Autor: Gajiru
veröffentlicht am: 10.07.2014
Kapitel 1. Clarice
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Ich fluchte leise vor mich hin, zumindest soweit das mit dem Haargummi in meinem Mund möglich war. Die braunen Haare, die ich versuchte, in einen Pferdeschwanz zu verpacken fielen mir immer wieder über die Schulter. Aber aufgeben wollte ich noch nicht, das wäre doch gelacht!
Nach einer gefühlten Ewigkeit dann hatte ich meine Frisur so, wie ich sie wollte. Mehr oder weniger zumindest. Jetzt fehlten nur noch meine Ohrringe und ein bisschen Make Up, dann war ich bereit, das Haus in Richtung Schule zu verlassen. Aber ich blieb an der Zimmertür Hannah’s stehen. Wir waren Schwestern, Zwillinge um genau zu sein. Äußerlich waren wir absolut gleich. Das einzige, was uns unterschied, war die Art, wie wir unsere Haare trugen. Ich hatte eine kürzere, stufig geschnittene Frisur, sie allerdings ließ ihr Haar einfach wachsen. Auch unser Kleiderstil unterschied sich. Sie war meist schlicht angezogen und hatte eine, in meinen Augen seltsame Vorliebe für Kleider. Ich mochte buntere, Farbenfrohe Kleidung, meist ging ich auch mit dem Trend.
Innerlich verband uns garnichts. Wir waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Auch unser Verhältnis war nicht besonders eng. Als Kinder standen wir uns sehr nah, aber mit der Zeit haben wir uns einfach… in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Dennoch klopfte ich an ihre Tür.
„Hannah? Bist du schon wach? Beeil dich, Dad fährt gleich los!“, versuchte ich sie daran zu erinnern, dass es ja immernoch so etwas wie Schule gab.
„Ich bin doch hier.“, Hannahs Stimme ertönte leise hinter mir und ich fuhr herum. Verdammt!
„Wieso in drei Gottes Namen erschreckst du mich so?“ Sie schob sich an mir vorbei und öffnete ihre Zimmertür. Drinnen war es dunkel, das änderte sich erst, als sie ihre schweren Vorhänge bei Seite zog und das Sonnenlicht herein fiel.
„Ich kann nichts dafür, wenn du in der Gegend rumträumst.“, antwortete sie. Ich zog eine leichte Schnute. Normalerweise war sie diejenige, die in der rumträumte. Wenn sie wiedermal eines ihrer dämlichen Bücher las, war sie kaum ansprechbar. Die ganze Schule redete schon über sie.
„Mädchen, seid ihr fertig?“, rief unser Vater von unten, und unterbrach damit weitere Wortgefechte.
„Wir kommen!“, antwortete ich einfach für uns beide, schnappte meine Schultasche, die im Flur herum stand und lief die Treppe runter.
Draußen regnete es dummerweise, obwohl es mitten Sommer war. Melodisch prasselte der Regen auf die Scheiben des Autos, während ich leicht mit dem Kopf im Takt der Musik wippte, die durch meine Kopfhörer an meine Ohren drang. Hannah saß auf der Rückbank und hatte die Augen geschlossen, anscheinend döste sie auf dem zugegeben wirklich ziemlich langen Schulweg noch ein wenig vor sich hin. Unser Vater warf einen Blick in den Rückspiegel nach hinten.
„Kommst du heute wieder später, Hannah?“, fragte er.
„Ja, ich hab die Mittagsschicht übernommen.“, antwortete sie, ohne die Augen zu öffnen. Ich schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie nutzte ihre Freizeit tatsächlich, um in einer Bücherei auszuhelfen. Und das, obwohl sie nichtmal viel Geld dafür bekam. Ich wollte nicht materiell wirken, aber wenn ich mich da schon abrackern würde, dann wenigstens für eine ordentliche Gegenleistung.
Endlich hielt das Auto auf dem Schulparkplatz, und ich zog meine Kapuze über meine Haare.
