr wach, ihr Rücken schmerzte und doch gab es für sie Grund zur Freude. Sie war nämlich fertig mit all ihren Aufgaben und könnte nun den Rest des Tages für sich nutzen. Sie nahm den alten Sattel, der auf dem Gatter des Schweinegeheges hing und schlich leise weiter durch den Stall.
"Hallo Flocke!" strahlte sie ihr Pferd an und legte ihm den Sattel auf den Rücken. "Heute haben wir mehr Zeit. Es ist erst kurz nach vier."
Flocke, eine ruhige Schwarzwälder Stute, schnaubte zufrieden auf. Emily legte ihr das Zaumzeug an und führte sie nach draußen, wo sie beinahe mit ihrem Onkel zusammenstieß. Sie spürte, wie er ihr einen Atemstoß ins Gesichts blies und senkte den Blick.
"Mister Cavanaugh, Sir!" entfuhr es ihr entsetzter, als sie eigentlich klingen wollte und sie machte schnell einen Knicks.
"Was glaubst du, wo du hingehst?" Er überblickte das Pferd und stierte dann wieder zu Emily.
"Ich wollte mit Flocke etwas ausreiten gehen." erklärte sie sich mit zittriger Stimme.
"Du bist also schon fertig mit allem, was ich dir aufgetragen hatte?" Emily nickte erfreut und umfasste die Zügel etwas fester. Kurz wagte sie einen Blick in sein Gesicht und stellte entsetzt fest, dass er ihr nicht zu glauben schien. Dabei hatte sie wirklich alles abgearbeitet, was er ihr aufgetragen hatte. "Du gehst in den Wald und holst Holz." kam es forsch zurück und Emily glaubte sich verhört zu haben.
"Aber Onkel!" Er strafte sie mit einem Blick der weitere Widerworte im Keim erstickte.
"Und danach machst du Essen."
"Ja Sir." Es hatte keinen Zweck. Auf eine Diskussion würde er sich nicht einlassen. Nicht mit ihr. Sie ließ die Zügel achtlos fallen und kehrte in den Stall zurück, nachdem sie Flocke abgesattelt hatte. Stattdessen zäumte sie nun das Arbeitsgeschirr mit Kummet auf. Dabei hatte sie sich so gefreut, heute etwas mehr Zeit mit ihrer Stute zu verbringen, ohne dabei zu arbeiten. Sie strich Flocke über die Stirn und langsam trotteten die beiden in den nahegelegenen Wald, um sich auf die Suche nach den gefällten Bäumen zu machen, die ihr Onkel heute im Laufe des Tages geschlagen hatte. Wenigstens das machte er noch selbst.
"Vielleicht schickt er mich auch bald Bäume fällen." meckerte Emily und blies sich gefrustet durch das Gesicht. "Oder jagen, dann müssen wir nicht mehr einkaufen oder schlachten. Auch das spart viel Geld. Ich könnte auch versuchen im Frühling Beeren und Pilze zu sammeln." Wieder seufzte sie gefrustet. Flocke schnaubte leise auf. "Ja ich weiß. Wir können es nicht ändern. Aber trotzdem behandelt er mich anders, als Madeleine. Sie sitzt wahrscheinlich gerade in ihrem Zimmer und bürstet sich die Haare, während wir..." Ihre Stimme brach. Eine Träne perlte an ihrer Wange herab. "... während wir hier ackern, wie verrückt. Ich dachte wirklich, ich kann es ertragen aber ich kann es nicht, Flocke, ich kann es nicht." Sie blieb stehen und wischte sich die Tränen aus den Augen. "Ich kann es nicht."
"Guten Tag, Miss Rutherford!" hörte sie es plötzlich von weit weg rufen und sie klopfte sich schnell auf die Wangen, um nicht all zu verweint auszusehen. Das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war jemand, der sie über ihren Kummer ausfragte.
"Miss Rutherford?!" wiederholte sie irritiert und stemmte ihre Hände in die Taille. "So hat mich schon lange niemand mehr genannt, Mister Peter Hadley."
"Das dachte ich mir schon." vernahm sie eine ihr sehr bekannte Stimme. Ein junger Bursche mit roten Haaren näherte sich winkend, laufend und schnaufend. Kaum hatte er sie erreicht, verneigte er sich vor ihr.
"MaŽam."
"Du spinnst." Emily lachte kurz auf und ging weiter.
"Was ist los, du hast rote Augen. Hast du wieder geweint?" Peter stapfte neben ihr her und zog am Riemen seiner Schultasche.
"Nicht schlimm, wirklich." tat Emily alles ab und stierte geradeaus in den Wald.
"Musst du wieder Holz holen?" Dieser Peter ließ aber auch wirklich nicht locker.
"Und wenn schon. Ich will schließlich nicht frieren."
"Ah ja." gab er tonlos von sich und folgte ihr weiter. "Soll ich dir helfen?"
"Das brauchst du nicht. Du machst dir nur deine guten Kleider schmutzig. Oder schlimmer noch, kaputt." Emily umfasste die Zügel des Geschirrs fester und lief etwas zügiger.
"Unsinn. Ich passe schon auf. Außerdem habe ich noch mindestens zwei Anzüge zu Hause."
"Das freut mich für dich." entgegnete sie ihm gleichgültig und stapfte weiter über den weichen Waldboden.
"Tut mir Leid. Ich habe nicht nachgedacht." Peter umfasste ihre linke Hand und hielt sie fest, sodass sie stehen bleiben musste.
"Ich weiß nicht wovon du redest und jetzt lass mich! Bald wird es dunkel und ich habe keine Laterne mitgenommen." Sie entriss ihm ihre Hand und ging weiter.
"Das mit den Kleidern." rief Peter ihr auf einmal nach und holte sie wieder ein. "Wenn mein Vater das nächste mal nach Stirling fährt, frage ich ihn, ob er dir eines mitbringen kann."
"Bist du verrückt?!" Emily blieb schlagartig stehen und Flocke schnaubte irritiert auf. "Glaubst du, ich sei auf eure Almosen angewiesen?! Eine unerhörte Frechheit ist das, Peter Hadley. Bitte hören Sie auf mich zu verfolgen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag."
Emily hob die Nase so hoch, dass sie kaum noch sehen konnte, wo sie hintrat und stolzierte gekränkt weiter. Als ob sie seine Geschenke nötig hatte. Was bildete er sich nur ein? War ihm nicht klar, wie kränkend das war? Er schien überhaupt nicht zu begreifen, wie erbärmlich man sich fühlte, wenn man ein solches Angebot bekam! Oder sah sie mittlerweile schon so bedürftig aus, dass er es sich nicht mehr hatte verkneifen können? Kurz zweifelte sie und schielte an sich herab. Sie erblickte ihr blassrosa Kleid, welches schon leicht grau schimmerte. Und ihre Schürze, drei Flicken hatte sie bereits aufnähen müssen, jedoch war sie noch gut. Es war schließlich nur eine Schürze. Und das Kleid würde sie heute Abend noch schnell waschen. Wenn sie Glück hatte, würde es bis zum nächsten Morgen trocknen. Dann würde es wieder etwas farbiger strahlen.
"Es war doch nur freundlich gemeint." rief Peter ihr nach und holte sie erneut ein. "Ich wollte dich nicht kränken. Ich weiß doch, wie sie dich zu Hause behandeln..."
"Nichts weißt du, Peter Hadley, nichts!" Sie schnitt ihm unsanft ins Wort. "Als Mutter noch lebte war es wundervoll in MEINEM zu Hause! Aber jetzt? Du hast keine Vorstellung, was es heißt eine Rutherford zu sein! Lass mich einfach in Frieden!" Emily stapfte noch schneller voran und Peter hatte Schwierigkeiten mit ihr Schritt zu halten. Woher sollte er es auch wissen? Ihm ging es ja auch gut. Er bekam genug zu essen, neue Kleider und er durfte sogar zur Schule gehen. Eine Weile liefen sie wortlos nebeneinander her und Emily überlegte schon, wie sie Peter wieder loswerden könnte, als sie endlich einen der gefällten Bäume erreichten.
"Nur einer diesmal?" durchfuhr seine Stimme die Ruhe und Emily blickte sich suchend um.
"Nein, da hinten liegen noch zwei kleinere." Müßig kämpften sie mit dem schweren Holz und innerlich war Emily dankbar, dass Peter sich nicht abschütteln ließ. Allein hätte sie es sicher nicht geschafft. Sie spannten alle Bäume an FlockeŽs Geschirr und machten sich auf den Rückweg.
"Heute haben wir in der Bibel gelesen." bemerkte Peter kurz und zog wieder am Riemen seines Schulranzens. Es musste irgendetwas geben, womit er sie ablenken konnte. "Es war furchtbar langweilig."
"Ihr habt gelesen?" EmilyŽs Augen begannen zu leuchten. "Es muss unglaublich sein. Ich würde alle Bücher lesen, die ich in die Finger bekäme."
"Nein glaub mir, es war wirklich furchtbar trist." Peter legte den Kopf in den Nacken und stieß kurz darauf mit dem Fuß gegen einen kleinen Stein, der raschelnd über den Waldboden rollte. "Es war so langweilig dass die anderen Jungs aus meiner Klasse schon nach der zweiten Stunde abgehauen sind. Wollten zum Anwesen hoch."
"Zum Anwesen?" wiederholte Emily und lief etwas langsamer. "Warum?" Ihr Interesse war geweckt. Erst vorhin hatte sich ihre Cousine mit ihrer Freundin darüber unterhalten, doch sie ließ Emily immer mit Absicht am ausgestreckten Arm verhungern. Erst fütterten sie sie beide mit spärlichen Informationen an, um dann ein großes Geheimnis daraus zu machen. Natürlich hatte auch Emily die Leute im Dorf reden gehört und sie war fasziniert von dem was sie sagten. Sie war noch nie da, sah nur bei gutem Wetter ab und an die hohen Turmspitzen des Anwesens an der Hügelkuppe empor lugen. Die roten Ziegel und die dunklen, metallenen Dachfiguren, die aus der Entfernung wie kleine Drachen wirkten. Peter zwinkerte kurz und begann zu grinsen.
"Na wegen der Pralinen. Warum sonst sollte man da hingehen?" gab er zu und faltete seine Hände hinter seinem Kopf.
"Sind die denn wirklich so gut?"
"Ich weiß nicht, ich war zwar schon mal da, habe mich aber schlussendlich nicht hinein getraut. Es ist wirklich schrecklich unheimlich dort. Man erzählt sich die übelsten Geschichten über das Anwesen. Und glaub mir, die Sachen sind sicher nicht aus der Luft gegriffen."
"So?" Emily blickte interessiert zu Peter. "Was erzählt man sich denn?"
"Arthur meinte, der Hausherr hätte auf ihn geschossen und Jonathan meinte, man hätte wilde Hunde auf ihn losgelassen. Das sollen Viecher direkt aus der Hölle gewesen sein. Tiefschwarz, rote Augen und unglaublich schnell."
"So ein Quatsch!" Emily winkte ab. Hunde aus der Hölle, also wirklich. Diesen Unsinn hatte sie im Dorf schon einmal gehört und die Frau, die das erzählte, besaß ein ihr gegebenes Talent, alles zu dramatisieren, sodass sich schnell eine Stimmung der Angst entwickelte und schließlich alle die Straße zum Anwesen hinauf blickten. Als dann noch eine schwarze Kutsche an ihnen vorbei fuhr, konnte man die sich aufstellenden Nackenhaare deutlich spüren. Auch Emily hatte sich mitreißen lassen, jedoch war seit diesem Tag genug Zeit vergangen, in der sie über die Geschichte nachdenken konnte und sie tat sie als Märchen ab. Vollkommen überzogen. "Du willst mir ja nur Angst machen."
"Na hör mal!" entrüstete Peter sich und blieb nun seinerseits stehen. "Ich kann dir nur sagen, was ich von den anderen weiß. Und das Anwesen ist wirklich unheimlich! Mich würde es nicht wundern, wenn da wirklich der Leibhaftige wohnte."
"Höllenhunde?" wiederholte Emily amüsiert und hielt ihre Begleitung an weiter zu gehen. "Und kannst du mir auch verraten, wieso dieser, wie heißt er? Jonathan? Wieso er dann nicht gefressen wurde?"
"Weil er weggelaufen ist, vermute ich."
"Peter bitte, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass man einem Höllenhund entwischt? Sie sind doch nicht von dieser Welt. Glaubst du ernsthaft, dass dieser Jonathan schneller gerannt ist, als diese Viecher es können?"
Peter dachte angestrengt nach, doch kam er zu keinem Resultat.
"Nun, vielleicht übertreiben sie ja auch. Nichts desto trotz. Das Anwesen ist wirklich unheimlich."
"Ich kann kaum glauben, das es so gruselig ist. Sonst würde man da nicht freiwillig hingehen."
"Es liegt an den Pralinen, Emily. Die sind wirklich unglaublich gut. Also sagt man."
"Sicher." Emily lachte und winkte mit der Hand ab. "So da vorn muss ich hin. Komm gut nach Hause." Peter blickte ihr noch wortlos nach und steckte sich die Hände in die Hosentaschen. Für einen Spinner hielt sie ihn. Das merkte er ganz genau. Aber wenn die Jungs aus seiner Klasse das nächste Mal wieder Schokolade holen gingen, würde er sie fragen, ob sie ihm nicht etwas behilflich sein konnten. Vielleicht nahmen sie ihn ja nochmal mit und dann würde er Emily auch etwas abgeben.
***
"Schaurig! Einfach grässlich!" rief er und zog an der Longe, an der eine Clydesdale-Stute behäbig im Kreis trabte. "Sie lahmt schlimmer, als noch vor einer Woche."
"Und nun?" entgegnete Karl ihm und ging ruhig auf das Pferd zu, um es zu stoppen.
"Zurück in den Abfohlpaddock. Dann muss sie sich eben noch etwas gedulden und beide kommen erst in ein bis zwei Wochen wieder auf die Weide."
"Was denn? Inverness soll auch bleiben?"
"Inverness bleibt solange bei seiner Mutter, bis sie weniger lahmt. Wenn sie noch etwas Zeit zusammen verbringen, wird ihnen das schon nicht schaden. Oder stell sie auf die kleine Weide hinter dem Haus zu den Jährlingen. Dann kann Inverness bereits etwas Herdengeruch schnüffeln."
Langsam lief der Mann am Stock zu der Stute und löste die Longe vom Geschirr.
"Ich habe dich nicht zum Springpferd ausgebildet, meine liebe Castellani. Unterstehe dich also, wieder flüchten zu wollen." Er holte eine Karotte aus einer kleinen Ledertasche am Bund und hielt sie ihr hin. "Ach und Karl?"
"Mein Herr?"
"Inverness behält ab heute sein Halfter an. Erstmal ohne Trense, bis er sich eingewöhnt hat."
"Sehr wohl, mein Herr."
Mister Lansbury blickte seiner Stute noch kurz hinterher, bevor er sich aufmachte wieder ins Haus zu gehen. Noch bevor er durch die Tür schreiten konnte, kam ihm eine wüst schimpfende Frau, mittleren Alters entgegen.
"Die Schuhe! Mister Lansbury! Sir, bitte! Sie tragen mir nur wieder den Sand ins Haus."
"Das ist mein Haus." stellte dieser verdutzt fest und setzte den ersten Fuß ins Foyer.
"Und ich muss es putzen!" entgegnete ihm die Frau. "Also Schuhe aus!"
"Unverschämtheit." murmelte er leise vor sich hin und ließ sich auf die Bank links der Eingangstüre nieder. "Dann helfen Sie mir Mary, Sie wissen um mein Bein."
"Sicher doch."
Mary kniete sich vor ihm hin und ächzte leise auf, als sie kräftig am ersten Stiefel zog.
"Möchten Sie baden?" fragte sie und zerrte bereits am zweiten Schuh.
"Nein, lieber Tee. Baden werde ich heute Abend. Gibt es Kekse?"
"Kekse nicht aber ich habe Kuchen gebacken. Wenn Sie möchten mache ich Ihnen gerne einen Tee und dazu ein ordentliches Stück Schokoladenkuchen." Sie erhob sich und wischte sich die Hände an der Schürze sauber.
"Ja das klingt gut. Ich nehme den Tee dann im Wintergarten ein."
"Wie Sie wünschen, Sir."
Schwerfällig und sichtlich erschöpft lief er, seinen Gehstock fest mit der rechten Hand umklammert, durch sein Haus in Richtung Wintergarten. Auf einem der Korbstühle nahm er Platz und atmete kurz durch. Das Zimmer war frisch. Seinem Geschmack nach etwas zu frisch. Wozu hatte er diesen Wintergarten, wenn dieser genauso kalt war, wie die Außenluft? So würden doch alle Pflanzen eingehen. Ganz abgesehen von dem Gemüse, dass er mit viel Sorgfalt in großen Blumentöpfen heranzog. Er schloss seine Augen und sinnierte vor sich hin. Wenn Castellani nicht bald wieder besser laufen konnte, würde er wohl keine andere Wahl haben, als sie zu erlösen. Es war ihm ohnehin schleierhaft, weshalb sie in der einen Nacht so gescheut hatte, dass sie versuchte, weg von ihrem Fohlen, aus dem Paddock zu entwischen. Er rieb sich mit den Fingern über die Stirn. Den lauten Aufschrei der Stute würde er so schnell nicht vergessen. Es war ein Wunder, dass sie sich nichts gebrochen hatte. Er überlegte kurz e
inen Gedanken zu Ende, als Mary die Stille durchbrach.
"Ich habe ganz vergessen, Ihnen zu sagen, dass der Kamin im Zimmer nicht mehr richtig zieht. Karl will es sich morgen gleich ansehen. Wollen Sie lieber...?"
"Ich bleibe, schon gut. Trotzdem soll er heute noch nachsehen. Wenn die Pflanzen Frost kriegen, sind sie dahin."
"Frost im späten April?" wiederholte Mary etwas irritiert und blickte nach draußen auf die Weide der Jährlinge. "Wie geht es der Stute?" fragte sie schließlich und näherte sich dem Hausherrn.
"Schlechter. Wenn es sich nicht bald bessert, werde ich sie wohl doch erschießen müssen."
"Himmel!" rief Mary aus und stellte das Tablett mit dem Tee und dem Kuchen neben ihm auf einen kleinen Beistelltisch. "Dass Sie das so einfach sagen können. Das arme Tier."
"Was soll ich machen? Ich bin mit meinem Latein am Ende. Und da es außer mir keinen weiteren Pferdearzt in der Nähe gibt..." Mister LansburyŽs Blick folgte den Tieren und auch Castellani, die Mühe hatte, mit ihrem Fohlen Schritt zu halten. Sie war eine seiner besten Stuten und Inverness war ein ungewöhnlich störrisches Fohlen. Er war aggressiv und überhaupt nicht gehorsam. Das wurmte ihn. Clydesdale durften nicht stur sein und Inverness entwickelte sich genau in diese Richtung. Er war aufbrausend, laut, aggressiv und störrisch. Und das, obwohl sich Mister Lansbury bei seiner Geburt so gefreut hatte, da er endlich eine Rappschecke sein Eigen nennen konnte.
"Ich verstehe schon, es war ja auch kein Vorwurf. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Sir? Sie waren den ganzen Tag draußen und haben sich überhaupt nicht ausgeruht. Vielleicht die Zeitung?" wechselte sie schnell das Thema und blickte ihn fragend an. Doch er stierte noch immer gedankenverloren durch die Fenster des Wintergartens, als er sich zu einem Kopfschütteln breitschlagen ließ. Mary seufzte leise auf und schenkte ihm ein.
"Danke." entfuhr es ihm knapp und er kippte sich etwas Milch und einen Löffel Zucker in seinen Tee. Während er sein Getränk umrührte überblickte er gedanklich eines der deckenhohen Bücherregale des Herrenzimmers und blieb an einem schlichten Bücherrücken hängen.
"Mary, bringen Sie mir bitte das braune Buch aus dem Herrenzimmer, dritter Regalboden von unten, links." Bestimmend zeigte er auf die Tür und wackelte mit dem Finger. Irritiert zog sie die Augenbrauen hoch, eilte dann jedoch los.
"Dieses?" fragte sie und hielt ihm die Lektüre hin. Mary blickte ihn groß an. Er hatte sie schon fasziniert, als er noch ein Kind war. Manchmal war sie der Meinung, dass er die Bücherregale auswendig gelernt hatte. Er nickte kurz und nahm ihr die Schrift ab. "Es waren heute wieder ein paar Bengel hier." entfuhr es ihr beiläufig, als sie das Zimmer verlassen wollte.
"Was wollten sie?!" herrschte er sie lauter an, als er es beabsichtigt hatte.
"Was wohl?" fragte sie leicht spöttisch und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. "Sicher Pralinen, was sonst. Sie haben sich aber nicht hinein getraut. Haben Sie wohl draußen stehen sehen." scherzte sie.
"Wenn ich diese Gören erwische, ist was los! Und wenn ich sie erschieße!" rief er laut aus und das Blut in seinen Adern kochte, sodass es an seinen Schläfen wild pulsierte.
"Also Mister Lansbury!" tadelte Mary ihn forsch und trat wieder an ihn heran. "Das sind Kinder, die haben nun mal Flausen im Kopf. Unterstehen Sie sich, auf sie zu schießen!"
"Ich soll mich also wieder bestehlen lassen?!"
"Es ist nur Schokolade." versuchte sie den Hausherrn wieder etwas zu beschwichtigen. "Sie werden doch wohl niemanden wegen etwas Schokolade erschießen?"
"Hören Sie Mary, ich lege viel Wert auf Ihre Meinung und wäre es nur einmal ein dummer Jungenstreich gewesen, so würde ich Ihnen sicher zustimmen aber diese Gören kommen ständig wieder hierher. Ich will diese Bälger hier nicht haben! Und wenn ich sie hier nochmals erwische, werde ich Gebrauch von meinem Hausrecht machen! Weiß der Teufel, was in jener Nacht geschah, als Castellani so gescheut hat, dass sie aus dem Paddock springen wollte."
"Sie sollen doch nicht immerzu fluchen." Schnell zeichnete sie ein Kreuz auf ihre Brust. "So hat er es nicht gemeint. Vergib ihm seine Sünden!"
"Ach Mary." Langsam ließ er sich mit dem Rücken gegen die Lehne fallen. "So Ihr Gott es will, wird er für Sie einen Platz im Paradies bereithalten." sagte er und rührte beständig in seinem Tee herum, während er genüsslich in den Kuchen biss. Mary schüttelte kurz den Kopf und machte einen leichte Knicks. Diese kleinen Seitenhiebe waren wirklich nur schwer zu ertragen. Es war ohnehin schon schlimm genug, dass der Hausherr Sonntags nicht mit in die Kirche fuhr, doch er fluchte am laufenden Band und hätte sie es darauf ankommen lassen und mit ihm über seinen Glauben gesprochen, dann hätte er ihr wahrscheinlich direkt das Kreuz vom Hals gerissen. Mary kehrte kurz in sich und überlegte. Er war kein Teufelsanbeter. Egal, was die Leute im Dorf redeten, er war ein guter Mensch. Gut und sehr, sehr schwierig.
"Ich bereite jetzt das Abendessen zu." meldete sie und verließ sie das Zimmer. Leicht abschätzig blickte er ihr nach. Kurz huschte ihm ein Lachen durch das Gesicht. Wahrscheinlich würde die liebe Mary ihn auch heute wieder in ihre Abendgebete aufnehmen. Na sollte sie nur. Viel wichtiger waren diese kleinen Plagen, die sich also wieder hier blicken lassen hatten. Unfassbar. Er legte den Löffel ab und nippte an der Tasse, während er wieder durch die großen Fenster nach draußen blickte. Er würde diese Gören also nicht erschießen. Aber gegen einen Warnschuss war sicherlich nichts einzuwenden.
***
Die Grillen hatten bereits vor Stunden aufgehört zu zirpen, als Emily endlich in ihr Zimmer ging. Sie hatte noch abgewaschen, die Küche gefegt, den Kamin entleert und nun war ihr Kleid noch schmutziger, als es ohnehin schon war. Die große Pendeluhr unten in der Wohnstube schlug gerade Mitternacht, als sie sich vor ihren Spiegel setzte, der bereits so gut wie blind war. Ursprünglich stand dieser im Schlafzimmer der Eltern und gehörte eigentlich ihrer Mutter. Früher sah sie ihr immer dabei zu, wie sie sich ihre langen Haare erst gebürstet und dann geflochten hatte. Und manchmal steckte Emily ihr dann noch eine Blume in den Zopf, wenn sie, wie sie es damals öfter machte, vom Spielen einen Strauß Wildblumen mitgebracht hatte. Ihre Mutter lachte dann immer, hob sie auf ihren Schoß und machte auch ihre Haare hübsch, vor eben diesem Spiegel.
"Mutter." wisperte sie und wischte sorgsam mit einem Lappen über seinen Rahmen. Mit den Fingern entknotete sie ihre Haare und kämmte sie mit ihrem alten Holzkamm. Ihr Kleid wollte sie waschen. Das hatte sich erledigt, in vier Stunden würde sie schon wieder aufstehen müssen, um den Kamin anzuheizen. Bis dahin würde es nicht trocknen. Sie setzte sich auf ihr Bett, welches lediglich ein nacktes Holzgestell war, in das man Stroh gesteckt und mit einem Laken umwickelt hatte und erangelte ein altes Medaillon aus einer Ritze zwischen der Matratze und des Rahmens. Langsam öffnete sie den Deckel und blickte auf ein kleines Bild ihrer Mutter.
"Ach liebste Mutter. Wieso bist du nicht mehr?" flüsterte sie leise und drückte beide Hände an ihr Herz, als wolle sie verhindern, dass es zerspringt. "Und wieso hassen mich der Onkel und Madeleine nur so?" Sie stülpte sich das Kleid samt Schürze über den Kopf und hängte es über die Stuhllehne. Schließlich kuschelte sie sich in ihr Bett und stierte an die Decke. Nur noch vier Stunden Schlaf, das war wirklich zu wenig, dabei hatte sie doch morgen noch so viel zu tun. Unruhig wälzte sie sich hin und her. Flocke musste unbedingt mal wieder raus. Sie war schon ein richtiges Nervenbündel, weil sie die meiste Zeit nur im Stall stand. Schließlich fielen ihr die Augen zu und Emily stürzte von einem unruhigen Traum in den nächsten.
Wie mechanisch öffnete sie ihre Augen, als die Pendeluhr in der Stube vier schlug. Es war ihr bereits in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie alle Stundenschläge bis auf den vierten überhörte. Sie kleidete sich schnell an, knotete ihre langen Haare wieder zusammen und machte ein paar Fratzen in den angelaufenen Spiegel. Ihre blaugrauen Augen wirkten müde und aufgequollen. Und ihre ehemals so hübschen Locken wirkten filzig und glanzlos. Zumindest das konnte sie im Spiegel noch erkennen. Leise stieg sie die hölzernen Stufen hinunter in die Stube und zündete ein Feuer im Kamin an. Sie holte Wasser, fütterte die Schweine, Hühner, die beiden Kühe sowie Flocke und machte sich daran, das Frühstück zu bereiten, als ihr Onkel schließlich die Stube betrat.
"Emily, was trödelst du so herum? Ich muss bald los. Wieso ist weder das Essen fertig, noch die Milch geholt?"
"Ich werde mich beeilen Sir." flötete sie emotionslos und machte einen Knicks. Es schien ihn nicht im Geringsten zu stören, dass auch sie heute noch nichts gegessen hatte.
"Du wirst heute waschen. Danach säuberst du die Küche und bügelst. Holzhacken wirst du auch müssen, da ich heute in die Stadt fahre."