„Bis heute Mittag dann.“, verabschiedete ich mich und verließ das Auto, während meine Schwester in ihrer Tasche anscheinend noch nach ihrem Schirm kramte. Auf dem Parkplatz begrüßten mich schon Jesse und Sam , meine beiden besten Freundinnen. Wie betraten gemeinsam das Gebäude, und ich schüttelte meinen Pferdeschwanz aus, nachdem ich ihn aus der Kapuze befreit hatte. Der erste Weg führte wie jeden Morgen zu unseren Schließfächern. Doch bevor ich meines öffnete, fiel mein Blick aus dem Fenster direkt auf den Schulhof. Er war leer, wie zu erwarten bei diesem Sauwetter, aber eine Person hatte es trotzdem nach draußen verschlagen. Mein Herz schlug augenblicklich höher.
Dort stand er im Regen, regungslos und blickte in den Himmel. Sein Blick hatte fast etwas melancholisches, während die nassen Tropfen auf seiner Makellosen Haut landeten. Ich schluckte.
„Willst du es tun?“, holte mich Sams Stimme aus meinen Gedanken.
„Bitte…? Was will ich tun?“, fragte ich, im ersten Moment noch ziemlich perplex. Ein Grinsen schlich sich auf das Gesicht meiner blonden Gegenüber.
„Es ihm sagen.“ Jetzt wusste ich, worauf sie hinaus wollte. Seufzend schloss ich den Spint wieder. Bevor wir losgingen, warf ich noch einen Blick nach draußen, aber er war nicht mehr da.
„Ja und Nein.“, setzte ich zum sprechen an. „Ich glaube, jedes zweite Mädchen an dieser Schule hat ihm bereits ihre Liebe gestanden. Aber er hat bisher jede abgewiesen. Und mich kennt er nicht mal. Wir sind uns ein paar Mal über den Weg gelaufen, aber ich glaube nicht, dass er mich wirklich bemerkt hat.“
Ja, Nathaniel Davis war wahrscheinlich der beliebteste Junge der ganzen Schule. Diese Faszination, die er verbreitete, ließ sich leicht erklären. Erst Mal sah er unwahrscheinlich gut aus. Er hatte schwarze, lange Haare, war großgewachsen, hatte einen durchtrainierten Körper… und dann noch diese Augen. Eisblau. Ich persönlich hatte solche Augen noch nie bei einem anderen Menschen gesehen, wahrscheinlich waren sie auch nicht besonders häufig. Die zweite Sache, die ihn so unglaublich attraktiv erscheinen ließ war dann wohl die Tatsache, dass er so unnahbar wirkte. Fast schon mysteriös. Er sprach selten, und so wie gerade auf dem Schulhof konnte er manchmal stundenlang herumstehen und vor sich hinstarren. Dabei wirkte er so nachdenklich…
Kurz um, alle Mädchen, die ich kannte würden sich die rechte Hand abhacken, um einmal mit ihm auszugehen, und jedes andere wahrscheinlich auch. Aber Fakt war, dass niemand an ihn ranzukommen schien.
„Was kannst du denn schon verlieren? Wenn er dich abweist, dann weißt du wenigstens, woran du bist. Andere Mütter haben auch schöne Söhne, oder so. Aber vielleicht besteht ja die klitzekleine Chance, dass er dich auch mag.“, versuchte Sam schonwieder, mich zu überzeugen. Nun mischte sich auch Jesse von der anderen Seite ein.
„Vielleicht beobachtet er dich ja immer aus der Ferne, verzehrt sich nach deinem Körper und träumt nachts von dir. Wäre doch romantisch.“, die beiden begannen, leise zu lachen. Ich stieß Jesse mit dem Ellenbogen in die Seite, lächelte aber auch. Das wäre wirklich zu schön um wahr zu sein.
Aber ich wollte ihm trotzdem sagen, was ich fühlte. Das war das letzte Jahr an dieser Schule, danach würden wir getrennte Wege gehen. Ich wollte nicht, dass er abging, ohne dass er wusste, wer ich war.