"Holzhacken?" wiederholte sie ungläubig. "Aber das kann ich doch gar nicht."
"Du hast doch oft genug zugesehen! Außerdem wirst du wohl noch Holzhacken können. Wie du siehst ist das hier das letzte Bisschen. Dir macht es vielleicht nichts aus im Stall bei den Tieren zu schlafen, um warm zu bleiben. Madeleine und ich hingegen... Also beeil dich."
Emily nickte und schluckte gleichermaßen schwer. Ihr Onkel hatte oft Holz gehackt, ja. Aber das hieß doch nicht, dass sie das nun auch konnte, nur vom Zusehen. Außerdem hatte sie nebenbei gearbeitet. Sie hatte also gar keine Zeit gehabt, sich ausgiebig mit der Technik vertraut zu machen. Die Axt war so schwer, wie sollte sie bitte Holz hacken? Und wenn sie im Stall schlief, dann doch nur, weil ihr Onkel es ihr als Strafe auferlegt hatte. Einmal musste sie eine ganze Woche dort schlafen. Es war ihr Glück, dass Flocke ihr erlaubte, in ihrem Stroh zu schlafen, ohne zu scheuen, sonst wäre sie wahrscheinlich wirklich erfroren. Sie schnappte sich einen Eimer und lief in den Stall, um die Kühe zu melken, während Ihr Onkel sich einen halben Laib Brot aus einem der Steintöpfe nahm. Er wickelte ihn in ein Leinentuch und packte ihn in seine Ledertasche. Ungeduldig aß er schnell eine Brezel und warf sich seinen Gehrock über. Diese Göre war zu rein gar nichts zu gebrauchen. Jetzt musste e
r sogar ohne angemessenes Frühstück aus dem Haus.
Währenddessen molk Emily die zweite Kuh im Stall und bekam von der Aufbruchstimmung ihres Onkels nur wenig mit. Flocke wirkte unruhig. Wenn sie heute nicht wenigstens auf die kleine Weide hinter dem Haus kam, würde sie den Stall wahrscheinlich kurz und klein trampeln.
Emily begann in Gedanken zu schwelgen. Wenn der Onkel in die Stadt fuhr, dann würde er sicher wieder schöne Dinge mitbringen. Für Madeleine natürlich. Aber vielleicht könnte sie ihn ja zu einem neuen Kleid überreden. Ihres war ihr wirklich langsam zu klein. Jeden Morgen musste sie ihre Oberweite in das viel zu enge Kleidungsstück drängen und Leinen hatten die Angewohnheit nur wenig nachzugeben. Ermutigt stapfte sie mit dem Eimer Milch in die Wohnstube zurück.
"Wollen Sie schon aufbrechen, Sir? Die Milch ist noch warm, möchten Sie ein Glas?" Sie quälte sich ein freundliches Lächeln aufs Gesicht und deutete auf den Eimer in ihren Händen.
"Dann aber rasch, ich muss los." entgegnete er ihr genervt und lehnte seine Hände auf den Tisch.
"Gehen Sie denn einkaufen heute?" erkundigte sie sich und kippte die Milch in eine große Kanne.
"Was soll ich wohl sonst in der Stadt machen?" maulte Mister Cavanaugh und leerte hastig das Glas, dass sie ihm gereicht hatte.
Gleich würde er gehen, sie musste sich sputen.
"Nun könnten Sie mir einen Gefallen tun?" Sein Blick traf Emily und ihr fror fast das Herz ein. "Es ist nur, mein Kleid. Wie Sie sicherlich bemerkt haben ist es..."
"Dann wasch es!" rief er und stellte das Glas ab.
"Es ist zu eng." und sie deutete auf ihren Oberkörper.
"Zu eng?" wiederholte ihr Onkel und musterte sie streng. "Nun, dann solltest du vielleicht weniger Essen in deinen gierigen Schlund schaufeln. Wir haben nicht genug Geld, als dass wir uns kugelrund fressen und ständig neue Kleider kaufen können. Ab heute wirst du nur noch die Hälfte essen. Dann passt auch das Kleid wieder."
"Aber Onkel! Sir!"
"Keine Diskussion!" schrie er und schlug mit der Faust auf den Tisch. Er setzte seinen Hut auf und knallte laut mit der Tür, sodass Emily zusammenzuckte. Verdattert blickte sie noch eine Weile ein Loch in die Luft. Was hatte sie angerichtet? Anstelle eines neuen Kleides gab es nun also noch weniger zu Essen. Eine Träne perlte an ihrer Wange herunter und sie stellte die Milchkanne auf den Boden.
***
"Peter! Hey! Hier drüben!" rief Jonathan und winkte eifrig.
"Was gibt es?" fragte dieser und ging auf die Gruppe von Jungen zu, die auf dem Schulweg neben dem Bäcker halt gemacht hatten.
"Wir gehen heute zum Anwesen." tönte Jonathan kleinlaut und richtete den Kragen seiner Jacke neu. Dann trat er gegen einen kleinen Stein und musterte Peter ausgiebig.
"Ich dachte, ihr wolltet gestern dorthin gehen?" fragte er irritiert und folgte dem Stein mit seinem Blick, als dieser auf die Straße rollte.
"Gestern stand der Alte aber draußen. Vielleicht haben wir heute mehr Glück. Wie sieht es mit dir aus? Kommst du mit?" Jonathan blickte in die kleine Runde, wohl wissend, dass Peter sowieso wieder kneifen würde.
"Wenn ich mitkomme und es raus schaffe, dann gehört die Schokolade aber mir." sagte Peter und prüfte die Reaktion der anderen.
"Vergiss es. Wir halten dir schließlich den Rücken frei. Also haben wir auch ein Recht auf einen Teil der Beute." Die Jungen nickten.
"Also gut aber ich darf einen kleinen Teil für mich behalten?" fragte Peter wieder und blickte sich um, als hätte man sie bereits erwischt.
"Mit deinem Teil kannst du doch machen, was du willst. Sieh nur zu, dass du auch ordentlich deine Taschen voll machst." Jonathan setzte seinen Ranzen auf und gab mit dem Kopf das Zeichen zu gehen.
"Und was ist mit der Schule?" fragte Peter erschrocken, als er merkte, dass die Jungs sofort aufbrechen wollten.
"Pfft." gaben diese nur von sich und trotteten langsam los.
"Sie werden doch merken, wenn wir alle nicht erscheinen." gab er noch zu bedenken und versuchte, nicht zu laut zu rufen.
"Dann geh doch hin!" rief Jonathan noch und die Gruppe setzte ihren Weg unbehelligt fort. Peter überlegte kurz. Gewissensbisse plagten ihn. Es gäbe auf jeden Fall den Hosenboden voll. So oder so. Aber er wollte unbedingt auch an diese Pralinen kommen und er würde es schließlich auch für Emily tun, die ja so wie er noch nie Schokolade gegessen hatte. Die würde Augen machen.
Schlussendlich folgte er den Jungs und sie verließen das Dorf Richtung Lansbury-Manor.
***
Emily mühte sich mit der Axt ab und hatte größte Sorge statt des Holzes sich selbst zu treffen. Nach etlichen Stunden war das Holz gehackt, die Küche geputzt, die Wäsche gewaschen und aufgehängt. Sie ließ Flocke auf die Weide und machte sich an die Bügelwäsche. Madeleine verließ gegen Vormittag das Haus und trug wieder eines ihrer wunderschönen Kleider, die ihr ihr Vater immer aus Stirling mitbrachte. Zweimal in der Woche durfte sie ins Dorf fahren und dort mit anderen Mädchen zusammen etwas lernen. Emily blickte ihr neidisch nach. Handarbeit, Lesen, ein bisschen Musik und Benehmen, das waren die Sachen, von denen Madeleine ihr immer wieder erzählte, um sie damit aufzuziehen. Wie gern würde sie auch dorthin gehen. Doch das Geld reichte gerade für eine von beiden und dann auch nur für zwei Tage. Ihr war klar, dass sie niemals so gebildet sein könnte, wie es Madeleine war. Wieder weinte sie bittere Tränen und ermahnte sich, an die Hausarbeit zu denken.
Als sie gegen Nachmittag dann endlich fertig war, richtete sie ihre Haare neu und holte den Sattel aus dem Stall. Ihr Onkel würde erst spät wieder kommen ebenso wie Madeleine, also würde sie heute endlich ausreiten gehen.
Sie rief einige Male nach Flocke, die sich auf der Weide nur wenig austoben konnte, da dies der Platz einfach nicht hergab. Schließlich kam sie wild schnaubend heran getrabt und Emily sattelte sie schnell. Wenig später ritt sie durch den Wald und sog die frische Luft ein. Wenn man ihr das Leben auch noch so sehr zur Hölle machte, hier war sie frei wie ein Vogel und auch Flocke schien es gut zu gefallen. Sie ritt eine ganze Weile, bis sie schließlich an einem kleinen Bach ankam und das Pferd abbremste. Sie stieg ab und lief zum Wasser, welches sie sich erfrischend ins Gesicht warf.
"Komm Flocke, trink. Das Wasser ist herrlich kühl."
Sie setzte sich und blickte sich um. Ein gutes Stück weiter erkannte sie einen Zaun hinter dem einige Pferde grasten und herum galoppierten. Und noch ein großes Stück weiter erkannte sie ein großes Herrenhaus, dass zwischen den Bäumen, die bisher nur Knospen und kleine, frisch gewachsene Blätter trugen, empor lugte. Sie stellte sich an den Zaun und sog den frischen Wind ein, der über die saftigen Wiesen wehte. Angestrengt versuchte sie das alte Haus zu erkennen und hielt sich die Hand als Sonnenschutz gegen die Stirn.
"Sieh mal Flocke. Ist das nicht ein schönes Haus?" mutmaßte sie und stieg auf den Zaun, um besser sehen zu können."Wollen wir nicht einfach dort wohnen?" scherzte sie und hielt sich weiter die Hand gegen die Stirn. "Und du könntest den ganzen Tag mit den anderen Pferden auf der Weide stehen und essen." Flocke schnaubte leise auf und trank weiter aus dem Bach. Emily blickte wieder über die Weide, als sie plötzlich ein paar Gestalten über die üppigen Wiesen rennen sah. Sie liefen, als würden sie verfolgt und plötzlich gab es einen lauten Knall. So laut, dass Flocke schlagartig unruhig wurde und zu scheuen begann.
"Ruhig! Ganz ruhig meine Liebe, Shhht." versuchte Emily sie wieder zu beruhigen, stieg vom Zaun herunter und blickte sich wieder nach den Gestalten um. Es waren vier und einer davon kam ihr erschreckend bekannt vor. Flocke indes beruhigte sich langsam wieder und ließ sich weiter den Nüstern streicheln. Emily wurde es mulmig und sie stieg wieder auf. Vom Pferderücken aus konnte man ohnehin besser sehen und als sie gerade oben war, erkannte sie Peter.
"Lauf! Lauf Emily! Lauf so schnell du kannst!" rief er und die ersten Jungen waren am Weidezaun angekommen, den sie schnell überkletterten. Emily blickte ihn verwirrt an, als ihr plötzlich klar wurde, woher der Knall gekommen war. Sie wurden verfolgt. Und ihr Verfolger sah alles andere als erfreut aus, als er sein Pferd antrieb schneller zu laufen und das Gewehr zum nächsten Schuss ansetzte.
"Ihr elenden Gören, euch werde ich lehren, mir noch einmal auf das Anwesen zu kommen, um mich zu bestehlen!" rief der Mann und feuerte einen weiteren Schuss ab.
Flocke reagierte nervös und trat von einem Bein auf das andere. Emily ritt in Richtung Wald und hielt kurz darauf inne, um sich zu vergewissern, dass Peter es auch über den Zaun schaffte. Dieser war bereits darüber geklettert und rannte noch immer um sein Leben. Sie atmete kurz auf und wurde von den Jungs überholt. Sie hatten es geschafft. Gott sei Dank. Durch den dichten Wald würde der aufgebrachte Mann nicht mehr schießen können und so hielt sie Flocke an, langsam los zu traben, als sie sich nochmals umblickte. Doch anstatt der Mann sein Pferd abdrehen ließ, preschte dieser auf den Weidezaun zu und übersprang diesen in einem ihr so leicht aussehenden Satz, dass es ihr die Sprache verschlug.
"Lauf doch Emily!" hörte sie Peter noch schreien und Emily trieb Flocke zu einem schnellen Galopp an. Sie hörte wie das Pferd hinter ihr lauter wurde. Es kam immer näher und schon bald spürte sie beinahe seinen Atem.
"Geh mir aus dem Weg du Rotzlöffel!" hörte sie den Mann von hinten rufen und wie hypnotisiert lenkte sie etwas ein, damit dieser sie überholen konnte. Er fegte an ihr vorbei wie ein schwarzer Blitz und bald war er hinter den Bäumen verschwunden.
"Du liebes Bisschen." flüsterte sie Flocke zu und drosselte sie auf Schritttempo. "Hast du gesehen, wie hoch er gesprungen ist?" und im nächsten Moment schüttelte sie den Kopf. Flocke konnte ihr ja sowieso nicht antworten und da es schon spät war, machte sie sich langsam aber nachdenklich auf den Heimweg. "Hoffentlich haben sich die Jungs nicht erwischen lassen." murmelte sie vor sich hin und grübelte angestrengt weiter. Der Mann war auf einem schwarzen Pferd geritten. Und das Tier war riesig. Ihr war noch nie ein so großes Pferd vor die Augen gekommen. Ob es sich bei diesem Mann wohl um den Hausherrn des Anwesens handelte? Sie zog die Augenbrauen zusammen und atmete tief durch. Er hatte sehr schicke Kleider an und er hatte ein Gewehr. Wie ein Jäger sah er jedoch nicht aus. Also war es wohl tatsächlich der Hausherr des Manors. Er wirkte wütend, jedoch nicht übernatürlich. Und der Leibhaftige war er auch nicht. Ganz sicher nicht. Emily legte den Kopf in den Nacken und träumte
weiter vor sich hin. Wäre er der Antichrist, dann hätte er ein Loch im Boden aufgetan oder schlimmeres aber er wäre sicherlich nicht, mit einem Gewehr bewaffnet, der Horde Jungs gefolgt und hätte sie beim Schießen verfehlt. Sie begann zu grinsen. Er war ein miserabler Schütze und ihr fiel wieder ein, dass er außerdem einen Stock in der Hand gehalten hatte. Der Leibhaftige ging sicher nicht am Stock. Schließlich rief sie sich selbst zur Ordnung und hielt Flocke zum zügigen Weiterlaufen an. Es dämmerte bereits und ihr Onkel war sicher schon unterwegs nach Hause. Gedankenverloren näherten sie sich ihrem Wohnhaus, als ihr plötzlich wieder dieser Mann auf dem schwarzen Pferd entgegen kam. Diesmal langsamen Schrittes, sodass er genügend Zeit hatte Emily ausgiebig zu mustern. Als er an ihr vorüber ritt, nickte sie ihm noch höflich zu und sie bemerkte, wie gut er roch, als seine Stimme sie fast dazu brachte aus dem Sattel zu fallen.
"Du!" rief er und wendete sein Pferd, dass Flocke um mindestens eine Hals- und Kopflänge überragte. "Einer der Burschen hat vorhin deinen Namen gerufen! Kennst du sie?"
"Ihnen auch einen recht schönen Tag." antwortete Emily schnippisch und stoppte. Der Mann kniff seine Augen zu Schlitzen zusammen und hob das Gewehr.
"Ich habe dir eine Frage gestellt, freches Mädchen." Drohend wedelte er mit dem Gewehr vor ihr herum.
"Hätten Sie nicht so viel mit diesem Ding da herum geschossen, hätten sie ihn vielleicht verstanden." gab sie etwas eingeschüchtert zurück und hielt Flocke zum weiterlaufen an. Verblüfft musterte er sie.
"Es wäre doch schade um deine hübsche Schwarzwälder Stute, wenn ihr etwas zustieße. Man stelle sich vor, sie würde erschossen werden, weil du durch Privatbesitz geritten bist."
Emily stoppte abrupt und blickte verschreckt zu dem Mann hinter sich.
"Das wagen Sie sich nicht." keuchte sie ihm entsetzt entgegen und umklammerte die Zügel etwas fester.
"Sag deinen Freunden, dass ich das nächste Mal zielen werde. Auf alles und jeden. Und ich bin ein vortrefflicher Schütze!" Mit einem schnalzenden Geräusch hielt er sein schwarzes Pferd zum loslaufen an und ließ das Gewehr auf den Schoß sinken.
"Das sind nicht meine Freunde!" rief sie noch und machte wieder kehrt. " Und woher wissen Sie überhaupt, was mein Pferd für eine Rasse ist? Außerdem ist dieser Wald kein privater Besitz!"
"Ziemlich viele Fragen auf einmal, freches Mädchen." Er stoppte. "Ich kenne mich gut mit Pferden aus und dieser Wald ist sehr wohl privat. Er gehört nämlich mir. Und ob diese Burschen von vorhin deine Freunde sind, interessiert mich nicht im Geringsten. Sie kannten dich, mehr muss ich nicht wissen. Richte ihnen aus, was ich dir gesagt habe, mehr sollst du nicht machen." Er grinste ihr eisig zu.
"Und wenn ich es nicht mache?" fragte sie fast atemlos und ihr Herz drohte ihr den Dienst zu versagen. Dieser Mann versprühte eine solch kräftige Dominanz, dass es ihr beinahe die Sprache verschlug.
"Dann knalle ich sie das nächste Mal ab, wie räudige Köter." sprach er und galoppierte davon.
Emily biss sich auf die Unterlippe. Was in Gottes Namen, hatten die Jungs angerichtet, dass er so sauer war? Sie ritt weiter Richtung Dorf und kurz vor dem Ortseingang erblickte sie die Truppe, wie sie gerade von einer alten Eiche herunter kletterten.
"Meine Güte." schnaufte Jonathan und griff sich in die Taschen. "Was läufst du auch so ungeschickt durch das Haus?"
"Woher sollte ich wissen, dass direkt hinter der Tür eine Vase steht?" fauchte Peter und klopfte sich den Schmutz von der Hose. Offensichtlich war er bei der Flucht gestürzt und konnte von Glück reden, dass es lange nicht geregnet hatte. "Ich habe gerade mal neun." stellte er dann jedoch enttäuscht fest, als er in seine Hosentaschen griff.
"Neun?" wiederholte Jonathan und holte gut zwölf Pralinen aus seiner Tasche. "Du bist halt noch ein Anfänger." stellte er fest und die Jungen machten sich an die Beuteverteilung.
"Da seid ihr ja." rief Emily schließlich und stieg ab. "Der Mann war wirklich sauer. Was habt ihr gemacht?"
"Verschwinde!" rief Jonathan und winkte mit der Hand ab. "Kleine Mädchen hat das nicht zu interessieren."
"Ach wirklich?" Emily stemmte ihre Hände in die Taille und überblickte die Gruppe, die ihre Köpfe wieder im Kreis zusammensteckten. "Der Mann sagte, ich soll euch ausrichten, dass er das nächste Mal zielen wird. Und dass er ein guter Schütze sei."
"Unsinn!" giftete Jonathan. "Der redet mit niemandem und schon gar nicht mit so einer Göre wie dir."
"Schrei sie nicht an!" schritt Peter ein und packte ihn an der Schulter. "Es ist ja nochmal gut gegangen und das nächste Mal passe ich eben besser auf."
"Das nächste Mal?!" Emily traute ihren Ohren nicht. Sie musste sich ganz eindeutig verhört haben."Was habt ihr da überhaupt gemacht?!" Peter suchte eine der schönsten Pralinen heraus und überreichte sie mit einem dicken Grinsen im Gesicht an Emily. "Was ist das?" fragte die misstrauisch und nahm dieses braune Etwas in die Hand, wo es bald anfing zu schmelzen.
"Das ist Schokolade. Iss sie, bevor sie ganz schmilzt." antwortete Peter ihr und steckte sich auch eine Praline in den Mund.
"Das ist gestohlen, ich will es nicht." Emily hielt die Hand von sich weg und rümpfte die Nase.
"Probier wenigstens mal." stachelte Peter sie an und kaute hastig weiter. EmilyŽs Blicke huschten durch die Gesichter der Jungs. Die verstanden zwar nicht, wieso er einen Teil seiner Beute an dieses Mädchen abgab, die den Aufwand der Beschaffung wohl nicht zu schätzen wusste, aber sollte er doch wissen, was er damit anstellte. Schließlich naschten nun auch alle anderen und Emily blickte in ihre Hand, wo sich bereits braune Flecken ausbreiteten. Sie holte tief Luft und steckte sich die Schokolade in den Mund. Schlagartig wurde ihr klar, weshalb man solche Gefahren auf sich nahm. Es schmeckte unglaublich gut. So gut, dass sie sich die geschmolzene Schokolade sogar von den Fingern leckte. "Und?" fragte Peter, der sich hastig noch eine weitere Praline in den Mund schob. "Gut, nicht wahr?" Emily nickte eifrig und schluckte hastig herunter. So etwas hatte sie noch nie gegessen. Sie kannte Kuchen und Plätzchen. Und auch Bonbons, aber diese Schokolade... Es war unbeschreiblich. "Will
st du noch eine?" fragte Peter sie und Emily nickte wieder eifrig. Gestohlen hin oder her. Für diese Pralinen war es eh zu spät. Der Mann würde sie sicher nicht zurück haben wollen und doch drehte sie sich nochmals verunsichert um. Sie aß die zweite Praline, die leicht nussig schmeckte und versuchte sie so lang wie möglich im Mund zu behalten, damit der Geschmack nicht so schnell verging. "Der Mann hat also mit dir gesprochen?" griff Peter das Gespräch wieder auf und leckte an seinem Daumen.
"Ja." meldete sich Emily. "Und er war wirklich sehr sauer."
"Und wenn schon." tat Jonathan alles ab und verstaute die restlichen Pralinen in seiner Schultasche. "Der soll ruhig kommen. Trifft sowieso nicht."
"Liegt wohl daran, dass er heute nicht gezielt hat. Das nächste Mal..."
"Das nächste Mal," unterbrach er sie "wird er gar nicht merken, dass wir da waren. Ich muss jetzt los." Auch die anderen Jungs nickten und die Gruppe löste sich langsam auf.
"Kann ich dich noch begleiten?" fragte Peter Emily, die nur ratlos nickte. Sie nahm Flocke am Zügel und so schritten sie langsam ins Dorf. Wenn der Mann die Wahrheit sagte und heute wirklich nicht gezielt hatte, dann würde er beim nächsten Mal wahrscheinlich treffen. EmilyŽs Herz begann erneut zu rasen. Was, wenn er Peter treffen würde? Das waren diese Pralinen weiß Gott nicht wert und sie stoppte abrupt.
"Geh nicht wieder hin Peter." ermahnte sie ihn und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. "Er wird treffen, glaub mir."
"Ich muss einfach vorsichtiger sein. Das klappt schon."
"Also ich weiß nicht." Emily schnaufte kurz auf und blickte zur untergehenden Sonne, als sie sich wieder in Bewegung setzen.
"Und dann bringe ich dir auch noch mehr Pralinen mit. Zwei habe ich noch, willst du dir eine mitnehmen?"
"Es sind aber deine. Behalte sie nur."
"Nun nimm schon, ich habe ja wie gesagt noch zwei." Peter öffnete seine Hand und hielt ihr die Schokolade unter die Nase. Schließlich verdrehte Emily die Augen und nahm sich eine.
"Danke." lächelte sie ihm zu und steckte die Süßigkeit in die Tasche ihrer Schürze.
"Lass sie nicht warm werden, sonst schmilzt sie." Emily nickte und vor ihrem Haus machten sie Stopp.
"Gib auf dich Acht Peter." tadelte sie ihn noch und musterte ihn ausgiebig. "Der Mann wird..."
"Lass nur gut sein." unterbrach er sie und blickte ihr in die Augen. "Du klingst schon wie meine Mutter." feixte er und war im Begriff zu gehen. Doch Emily hielt ihn an der Hand zurück und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
"Danke nochmal." sprach sie und brachte Flocke schnell in den Stall. Peter hingegen strahlte über beide Ohren und blickte ihr nach. Sein Herz hüpfte vor Freude und schlug ihm fast bis zum Hals. Es hatte sich also wirklich gelohnt, in die Höhle das Löwen zu steigen. Er spürte, wie seine Wangen heiß wurden und er berührte nochmals die Stelle, wo Emily ihn geküsst hatte. Er zog am Riemen seiner Schultasche und blickte die Straße zum Anwesen hinauf. Wenn er so ihr Herz gewinnen konnte, dann würde er, wenn es sein musste, auch jeden Tag dort hin gehen und für sie Pralinen stehlen. Er blies sich etwas Luft durch das Gesicht und lief freudig nach Hause.
Als Emily die Wohnstube betrat, tänzelte Madeleine bereits um ihren Vater herum, in den Händen hielt sie ein neues Kleid. Natürlich hatte sie eines bekommen. Auf dem Tisch lagen außerdem Bonbons und neuer Pfeifentabak. Sie blickte die beiden an.
"Sieh mal Emily, mein neues Gewand. Es ist für die Schule. Gefällt es dir?" Madeleine tat ein paar Schritte auf sie zu und Emily untersuchte das Kleid genauer.
"Sehr hübsch." entfuhr es ihr etwas traurig. "Du wirst sicher sehr hübsch darin sein."
"Natürlich werde ich das. Danke Herr Papa, du bist der beste!" rief Madeleine und gab ihrem Vater einen Kuss auf die Wange.
"Sind die Bonbons für mich?" fragte Emily und deutete auf den Tisch.
"Finger weg!" schrie ihre Cousine und riss die Tüte an sich. "Das sind meine!"
"Darf ich auch einen haben bitte?" fragte sie und hätte sich für die Frage am liebsten selbst geohrfeigt, da sie die Antwort eh schon kannte.
"Worüber haben wir uns heute morgen unterhalten?" tadelte ihr Onkel sie, ohne auch nur aufzublicken.
"Tut mir Leid. Nun, dann mache ich mal das Essen." flötete Emily geknickt und lief zum Ofen.
"Wir haben bereits gegessen." trällerte Madeleine ihr entgegen und drehte sich wieder mit ihrem neuen Kleid und den Bonbons in der Hand im Kreis. "Im Gasthof im Dorf." fügte sie noch hinzu.
"Verstehe." gab Emily enttäuscht zurück. "Dann ziehe ich mich jetzt zurück."
"Ja, nachdem du die Tiere versorgt und den Kamin ausgefegt hast. Zum Ausreiten hat deine Zeit ja allemal gereicht."
Emily holte Luft zum Protestieren, biss sich jedoch auf die Unterlippe, nickte und lief in den Stall.
***
"Ich habe Sie schießen hören!" meckerte Mary und folgte dem Hausherrn auf Schritt und Tritt durch das Anwesen. Ihre Schuhe klackerten laut auf dem Parkett und sie hatte Mühe, von ihm nicht abgehängt zu werden.
"Ich habe nicht getroffen." gab der achtlos zurück und umfasste seinen Stock etwas fester.
"Das ist Ihr Glück. Sie wollen doch wohl nicht auf Menschen schießen!" ermahnte sie ihn wieder, als Mister Lansbury plötzlich stehen blieb und sich ärgerlich zu ihr drehte. Er sog scharf die Luft ein, hielt sie jedoch kurz zurück und hob drohend seinen Finger vor ihr Gesicht.
"Das ist mein Haus, mein Land und überhaupt. Alles, was sich hier befindet gehört mir! Und ich sehe nicht ein, dass mich irgendwelche Kinder aus dem Dorf bestehlen, ohne dafür bestraft zu werden." Sein angestauter Frust entlud sich schlagartig bei seiner Hausdame und er drehte ihr wieder den Rücken zu, um seinen Weg fortzusetzen.
"Sie dürfen trotzdem nicht schießen!" gab Mary spitz zurück und blies sich etwas Luft durch das Gesicht. "Es sind doch noch Kinder."
"Ja, Kinder." flötete er desinteressiert und knallte mit jedem Schritt den Gehstock unnötig laut auf den Parkettboden. "Kinder denen man scheinbar keine Erziehung angedeihen lässt."
"Na das wird dann wohl auch nicht mehr nötig sein, wenn Sie sie erst mal erschossen haben." erwiderte Mary etwas resigniert, ließ sich jedoch nicht von ihm abschütteln. "Ich räume die dann aber nicht weg. Überlegen Sie sich also besser, wo sie die Leichen dann lassen wollen."
"Bitte?!" gab er von sich und blickte sich irritiert um. Mary hingegen hatte ihm den Rücken gekehrt und stampfte wütend davon. Unverschämtheit. Jetzt musste er sich schon von seiner Hausdame tadeln lassen. Er, Laird Vincent Phillip Lansbury of Trossachs, Großgrundbesitzer und Züchter der edelsten Pferde, die es nördlich von Weimar überhaupt zu erwerben gab. Außerdem hatte er, wie sein Vater bereits, sein Studium als Vollarzt abgelegt und nach dessen Tod sogar noch eine Ausbildung zum Pferdearzt absolviert. Er stieß eine große Tür auf und nahm in einem der Sessel vor dem Kamin der Bibliothek Platz. Angestrengt überlegte er und ließ seinen Blick auf dem knisternden Feuer ruhen. Sollte er sich allen Ernstes von diesen Gören bestehlen lassen? Als er noch Kind war, wäre ihm das im Leben nicht eingefallen. Nun, zumindest hätte er sich dabei nicht so dumm angestellt.
"Was soll ich mit den Scherben machen, mein Herr?" fragte Karl, der Mister Lansbury nach kurzer Zeit in die Bibliothek gefolgt war.
"Scherben?" fragte dieser und blickte auf.
"Die Vase aus dem Flur oben." gab Karl zurück und runzelte die Stirn.
"Sie ist kaputt?" Die Wut in seinem Gesicht wich dem aufkommenden Entsetzen.
"Ja leider. Und sie ist wirklich komplett kaputt."
"Das darf doch wohl nicht wahr sein!" Mister Lansbury sprang aus dem Sessel auf und schnaubte wild tobend. "Das nächste mal erschieße ich sie! Alle samt! Diese Kinder scheinen sich keine Vorstellung davon zu machen, dass es für andere Menschen auch Besitztümer mit ideellem Wert gibt!" Beim Gehen knallte er wieder laut mit dem Stock auf den Boden. "Fein. Dann machen wir es eben anders!" rief er noch immer tobend aus. "Wer mir das Pack oder wegen meiner auch eines der Kinder bringt, bekommt eine gebürtige Belohnung. Sagen wir hundert Pfund! Nein, besser gleich zweihundert. "
Karl klappte beinahe der Mund bis zum Boden herunter auf. Zweihundert Pfund waren unglaublich viel Geld, wenn man bedachte, dass er als Angestellter im Hause sechshundert Pfund im Jahr bekam. Sicher, Unterkunft, Kost und Logis musste er nicht selbst zahlen und damit war er dann schon jemand der besser verdiente, als manch Fabrikarbeiter in den großen Städten. Aber zweihundert Pfund als Extralohn waren schon eine stattliche Summe, die er gänzlich unbemerkt immer wieder vor sich hin murmelte.
"Und die Vase?" fragte er kurz darauf.
"Sammle die Scherben zusammen und bring sie in mein Schlafgemach. Vielleicht kann man sie ja noch reparieren." Mister Lansbury ballte seine linke Hand zur Faust und hob sie vor sein Gesicht. Natürlich würde er keine Kinder wegen etwas Schokolade erschießen. Doch die Tatsache, dass nun ausgerechnet diese Vase bei einem ihrer Raubzüge zu Bruch gegangen war, wurmte ihn sehr. Sie war doch eines der letzten Erbstücke seiner Mutter. Wieso gingen andere Menschen damit so arglos um?
Gegen neun Uhr abends zog sich der Hausherr zurück und überblickte die Scherben, die Karl ihm, in ein Tuch gewickelt, auf die Kommode in seiner Schlafstube gelegt hatte. Vorsichtig schob er mit einem Finger die Bruchstücke etwas hin und her und atmete tief aus. Sein Blick hob sich und blieb an dem großen Wandspiegel hinter der Kommode hängen. Eine Zornesfalte zog sich zwischen seinen Augenbrauen entlang. \'Hassfalte\' hatte Mary es immer genannt. Und dann hatte sie ihn angehalten nicht immer so grimmig zu gucken, sonst würde sich besagte Falte bald tief in sein Gesicht graben. Sie hatte recht behalten. Selbst wenn er sein Miene zu einem Lächeln verzog, die Falte blieb, wie angewachsen. "So werden Ihnen die Frauen aber nicht zulaufen!" hatte Mary immer gescherzt. Und was sollte er sagen, auch da hatte sie Recht. Er war Anfang Dreißig und noch immer ledig. Sein Vater hatte mal gesagt, dass es mit solch einem Sohn sowieso nichts wird.
Mister Lansbury schnaubte entrüstet auf und lehnte seinen Gehstock an die Kommode, um möglichst ohne ihn frei stehen zu können. Sein Bein schmerzte, lange würde er das nicht durchhalten und doch schaffte er es zumindest seinen Kragen etwas zu lockern, der ihm, wie jeden Tag, die Luft zum Atmen raubte. Er drehte seinen Kopf zur Seite und wieder zurück. So schlecht sah er doch eigentlich nicht aus. Er hatte dunkles, kurzes Haar, etwas längere Koteletten und blaue Augen. Er war schlank aber nicht schlaksig. Gut er hatte diese Falte da zwischen den Brauen aber im Großen und ganzen war er doch nicht unannehmbar. Nun vielleicht war er ab und an etwas mürrisch und neigte schnell dazu überzureagieren. Aber die Tatsache, dass andere ihn für besserwisserisch hielten, beruhte grundlegend und überhaupt ausschließlich auf deren Neid. Soviel war sicher. Er griff nach seinem Stock und entledigte sich mühsam seiner übrigen Kleider. Wieder schmerzte sein Bein kurz auf und er rieb sich über de
n Oberschenkel. Ein Krüppel war er, da musste man sich nichts vormachen. Ein Mann, Anfang dreißig mit Stock. So sah es doch aus. Kein Wunder, dass ihn also niemand wollte. Aber das sollte ihm recht sein. Er hatte Mary, er hatte Karl und beide waren ihm treu untergeben. Und er hatte seine Pferde. Mehr brauchte er nicht. Nur kurze Zeit später, er hatte sich eben erst zugedeckt, fiel er in einen unruhigen Schlaf.
***
"Eine Schande bist du. Nichts weiter."
"Vater bitte." Vincent lehnte seinen Kopf gegen die Stuhllehne und zog laut die Nase hoch.
"Und das sollst du auch nicht machen!"
"Verzeih." wimmerte der Junge ihm entgegen und folgte seinem Vater mit den Blicken durch das Studierzimmer, indem der wütend auf und ab schritt. "Ich spiele doch aber so gerne Klavier und Susan meinte, dass ich es wirklich beherrsche." verteidigte sich Vincent und machte sich bereits auf geballte Gegenwehr gefasst.
"Glaubst du deine Mutter ist bei deiner Geburt gestorben, um dann im Himmel zu hören, dass du Klavier spielen willst, um Geld zu verdienen?! Und Susan hat kein Stück zur Berufsfindung deiner Person beizutragen! Sie ist nicht für deine Erziehung verantwortlich!" schrie Mister Lansbury Senior seinen Sohn an und entriss ihm die Hefte mit den Notenblättern. "Du wirst etwas anständiges lernen und zur Armee gehen!"
"Du warst selbst nie dort." flüsterte Vincent leise und krallte sich an die Stuhllehne, als ahnte er, was als nächstes geschehen würde. Mister Lansbury fuhr herum und riss seinen Sohn an den Schultern zu sich heran.
"Sag das nochmal, du vorlauter Bengel."
"Bitte Vater, lass mich meinen Träumen nachgehen."
Susan stand vor der Tür und presste sich die Hand vor den Mund als sie es mehrmals laut klatschen hörte.
"Du tust, was ich dir sage! Schlimm genug, dass du deine Mutter in den Tod getrieben hast aber mich schickst du nicht ins Grab!"
"Vater bitte!" dröhnte es gedämpft durch die Tür. Als es plötzlich noch lauter knallte lief Susan los. Sie konnte es nicht mit anhören. Natürlich war sie nicht für Vincent angestellt worden, das wusste sie. Vielmehr waren ihr die Kinder der Hausdame anvertraut worden. Nachdem SusanŽs Mann gestorben war, musste sie ihr eigenes Geld verdienen und als Gouvernante konnte sie das, ohne all zu sehr ihr Ansehen in der Öffentlichkeit zu verlieren. Dass der Junge wirklich gut Klavier spielen konnte, obwohl er erst zehn Jahre alt war, ließ sie ihn immer wieder wissen, wenn er während des Unterrichts der Mädchen im Studierzimmer vorbeischaute und ein, zwei Stücke vortrug; natürlich unerlaubt und es dauerte auch nicht lange, bis der Hauslehrer aufkreuzte und den Jungen wieder mitnahm. Und so sehr sie ihn auch verstehen konnte, hätte sie ihm gerade eben am liebsten den Mund zugehalten. Wahrscheinlich würde der Hausherr sie entlassen, wenn Vincent weiter auf seine Träume beharrte. Ihr Arbe
itgeber war herrisch, aufbrausend und sehr jähzornig. Und sie hatte dem Jungen Flausen in den Kopf gesetzt. Würde man sie jetzt also entlassen, gäbe es nicht nur allen Grund dazu, sondern obendrein noch ein schlechtes Zeugnis, was es ihr schier unmöglich machen würde, woanders wieder eine Anstellung zu bekommen. SusanŽs Herz raste und sie versuchte sich selbst zur Ordnung zu rufen. Im Studierzimmer indes kehrte kurz Ruhe ein.
"Vater, manchmal glaube ich, dass du dir wünschtest, ich hätte statt Mutter sterben sollen." wimmerte der Junge und stand wieder auf. Blut tropfte auf sein Hemd und mit der Hand hielt er sich die Nase.
"Du redest wirres Zeug." entgegnete Mister Lansbury ihm trocken und stellte den Stuhl, mit dem er gerade noch nach seinem Sohn geworfen hatte, wieder an den Tisch. "Ich frage mich, wer dir solche Flausen in den Kopf setzt."
"Verzeih mir bitte, Vater. Ich habe dich doch lieb und ich will ja auch tun, was du mir aufträgst. Nur bitte gestatte mir den einen Wunsch und lass mich weiter Klavier spielen."
"Meine Antwort ist und bleibt ein Nein. Jetzt finde dich damit ab." entgegnete sein Vater ihm beinahe herzlos.
"Hast du mich denn gar nicht mehr lieb?" hörte er seinen Jungen fragen und er stierte ihn böse funkelnd an.
"Du hast mich lieb? Dass ich nicht lache! Du weißt ja nicht mal, wie das geht! Jemand wie du braucht außerdem keine Liebe! Du bist der Grund, warum deine Mutter tot ist, mehr musst du nicht wissen und jetzt tu, was ich dir aufgetragen habe und lerne, damit aus dir etwas wird. Ich will keine weiteren Widerworte hören! Wahrscheinlich ist bei dir sowieso Hopfen und Malz verloren."
***
Schweißgebadet riss er seine Augen auf. Sein Bein schmerzte. Es schmerzte höllisch, als versuchte es ihn wieder in die Realität zu holen.
"Du hattest unrecht Vater!" wisperte er mit tränenerstickter Stimme. "Und ich habe dich immer geliebt." fügte er noch hinzu, als ihn wieder ein brennender Schmerz durchfuhr. "Mary! Oh Gott, Mary!" brüllte er laut und krallte sich in seine Bettwäsche. Kurz darauf vernahm er eilige Schritte auf dem Flur und die Tür sprang auf. Mary wirkte etwas verwirrt, hatte ihre Schlafhaube wohl abgelegt und ihre braunen Haare, die mit grauen Strähnen durchsetzt waren, standen wild von ihrem Kopf ab.
"Wieder das Bein?" fragte sie eilig und stellte die Öllampe neben das Bett auf den Nachttisch.
"Es tut so weh!" schrie er laut und krampfte sich schmerzerfüllt zusammen. "Tun Sie doch etwas!"
Mary eilte zur Kommode, in deren unterem Fach die Opiumtinktur stand und nur kurze Zeit später entfaltete diese ihre volle Wirkung sodass es wieder still im Zimmer wurde. Sie hatte sich neben sein Bett gesetzt und seine Hand gehalten, bis er eingeschlafen war. Dabei hatte sie, so wie sie es immer tat, etwas vorgesungen und mit dem Daumen seinen Handrücken gestreichelt, so wie sie es damals mit ihrem Sohn machte, wenn dieser nicht schlafen konnte, weil es ihm so schlecht ging.
Mary atmete kurz tief durch und löste ihre Hand aus seiner, um wieder in ihre Schlafstube zu gehen. Auf dem Weg nach draußen entdeckte sie die Scherben der Vase und zog ihre Augenbrauen zusammen. Mister Lansbury war über die Zeit wie ihr eigener Sohn geworden. Immer, wenn er sie nachts rief, schlug ihr das Herz bis zum Hals und sie rannte, so schnell sie konnte, zu ihm ins Zimmer, um ihm zu helfen. Sie ertrug es nicht, wenn er litt. Daher war es für sie auch wie selbstverständlich geworden, ihn in den Schlaf zu singen, wenn er wieder diese furchtbaren Schmerzen hatte. Jeder Mensch brauchte schließlich etwas Zuneigung und auch, wenn er es nicht zugab, er mochte es von ihr bemuttert zu werden. Natürlich verstand sie sich auch äußert gut darin, ihm das eine oder andere Mal etwas erzieherisch unter die Arme zu greifen. Nein, eher ihn möglichst zu erziehen.
Sie kam ins Anwesen als Gouvernante für die Töchter der damaligen Hausdame, die nach längerer Krankheit verstorben war. Vincent war damals gerade zwölf geworden und ihre Vorgängerin hatte man unehrenhaft entlassen. Sie hatte dem Jungen Flausen in den Kopf gesetzt, hieß es und Mary nahm es erst einmal so hin. Schnell bemerkte sie, wie Mister Lansbury Senior den Umgang mit seinem Sohn pflegte, wenn er ihn denn überhaupt als Person wahrnahm. Ihr war es schleierhaft, wieso sie ein solch schlechtes Verhältnis untereinander hatten. Ihr eigener Sohn war noch keine zwei Jahre unter der Erde, ihn hatten die Pocken dahingerafft, und nun musste sie mit ansehen, wie dieser Mann sein eigen Fleisch und Blut so quälte. Auf diesen Umgang führte sie es auch zurück, dass der Junge seine Mutter abgöttisch liebte, obwohl er sie nie kennengelernt hatte. Einmal hatte er ihr gesagt, dass sein Vater die dunkle, böse Seite und seine Mutter wahrscheinlich die helle und gütige gewesen war. Somit hätte
er ausgeglichen aufwachsen können, da sich beide gegeneinander aufgewogen hätten. Nun war seine Mutter aber tot und deshalb war er, der sich als neutral in diesem ganzen Geflecht beschrieb, der Willkür und Boshaftigkeit seines Vaters ausgesetzt. Sie hatten damals in der Waschküche gestanden und er hatte so leise geflüstert, dass Mary ihn kaum verstehen konnte. Als er ausgesprochen hatte, übermannten sie ihre Gefühle und sie zog den Jungen an sich heran und drückte ihn fest.
\'Welch hoch gegriffene Worte für einen zwölfjährigen Jungen.\' ging es ihr durch den Kopf.
"Wenn du Kummer hast, dann kommst du zu mir." hatte sie ihm dann auch leise zugeflüstert und versucht seine Tränen zu trocknen. In einem früheren privaten Gespräch hatte er sie gebeten ihn nicht Master zu nennen, wenn sie unter vier Augen sprachen. Es entsprach nicht seinen Vorstellungen, von einer älteren Frau betitelt zu werden, wo er selbst doch noch nichts geschafft hatte.
"Das geht nicht." hörte sie in gepresst flüstern und besann sich wieder auf ihre Situation. "Nur wegen mir hat er Susan fortgeschickt. Ich möchte das Sie bleiben, weil ich Sie wirklich mag."
Und dann war er leise aus der Waschküche geschlichen und ließ Mary allein zurück.
Solche Gespräche sollten bald noch öfter stattfinden und sie wurden dabei nicht nur einmal vom Hausherrn selbst erwischt, der darüber natürlich äußerst erzürnt gewesen war.
Eines Tages hatte er beide aus der Waschküche geworfen und ihr gedroht, sie, genau wie ihre Vorgängerin, unehrenhaft zu entlassen. Mary hatte sich immer und immer wieder entschuldigt und bittere Tränen geweint.
Am nächsten Tage dann wurde sie ins Herrenzimmer gerufen. Ihr Magen spielte verrückt, ihr war übel, da sie das kommende Unheil bereits zu spüren vermochte. Sie klopfte an und wartete, dass man sie herein bat. Vor dem Kamin saßen auf dem roten Fransensofa der Hausherr und neben ihm sein Sohn, dessen Gesicht, gleich einer Maske, keine Regung zeigte.
"Nimm Platz Mary." wies Mister Lansbury sie an und so tat sie, was ihr aufgetragen wurde und sie setzte sich ihnen gegenüber auf einen der beiden Sessel. Kalter Schweiß perlte an ihrer Stirn herab. "Master Vincent hat mir heute erzählt, dass du wieder mit ihm privat gesprochen hast."
Mary stockte der Atem und sie traute ihren Ohren nicht. Ganz davon abgesehen, dass sich beide immer geschworen hatten, niemandem etwas von ihren heimlichen Treffen zu erzählen, glaubte sie sich gerade ernsthaft verhört zu haben. Sie hatte doch keineswegs erneut mit dem Jungen gesprochen, wie also kam dieser dazu, seinem Vater diese Lüge zu erzählen? Ihre Hände begannen zu zittern.
"Ich muss zugeben, dass ich anfangs wirklich sehr ärgerlich darüber war, als er mir das sagte. Nichts desto trotz freue ich mich, dass du ihn scheinbar auf den rechten Weg gelenkt hast." fuhr der Hausherr fort. Nun verstand Mary überhaupt nichts mehr und hatte Mühe ihren Mund nicht offen stehen zu lassen. "Und aufgrund deines guten Einflusses auf ihn, möchte ich dir die Stelle als Hausdame anbieten. Wie du ja sicher schon bemerkt hast, hat sich bisher noch keine Neue finden lassen. Also? Was meinst du?" fragend blickte er sie an. Mary war einer Ohnmacht nahe. Noch vor wenigen Minuten hatte sie ihre unehrenhafte Entlassung befürchtet und nun wurde sie befördert, wenn sie nur den Mut dazu hatte, Ja zu sagen.
"Sehr gern, Sir. Es wäre mir eine Ehre." gab sie tonlos an und erhob sich, um sich gleich mehrmals vor ihm zu verbeugen.
"Sehr schön. Dann wäre das auch geklärt." Der Vater hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als Vincent bereits vom Sofa rutschte und das Zimmer verlassen wollte. "Junger Mann! Hiergeblieben!" rief er seinem Sohn nach und seine eben noch recht freundliche Stimme wurde fest und laut.
"Ich habe diese Entscheidung auf MaryŽs Wirken hin getroffen, nicht wegen dir Vater. Ich hasse dich. Ich hasse dich so sehr, dass ich dich in Stücke hauen könnte." sprach er ohne sein Gesicht zu verziehen und verließ den Raum.
"Master!" rief Mary noch aus und blickte entsetzt zum Hausherrn, der nur wenig Anstalten machte, dass eben Gesagte an sich heran zu lassen. "So hat er es sicher nicht gemeint." versuchte sie die Situation etwas zu entschärfen und hielt sich im nächsten Moment die Hand vor den Mund, da man sie ja gar nicht gefragt hatte.
"Ich erwarte von dir, dass du dafür sorgst, dass er seinem jetzt eingeschlagenen Weg weiter folgt. Er wird Arzt werden und sollte dir auch nur der kleinste Zweifel kommen, dass er seine Meinung dazu geändert hat, dann wirst du mich informieren, Mary. Ich will nichts mehr über diese vermaledeiten Träume vom Klavierspielen hören, habe ich mich deutlich ausgedrückt?!"
"Sehr wohl, Sir." Sie knickste vor ihm und verließ das Zimmer.
***
Mary schlug das Leinentuch über die Scherben und blickte noch einmal zum Hausherrn, der nun friedlich zu schlafen schien. Heute wusste sie, wie sein Vater damals darauf kam, dass sie gut auf ihn gewirkt hätte. Er hatte ihm erzählt, dass sie ihm dazu geraten hatte, eine vernünftige Ausbildung zu absolvieren und seine Träume zu vergessen. Der kleine Vincent hatte damals bei einem Streifzug durch das Anwesen im Arbeitszimmer seines Vaters ein Zeugnis gefunden, dass für Mary bestimmt war. Er hatte ihr bis heute nicht gesagt, was darin stand aber es musste etwas sehr negatives gewesen sein. Ihr zuliebe hatte er gelogen und alles aufgegeben, damit sie bleiben konnte. Und das war für sie bis zum heutigen Tage der Grund, weshalb sie ihm immer treu ergeben blieb. Viele Gouvernanten und Hausdamen wechselten den Haushalt, da sie durch mehr Erfahrung und Arbeitszeit auch ein höheres Gehalt zu erwarten hatten, wenn sie ihren Arbeitgeber wechselten. Mary verzichtete mit einem guten Gewisse
n darauf und blieb. Wenn er sie nicht herauswarf, dann würde sie so lange bleiben, wie sie ihm im Haus helfen konnte. Und dass er sie bis heute noch Siezte gab ihr das Gefühl, dass er sie noch genauso wertschätzte, wie er es damals als Kind schon getan hatte. Nun galt es nur noch, ihn von der Idee abzubringen, auf die Kinder zu schießen, doch da würde ihr sicher noch etwas einfallen.
Kapitel 2 ~ Irreführung
"Wenn ihr da hin geht, gibt es sicherlich großen Ärger, Madeleine!" Emily zog ihrer Cousine am Saum ihres neuen, rosa Kleides, um sie zur Umkehr zu bewegen. "Erst vor gut zwei Wochen war Peter dort und der Mann hat geschossen!" warnte sie beide Mädchen eindringlich.
Madeleine winkte ab und verdrehte ihre Augen, sodass Meggan beherzt anfing zu lachen.
"Die Jungs übertreiben nur, mach dir keine Gedanken. Du kannst ja mitkommen und dir alles ansehen. Wenn man sich geschickt genug anstellt, bemerkt er nicht mal, das wir da sind." flötete Meggan.
"Keine zehn Pferde bringen mich dazu, dort hin zu gehen! Und ihr solltet das auch lassen." Emily biss sich auf die Unterlippe. Es war ohnehin zwecklos die beiden davon abhalten zu wollen, sie würden sowieso nicht auf sie hören und schließlich blickte sie ihnen wehmütig nach, als sie sich zum Anwesen aufmachten. Emily würde außerdem keine Zeit haben, ihnen zu folgen. Ihre Aufgabenliste war schier endlos und es war schon früher Nachmittag, also widmete sie sich wieder ihrer Arbeit.
"Ist die immer so?" bohrte Meggan und verdrehte wild ihre Augen.
"Vater meinte, ihr hätte bisher die Erziehung eines Mannes daheim gefehlt, deshalb wäre sie so, wie sie ist. Meine Tante soll sie wohl nur verhätschelt haben." Madeleine folgte ihrer Freundin, die sich schnellen Schrittes dem Anwesen näherte. Kurz überlegte sie, ob es klug war, in ihrem neuen Kleid dort hin zu gehen. Doch schließlich ließ sie sich von Meggan in ein Gespräch fesseln, dass ihren Gedankengängen ein jähes Ende brachte. Sie redeten den ganzen Weg bis dort nur schlecht über Emily und die anderen Mädchen aus ihrer Klasse, als ihnen plötzlich eine schwarze Kutsche entgegen kam und so huschten sie schnell in ein Gebüsch.
"Das war knapp." stellte Meggan fest und schlüpfte vorsichtig wieder aus den Sträuchern hervor.
"Mein Tuch, ich hänge fest." rief Madeleine und zerrte daran herum, bis es sich schließlich mit einem lauten Ratschen aus den Ästen löste. "Großartig, nun ist es schmutzig und obendrein noch kaputt." stellte sie fest und hob die Augenbrauen.
"Ist doch egal, komm, wir sollten uns beeilen. Wenn mich nicht alles täuscht, war das der Alte. Vielleicht ist das Haus gerade unbewacht." Meggan hielt ihre Freundin zur Eile an. Die band sich das Tuch wie eine Schürze über ihr Kleid und folgte ihr.
"Weißt du denn überhaupt, wie wir da rein kommen?"
"Also Madeleine!" empörte sie sich und nahm sie an die Hand. "Natürlich weiß ich das. Ich bin doch nicht zum ersten Mal da. Zuerst probieren wir es beim Wintergarten. Der Alte zieht sich da das ganze Jahr über Gemüse und meist steht die Tür offen, wenn es draußen nicht all zu kalt ist."
"So wie heute." stellte Madeleine erfreut fest und folgte Meggan weiter.
***
Mister Lansbury blickte aus dem Fenster seiner Kutsche und überflog die vorbeihuschende Landschaft. Mittlerweile waren die Bäume und Büsche grün und die Wiesen blühten langsam auf. In seiner einen Hand drehte er den Gehstock hin und her und in der anderen hielt er einen Brief. Sein neuer Gehrock war fertig und man bat ihn, sich nochmals in der Schneiderei vorzustellen, damit eventuelle Änderungen noch vor Ort erledigt werden konnten. Außerdem hatte Mary ihn gebeten, ihr aus dem Dorf einen Sack Salz und Tee mitzubringen. Eigentlich machte sie das immer selbst aber wenn er ohnehin in diese Richtung musste, konnte er ihr diesen Gefallen ja tun. Sie war sowieso nicht mehr so tüchtig auf den Beinen, seit sie einmal von der Küchenleiter gestürzt war. Auch wenn sie es nie zugegeben hatte, den Sturz hatte sie nie ganz verwunden. Er war ihr sofort zur Hilfe geeilt. So schnell es sein eigenes, lahmendes Bein eben zugelassen hatte und wie er es geschafft hatte, sie aus der Küche in den
Salon zu tragen, vermochte er bis heute nicht zu ergründen.
Im Dorf drosselte Karl die Pferde und kurz darauf kam die Kutsche vor einem kleinen Kaufmannsladen zum Stehen. Mister Lansbury blickte kurz aus dem Fenster und nachdem ihm die Tür geöffnet wurde, tat er den ersten Schritt auf die Straße, wo ihm das Getuschel der Leute bereits an die Ohren drang. Er verstand nicht, was sie sagten und es war ihm auch egal. Sollten sie nur reden, er hatte sich nichts vorzuwerfen. Wahrscheinlich waren diese Leute eben jene Eltern, die es anscheinend für nötiger hielten schlecht über ihn zu reden, anstelle ihren Kindern etwas Erziehung angedeihen zu lassen. Er blickte sich um, zog seine Hutkrempe etwas weiter ins Gesicht und rümpfte die Nase. Früher oder später würden sie daran ersticken. An all den Märchen und Gruselgeschichten, die sie über ihn verbreiteten. Nur weil er sie nicht verstand, hieß das ja noch lange nicht, dass er nicht wusste, was man ihm alles nachsagte. Na, sollten sie nur, dann hatte er wenigstens seine Ruhe. Er öffnete die Tür
des Ladens und eine kleine Glocke schrillte auf.
"Guten Tag Mistress Adams. Wie geht es Ihnen?" rief er in den Raum und schloss die Tür hinter sich.
"Mister Lansbury, Sir? Sind Sie es?" kam es aus einem Hinterzimmer zurück und eine Frau mittleren Alters kam eiligen Fußes heran gelaufen.
"Ja ich bin es. Ich habe mich heute aufgrund des schönen Wetters mal wieder breitschlagen lassen in die Stadt zu fahren. Und Mary braucht noch ein paar Kleinigkeiten."
"Ach ja, wie schön. Möchten Sie Tee?"
"Nein, nein. Ich bin etwas in Eile. Wie geht es Ihrem Mann?" erkundigte er sich und überblickte das reiche Sortiment des kleinen Ladens.
"Dem geht es gut. Er ist unvergänglich, wie Unkraut." scherzte Mistress Adams und folgte ihm mit gebürtigem Abstand. "Was brauchen Sie denn?"
"Salz, einen kleinen Sack voll und Tee."
"So wie immer?" fragte sie und deutete auf das Regal neben ihr. "Wir haben auch ganz neue Sorten bekommen. Gestern erst. Er ist aus Indien, möchten Sie sich vielleicht etwas umsehen?"
"Nein, nein. So wie immer." Sein Blick wanderte weiter durch die Regale und blieb an einer Kommode hängen, auf der kleine Karten mit Blumenbildern standen. "Was ist das?" fragte er schließlich und Mistress Adams lächelte ihn an.
"Das, Sir, sind Orchideen. Die Karten hat mir mein Mann mitgebracht. Sie haben auf ihrer letzten Fahrt welche mitgebracht und sie in die Gärtnerei in Stirling geschafft. Zum Kaufen waren sie zu teuer aber Sie wissen ja, mein Mann kann ganz gut malen."
"Das ist hochinteressant. Und diese Orchideen, sehen sie auch wirklich so aus?"
"Na ich denke schon, Sir." schmunzelte sie ihm zu und packte weiter den Tee zusammen. "Benötigen Sie sonst noch etwas?"
"Haben Sie Pfeifentabak da?"
"Nein leider nicht. Aber ich werde bestellen, dass ich beim nächsten Mal auf jeden Fall wieder welchen bekomme."
"Das ist gut. Ich muss ohnehin noch nach Stirling, dann werde ich es heute einfach dort probieren." Sein Blick wollte sich partout nicht von den Karten lösen und Mistress Adams schien dies auch nicht zu entgehen.
"Sie sind leider nicht für den Verkauf, Sir." entschuldigte sie sich und rechnete den Betrag aus.
"Das verstehe ich aber dürfte ich mir wohl eine der Karten borgen? Ich würde sie Ihnen noch heute wieder zurück bringen."
"Wollen Sie etwa diese Orchideen kaufen?" fragte sie ihn atemlos und vergaß darüber hinweg das Rechnen.
"Sie sind sehr hübsch. Mary würde sich sicher sehr darüber freuen."
"Diese Blumen sind wirklich sehr teuer Sir. Ich möchte Ihnen natürlich nicht zu nahe treten aber..."
"Darf ich mir eine Karte borgen?" fuhr er ihr über den Mund und griff nach der für ihn am schönsten wirkenden. "Nur bis heute Abend."
"Ich weiß nicht. Sie waren ein Geschenk. Mein Mann wird sicher ärgerlich."
"Ich zahle Ihnen auch etwas dafür. Bitte Mistress Adams, Sie bekommen sie doch wieder."
Schließlich verließ Mister Lansbury zufrieden den Laden und stieg in die Kutsche. Er musste unbedingt solch eine Blume bekommen. Koste es, was es wolle. Mary hatte bald Geburtstag, sie würde sich ganz bestimmt darüber freuen. Und da kümmerte es ihn auch nur wenig, dass er drei Pfund gezahlt hatte, um die Karte später wieder zurück zu geben. Wenn das Schicksal es so wollte, würde er heute diese exotische Pflanze kaufen und sie auch Mistress Adams zeigen, um sich nochmals bei ihr zu bedanken. Er hielt Karl an, sich zu sputen, da er sich nicht sicher war, wie lange die Gärtnerei in Stirling noch geöffnet hatte.
***
Madeleine quetschte sich mit aller Macht durch den schmalen Türspalt des Wintergartens. Ihr Tuch welches sie sich wie eine Schürze um die Taille gebunden hatte, sah wirklich unmöglich aus und so würde es ohnehin nichts mehr ausmachen, wenn sie dort auch die Beute einwickeln würde. Schließlich schlichen beide Mädchen auf leisen Sohlen durch das Haus.
"Wo sind die Pralinen denn?" flüsterte sie gepresst und schielte zu Meggan, die bereits an der nächsten Tür stand und in den dahinterliegenden Flur lugte.
"Psst." gab die nur zurück und bedeutete ihr mit der Hand, dass sie näher kommen sollte. "Dort durch den Flur," wisperte sie, "dann die Treppe hoch und dort links in das dritte Zimmer, verstanden?" Madeleine nickte, ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Leise schlichen sie durch den langen Flur und erklommen die dunkle Eichenholztreppe zum Obergeschoss, als sie plötzlich eine Tür ins Schloss fallen hörten. Panisch blickten sie sich an und Meggan nahm sie bei der Hand, um sie eilig in das besagte Zimmer oberhalb der Stufen zu zerren.
"Ob er das war?!" flüsterte Madeleine ängstlich und suchte bereits nach einem guten Versteck.
"Sei lieber leise und such. Die Pralinen müssen hier irgendwo sein."
"Und wenn er uns nun findet? Komm, lass uns gehen."
"Niemals. Nicht ohne die Schokolade. Such in den Schränken dort, ich durchsuche den da drüben."
Gänzlich ungeniert riss Meggan die Kommodentüren auf und stapelte deren Inhalt vor sich hin. Madeleine atmete tief ein und entließ die Luft nur ganz langsam. Sie hatte das Gefühl, dass man sie gleich erwischen würde und doch tat sie, was ihre Freundin ihr aufgetragen hatte und durchsuchte nun auch einen der Schränke. "Nichts." flüsterte Meggan nach einiger Zeit und stopfte die ganzen Zettel, Bücher und Hefte wieder in die Kommode. "Und bei dir?"
"Auch nichts."
"Mist. Dann hat er sie wohl woanders versteckt." mutmaßte sie und überlegte. Vielleicht unten. Da gibt es so eine Art Herrenzimmer."
"Bitte Meggan, lass uns gehen. Mir ist nicht wohl bei der Sache."
"Geh doch." zickte sie plötzlich und rümpfte die Nase. "Ich jedenfalls hole mir Schokolade. Er ist bestimmt noch nicht zurück oder hast du die Kutsche schon gehört?"
"Nein aber im Haus ist jemand."
"Und wenn schon, komm!" Madeleine folgte ihr aus dem Zimmer heraus, die Treppe wieder nach unten, über den langen Flur und dann in eines der Zimmer. Am Boden lag roter, weicher Teppich, die Vorhänge waren weit zugezogen und im Kamin knackte noch etwas verkohltes Holz. "Da hinten." flüsterte Meggan und beide knieten sich vor eine weitere Kommode. "Na also." strahlte sie plötzlich und holte einen Teller mit den Pralinen heraus. "Wusste ich es doch. Steck so viele ein, wie du kannst und dann verschwinden wir." Madeleine griff zu und wickelte alles in ihr Tuch, welches sie dann wie einen Beutel an ihre Taille hing. Bald hatten sie den gesamten Teller geleert und als Belohnung für ihren Mut steckten sie sich noch im Herrenzimmer die erste Schokolade in den Mund. Beide grinsten sich an und schlossen die Kommode wieder. Meggan schlich zur Tür und lugte in den Flur. "Komm, es ist niemand da." presste sie so leise wie möglich heraus und beide liefen eilig in Richtung Wintergarten, als
eine Frau mittleren Alters aus eben dieser Richtung auf sie zukam.
"Was zum ? , was wollt ihr hier?!" rief sie und machte ein paar Schritte auf die beiden zu.
"Lauf!" rief Meggan und beide Mädchen nahmen die Beine in die Hand, doch Madeleine wusste ja nicht wohin. Sie war hier noch nie gewesen und wo es einen zweiten Ausgang gab wusste sie natürlich auch nicht. Also stürmte sie die Treppe hinauf und hastete den langen Flur entlang. Meggan hingegen stürzte Richtung Küche, ließ diese schnell hinter sich, durchquerte eine Bibliothek, ein Musikzimmer, ein Wohnzimmer und, Himmel sei dank, endlich das Foyer an dessen Ende sich die große Eingangstüre befand, die zum Glück nicht abgeschlossen war. Ungeachtet dessen, ob Madeleine es auch nach draußen schaffte, rannte sie immer weiter und verließ kurze Zeit später das Grundstück des Anwesens.
Mary indes schloss geistesgegenwärtig die Tür des Wintergartens ab, bevor sie dem Mädchen nach oben folgte. Sie war vielleicht nicht mehr die schnellste aber sie war auch keinesfalls dumm. Und die Tatsache, dass ihr zweihundert Pfund geboten wurden, wenn sie auch nur ein Früchtchen beim Stehlen erwischte, verschaffte ihr ungeahnten Antrieb. Sie lief ruhig über den oberen Flur, sie kannte das Haus wie ihre Westentasche und dass das Mädchen nach oben gelaufen war konnte nur heißen, dass sie nicht wusste, wo sie hin sollte. Sie lauschte und schließlich vernahm sie aus dem Schlafzimmer des Hausherrn ein leises Weinen und hecheln. Mary grinste und nahm den Schlüsselring von ihrer Taille. Sie schloss ab und lehnte sich gegen die Tür.
"So junge Dame. Jetzt hast du wirklich ein Problem." rief sie und lauschte angestrengt. "Wenn der Hausherr wieder daheim ist, kannst du dich auf eine Tracht Prügel gefasst machen."
"Bitte nicht." wimmerte Madeleine hinter der Tür und sank auf ihre Knie. "Sicher wird er mich gleich erschießen."
"Was hast du hier überhaupt verloren?" fragte Mary ruhig, obwohl ihr die Antwort ohnehin schon klar war. "Wolltest du etwa auch Schokolade stehlen?"
"Es tut mir so Leid, bitte, ich will es bestimmt niemals wieder tun. Nie wieder will ich so etwas Törichtes tun aber bitte lassen Sie mich gehen. Ich habe Angst." Mary biss sich auf die Unterlippe. Sie war ja nun auch kein Unmensch und auch wenn sie immer eine erzieherische Rolle für ihren Hausherrn inne hatte, wusste sie doch all zu gut, was passieren würde, wenn er erfahren würde, wer da oben in seinem Schlafzimmer saß.
"Wie ist dein Name, Kind?" fragte sie und umfasste den Schlüssel der Schlafstubentür. Kurz überlegte Madeleine und lehnte ihren Kopf gegen die Wand.
"Emily, Emily Rutherford."
"Und kommst du aus dem Dorf, Emily?" fragte Mary ruhig und blickte auf die große Pendeluhr, die am Ende des Flures stand. Mister Lansbury würde jeden Moment wieder da sein. Wenn sie das Mädchen gehen lassen wollen würde, dann hatte sie nicht mehr viel Zeit. Und zweihundert Pfund waren ihr ein reines Gewissen nicht wert. Lieber verzichtete sie auf das Geld, als sich später Vorwürfe zu machen.
"Ja, da komme ich her." rief Madeleine und begann nun bitterlich zu weinen.
"Wenn ich dich herauslasse dann versprichst du mir aber, dass du dich bei Mister Lansbury ordentlich entschuldigst und vor allem, dass du es nicht wieder tust, ja?"
"Glauben Sie, dass er eine Entschuldigung akzeptieren wird?" fragte Madeleine und ihr Herz begann erneut zu rasen.
"Wir werden sehen." Mary steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn langsam, als Madeleine spürte, wie ihr das Adrenalin durch den Körper schoss. Im nächsten Moment schlug sie so heftig gegen die Tür, dass Mary nach hinten stürzte und ein paar Bilder sowie eine Zimmerpflanze von einer Anrichte riss, bevor sie mit dem Kopf gegen die Holzverkleidung der Wand stieß.
"Ich entschuldige mich niemals! Der Alte scheint ohnehin nicht bei Sinnen zu sein!" schrie sie noch und rannte wieder los. Sie stürzte die Treppen herunter, den Flur entlang und in den Wintergarten hinein, der, zu ihrem Entsetzen, abgeschlossen war. Suchend blickte sie sich um und warf schließlich einen schweren Blumentopf durch eine Glasscheibe. Mit einer kleinen Gartenschaufel entfernte sie die Glassplitter, die noch am Rahmen hingen und kletterte schnell hindurch. Mit letzter Kraft rettete sie sich von dem Anwesen, wohl wissend, was sie angerichtet hatte und natürlich mit dem erhebenden Gefühl nicht eine der Pralinen verloren zu haben.
***
"Sie ist wundervoll." Mistress Adams kam aus dem Staunen nicht mehr heraus und drehte die Orchidee immer wieder hin und her. "Sie ist schöner als ich es mir je erträumt hätte. Die gute Mary wird sich ganz bestimmt sehr darüber freuen." Mister Lansbury strahlte über das ganze Gesicht und so sehr die Leute auch über ihn getuschelt hatten, um einmal solch eine Pflanze zu sehen, hätten sie sich wahrscheinlich gegenseitig geschlagen und so drängten sich vor dem Laden die Menschen an den Fenstern.
"Ich werde jetzt aufbrechen. Vielen Dank nochmals für die Karte und bestellen Sie Ihrem Mann schöne Grüße von mir."
"Das mache ich." säuselte sie noch und musste schweren Herzens die Orchidee wieder an Mister Lansbury abtreten. Er setzte sich in seine Kutsche und Karl trieb die Pferde zu einem schnellen Galopp an. Die ganze Fahrt über versuchte er MaryŽs Gesicht zu erahnen, welches sie wohl machen würde, wenn sie ihr Geschenk erhielt. Die Sonne setzte sich langsam am Firmament und schließlich erreichten sie schon bald wieder das Anwesen, wo die Eingangstüre weit offen stand.
"Mein Herr, hier stimmt etwas nicht. Bleiben Sie bitte sitzen, ich sehe einmal nach." sagte Karl, nachdem die Kutsche zum Stehen gekommen war.
"Das kommt nicht in Frage Karl. Was ist denn los?" Mister Lansbury stieg aus und entdeckte nun ebenfalls die offen stehende Tür. "Einbrecher?" fragte er missmutig und umfasste seinen Gehstock etwas fester. Na die sollten sich ruhig blicken lassen. Denen würde er schon zeigen wo es lang ging.
"Sie sollten wirklich draußen warten, mein Herr."
"Ja oder du gehst in den Stall und bringst mir mein Gewehr."
Schlussendlich schlichen beide mit jeweils einem Gewehr bewaffnet ins Haus und blickten sich um. Mister Lansbury deutete auf den langen Flur und dann auf die ersten Zimmer, die sich daraus abzweigten. Leise teilten sie sich auf und durchsuchten alles.
"Mein Herr, ich glaube, wer auch immer hier war, ist durch den Wintergarten hereingekommen. Dort ist eine Scheibe zersprungen." flüsterte Karl gepresst, als sie plötzlich ein leises Wimmern von oben vernahmen. Mister Lansbury drückte den Finger gegen seine Lippen und bedeutete Karl, dass da oben noch etwas oder jemand war. Leise schlichen sie weiter und erklommen die Stufen der Eichenholztreppe. Das Schluchzen wurde immer lauter, als der Hausherr plötzlich das Gewehr fallen ließ und so schnell ihn seine Beine und der Gehstock tragen konnten nach oben lief.
"Mary!" rief er aus und kniete sich zu ihr. "Was um Himmels Willen ist passiert?" Doch Mary weinte nur und hielt sich den Kopf. "Karl, mach bitte Licht, ich sehe fast nichts." Er umfasste ihren Schädel, als er etwas Nasses spürte, dass sich nach dem Einschalten der Lichter als Blut identifizierte. "Was ist passiert Mary? Wer war das?!"
"Ach Sir." wimmerte sie "Es tut mir so Leid. Ich war so dumm."
***
"Und ihr wurdet nicht erwischt?" Emily staunte Bauklötze, als sie die vielen Pralinen sah, die Madeleine ihr, in ihr Tuch gewickelt, präsentierte.
"Natürlich nicht. Also nicht direkt." verbesserte sie sich und legte eine nachdenkliche Miene auf.
"Also wie jetzt?" hakte Emily nach und überblickte noch immer die süßen Köstlichkeiten.
"Nun, da war diese Frau im Haus. Aber schlussendlich konnte ich trotzdem entwischen."
"Donnerwetter." zollte Emily ihr Respekt und deckte den Tisch weiter für das Abendessen.
"Aber du wirst Vater nichts sagen! Versprich es! Sonst bekommst du nicht eine Praline ab!" rief Madeleine plötzlich aufgeregt. Emily hielt kurz inne und sortierte gedanklich, was sie gerade gehört hatte. Sie sollte etwas abbekommen?
"Ich will ja vielleicht gar nichts davon haben?" stocherte sie nun, um ihre Cousine etwas zu ärgern.
"Natürlich willst du. Du wolltest doch letztens schon wissen, wie Schokolade schmeckt." gab die zurück und verschränkte die Arme, nachdem sie die Pralinen unter ihrer Matratze versteckt hatte.
"Ich bin dir weit voraus, meine Liebe." gab Emily zu und hob ihre Nase etwas, da sie darauf ja doch etwas stolz war.
"Pah! Du lügst! Als ob du schon dort oben gewesen wärst."
"War ich nicht aber Peter hat seine Beute mit mir geteilt." Emily streckte ihrer Cousine die Zunge heraus, als ihr plötzlich einfiel, dass sie die letzte Praline in ihrer Schürze vollkommen vergessen hatte. Entsetzt griff sie in die Tasche und stellte fest, dass diese bereits geschmolzen, wieder fest geworden, geschmolzen und wieder fest geworden war; im Großen und Ganzen also wahrscheinlich überhaupt nicht mehr appetitlich aussah. Kurz schnaubte sie auf und zog ihre verschmierten Hände wieder aus der Tasche, die sie dann an ihrer Schürze abwischte.
"Guten Abend." tönte es plötzlich in die Wohnstube und die beiden Mädchen wechselten schnell das Thema.
"Guten Abend, Vater." flötete Madeleine und nahm am Tisch Platz.
"Guten Abend, Sir." Emily knickste kurz und beeilte sich mit dem Tisch decken. Sie wollte gerade das Essen servieren, als es so laut an der Tür klopfte, dass diese fast aus der Angel sprang.
"Ich gehe schon." flötete sie, als ihr Onkel die Hand hob.
"Tu das Essen auf, ich sehe nach, wer es sich jetzt noch erdreistet hier zu klopfen. Und vor allem so laut." Ihr Onkel erhob sich und schmiss die Wohnzimmertür entnervt zu.
"Wer das wohl ist?" Emily stellte die erste Schüssel auf den Tisch, als sie sah, wie Madeleine auf ihrem Stuhl immer kleiner wurde. "Ist dir nicht gut?"
"Nein gar nicht. Ich gehe ins Bett und möchte nicht mehr gestört werden." Madeleine verschwand in ihrem Zimmer und ließ Emily allein in der Wohnstube zurück. Zuerst wunderte sie sich, besann sich dann jedoch auf das Servieren. Sie hörte zwei Männer im Flur sprechen und als sie fertig gedeckt hatte, sprang plötzlich die Tür auf.
"Die da?" fragte ihr Onkel und Emily erschrak fürchterlich, als sie den Mann sah, der ihrem Onkel folgte.
"Die wird es wohl gewesen sein. Um die achtzehn Jahre alt, schlank, rosa Kleider und eine Schürze in weiß. Und ihr Name ist Emily Rutherford." Der Mann musterte sie ausgiebig. "Und frech scheint sie ja ohnehin schon immer gewesen zu sein, nicht wahr du kleiner Rotzlöffel?"
"Wie bitte? Ich verstehe nicht?" Emily wich ein paar Schritte zurück und blickte zu ihrem Onkel, der sie anstierte, als wolle er sie in der Luft zerreißen.
"Dann sprechen wir jetzt über die angerichteten Schäden. Dass Ihre Göre meine Hausdame beinahe umgebracht hat, brauche ich wohl nicht noch einmal zu erwähnen." Der Mann wurde immer lauter und Emily hätte schwören können, dass er am liebsten alle um sich herum mit seinem Stock verprügelt hätte. "Sie ist schwer verletzt, wer kommt mir für ihren Ausfall auf? Und die Glasscheibe? Was bilden Sie sich überhaupt ein, solch einen Rotzlöffel auf die Gesellschaft loszulassen?!"
"Emily, du elende Plage!" schrie sie ihr Onkel an. "Was hattest du heute am Anwesen von Mister Lansbury verloren?!"
"Was? Aber ich war nicht dort!" Emily glaubte sich in einem bösen Traum zu wissen und wich noch einen Schritt weiter zurück, doch der heiße Herd hinter ihr verwehrte eine weitere Flucht.
"Jetzt lügt sie auch noch!" schrie Mister Lansbury lauthals auf ihren Onkel ein und hob seinen Stock drohend an. "Es ist mir vollkommen gleich, was sie sagt! Meine Hausdame hat sie eindeutig erkannt und dumm genug, ihren Namen zu nennen, war sie auch. Sie werden für den mir entstandenen Schaden aufkommen und du dummes Ding, dich will ich nie wieder auch nur hundert Fuß in der Nähe meines Anwesens sehen! Ich hoffe du erstickst an den Pralinen!"
"Du wolltest Pralinen stehlen?!" schrie nun auch noch ihr Onkel auf sie ein. "Wo hast du sie?!"
Emily rollten die ersten Tränen über die Wange. Sie war nicht dort gewesen, doch ahnte sie, wer sie in diesen Schlamassel gebracht hatte. Es auf Madeleine zu schieben würde ihr nicht helfen und das war auch nicht ihre Art. Sie war keine Petze. Lieber würde sie einen Monat im Stall schlafen, um ihre Strafe damit abzugelten. Aber dass ihre Cousine jetzt im Nebenzimmer lag, alles mit anhörte und nicht die geringsten Anstalten machte, den Fall irgendwie aufzuklären, traf sie hart.
"Ich habe keine." wimmerte sie und zeigte ihre leeren Hände.
"Ach und die Schokoladenflecken an deiner Schürze? Wo hast du die her?! Leere deine Taschen!"
Emily brach der Schweiß aus. Nun war alles vorbei, die dumme eine Praline in ihrer Schürze würde das gesuchte Beweisstück darstellen und ihr wurde flau. Sie legte also das geschmolzene, braune Etwas auf den Tisch und wagte es nicht, auch nur den Blick zu heben. Als neben der Schokolade der Gehstock von Mister Lansbury einschlug wie ein Meteorit, zuckte sie zusammen.
"Da haben wir es doch. Und die anderen hat sie wahrscheinlich schon gegessen. Zusammen mit der anderen Göre." Der Mann tobte und doch wünschte sie sich, dass er die Strafe vollzog. Ihr Onkel wusste um Dinge, mit denen er sie quälen konnte, die schlimmer waren, als alles erdenklich schlechte auf der Welt. Wahrscheinlich wäre die Strafe des Mannes um einiges erträglicher. Und im Nachhinein war sie auch irgendwie schuldig, schließlich hatte sie von Peter die gestohlenen Pralinen angenommen und sich damit nicht besser gemacht, als die Jungs, die sie geklaut hatten.
"Sie werden für alles aufkommen, Mister Cavanaugh! Das schwöre ich Ihnen, so wahr ich hier stehe!"
"Selbstverständlich Mister Lansbury. Es tut mir furchtbar Leid, was passiert ist. Und ich verspreche, dass das nie wieder passieren wird."
"Allerdings! Das wird es nicht, sonst erschieße ich erst Ihre Göre und dann Sie!" Mister Lansbury fuchtelte wild mit dem Finger vor ihm herum und Emily erlebte es das erste Mal, dass ihr Onkel wirkliche Angst hatte. Nicht davor, erschossen zu werden, sondern vor der enormen Präsenz, die dieser Mann ausstrahlte. Man konnte meinen, dass alles schwieg, wenn er redete.
"Du gehst jetzt auf dein Zimmer." befahl ihr Onkel und das mit einer sehr ruhigen Stimme, die trotz alledem drohend genug wirkte, um sie ohne Widerworte gehorchen zu lassen. Sie stieg die kleinen Holzstufen zum Dachboden hinauf und kniete sich vor ihr Bett. Ängstlich faltete sie ihre Hände und lauschte angestrengt. Nebenher sendete sie Stoßgebete gen Himmel. Eine gute Stunde später begann EmilyŽs Herz wild zu schlagen, als sie die Geräusche von draußen vernahm. Sie riss ihre Tür auf und stürzte nach unten, raus aus dem Haus direkt auf die Straße, wo ihre Flocke gerade an die Kutsche von Mister Lansbury gebunden wurde.
"Nein, nicht Flocke! Bitte nicht!"
"Zurück ins Haus!" schrie ihr Onkel und einige Nachbarn standen schon an den Fenstern um zu sehen, woher der Tumult kam.
"Bitte Onkel, Sir, sie ist alles, was ich noch habe. Geben Sie sie ihm nicht mit! Ich flehe Sie an. Ich arbeite meine Schuld ab! Jedes einzelne Pfund, wenn es sein muss, bis an mein Lebensende aber bitte..."
"Du sollst ins Haus gehen. Er bekommt das Pferd und damit ist Schluss. Du solltest dich lieber bedanken, dass er sich damit zufrieden gibt."
"Nein, ich bitte Sie, bitte!" Mister Lansbury stieg in die Kutsche und hielt Karl zum losfahren an. Doch so schnell gab Emily nicht auf. Sie lief ihnen nach und weinte bittere Tränen.
"Ich bitte Sie, Sir!" rief sie ihm durch das Fenster der Kutsche zu und lief aufgeregt nebenher. "Bitte nicht mein Pferd. Bitte nicht Flocke. Haben Sie doch ein Herz!"
"Karl halt an!" rief er und öffnete die Tür, um Emily am Kragen zu sich herauf zu ziehen. "Pass auf du vorlaute Göre. Sollte ich dich noch einmal in der Nähe meines Anwesens erwischen, dann erschieße ich deine Schindmähre auf dem Marktplatz im Dorf und hänge ihren Kopf direkt über der Einfahrt meines Anwesens auf, damit du begreifst, was dir blüht, wenn ich dich noch einmal auf meinem Land erwische!"
"Bitte nicht, Sir." wimmerte sie und hatte Mühe überhaupt noch Luft zu bekommen. "Flocke ist alles was ich noch habe. Tun Sie ihr nichts, ich flehe Sie an, Sir."
"Hatte." korrigierte er sie überheblich und sein Griff an ihrem Kragen verfestigte sich noch etwas mehr. "Du scheinst noch nicht begriffen zu haben, dass der Gaul jetzt mir gehört, also verschwinde und komm mir nie wieder unter die Augen!" sprach er und stieß sie so fest von der Kutsche weg, dass sie ungebremst auf ihren Hintern fiel. Schließlich warf er die Tür zu und Emily musste ansehen, wie sie mit Flocke im Schlepptau hinter der ersten Anhöhe verschwanden.