Fürsten der Dämonen - Unsterblich

Autor: Noa
veröffentlicht am: 14.01.2014


Kapitel 1 - Hoffnung

»…den Mathekurs zu halten. Aber er wird sowieso versagen. Das habe ich schon gesagt, bevor er überhaupt daran gedacht hatte.« Miranda tippte sich mit ihrem Zeigefinger an die Stirn. »Wenn du meine Meinung hören willst, er ist eine Niete.«
Miranda Salt war seit der ersten Klasse meine beste Freundin. In manchen Dingen war sie sehr zynisch oder sogar zu direkt. Aber mir gefiel ihre Art, da sie sich nicht wie die kleinen Mädchen anstellte. Ich beneidete ihr Selbstbewusstsein.
Miranda kaute weiter auf ihrem Kaugummi, wickelte sich ihre pinke Strähne im schwarzen Haar um den Finger und versuchte sich auf die letzte Unterrichtsstunde zu konzentrieren. Dabei hatte ich alles andere als Lust Mr. Demon zuzuhören.
»…Breitengrad an Madrid vorbeiläuft. Wer kann ihn mir nennen?«, rief er. Sein Blick huschte durch die Klasse. Niemandem sah man seine Motivation für Erdkunde an. Hier hätte sogar Robins Kritzeleien interessanter sein können.
»Dilan? Eine Idee?« Der Bursche mit den Latzhosen. Ich wusste nicht, wieso er ständig nur diese Art von Kleidung trug, aber er behauptete es sei für ihn eine Ehre. Er durfte sich jedoch nicht wundern, wenn er dadurch zum Gespött der Schule wurde.
Seine Lider hoben sich träge. »Friedrich der Fünfte.«
Jeder begann zu lachen. Sogar ich konnte mich nicht zurückhalten. Anscheinend schwebte der Gute noch im Geschichtsunterricht.
Miranda nutzte den Lärm, um schnell in ihren Spiegel zu schauen. Sie richtete sich ihren Pony über der Stirn und strich über ihren Bobschnitt. Mr. Demon musste die Klasse erst wieder beruhigen.
Er massierte seine Stirn. »So, jetzt haben wir alle gelacht! Aber wir kommen-« Die Schulglocke unterbrach ihn. Ihr Ton war recht schrill, sodass ich immer zusammenzuckte, wenn ich vergaß, dass der Unterricht gleich beendet war.
Miranda hing ihre Tasche um die Schulter und lief zur Tür. An ihr zogen unsere Klassenkameraden vorbei und sie keifte Chris an, wie beinahe jedes Mal, wenn er an ihr vorbei ging.
»Ach Leanne, kommst du mal bitte?« Er sah zur Kaugummi kauenden Miranda und zog seine Augenbrauen nach oben. Dabei zischte sie nur, drückte sich vom Türrahmen ab und lief schon mal in den Flur. Ich stellte mich vor Mr. Demon.
»Du hast mir doch von deinem Ziel in diesem Schuljahr erzählt.« Ich nickte zustimmend. Er lächelte und zog ein Blatt hervor. »Klassenbeste in Erdkunde.« Er hielt mir meinen Test vor die Nase. Ich hatte die beste Note erreicht. Mein Ziel war nicht mehr weit.
Vor knapp einem Jahr hatte ich beschlossen Jahrgangsbeste zu werden, weil es für mich eine Ehre wäre für eine Woche nach West Berkshire zu fahren und das Windsor Schloss anzuschauen. Außerdem lernten wir die Schüler der anderen Schule in ganz Minnesota kennen. Es war eine einmalige Chance.
Mr. Demon beglückwünschte mich ein zweites Mal und ließ mich letztendlich gehen. Miranda hatte sich gegen ihren Spint gelehnt und tippte auf ihrem Smartphone. Als ich neben ihr stand, schaute sie mich erwartungsvoll an. Ich bemerkte es gar nicht. »Ja, und? Was hat er gesagt?«
Ich streckte meinen Daumen in die Höhe. »Bald bin ich Jahrgangsbeste.«
Miranda lächelte stolz. »Du musst mir dann unbedingt alles erzählen. Aber komm mir ja nicht mit Geschichte!«
Ich kicherte. »Würde ich niemals tun.«
Sie steckte ihr Handy weg und begleitete mich zum Bus. Wir fuhren schon seit wir uns kannten zusammen nach Hause. An meinem Haus stiegen wir meistens aus. Manchmal waren wir zu dritt oder sogar zu viert, aber das wechselte oft, da hier gern die Schule verlassen wurde. In vielen Fällen flogen die Schüler auch von der Schule, da sie gegen die Regeln verstießen. Aber auch manchmal gaben andere seltsame Geschichten Preis. Ich kannte sie nicht genau, aber viele erzählten von einer unerforschten Vergangenheit dieser Schule. Es klang so unglaubwürdig, das ich mir nicht einmal die Zeit nahm mir diese Geschichte anzuhören. Miranda teilte meine Meinung.
Auf dem Bürgersteig vor meinem Haus hielten wir schließlich an. Unsere Wohngegend war sehr angenehm und ruhig. Wir besaßen ein kleines Haus mit Garten. Miranda wohnte nicht viel weiter. Der Bus fuhr davon.
»Dann bis morgen in der Schule«, rief sie und folgte dem Bürgersteig weiter.
Ich betrat den kleinen Pflasterweg, schaute auf den kleinen Vorgarten meiner Mom mit Pfingstrosen, Tulpen und Lilien. Anschließend stieg ich die holzige Treppe hinauf. Sie knarrte kurz. Der Schaukelstuhl meines Großvaters wippte durch den Wind auf und ab. Ich blickte kurz durch das kleine Fenster mit dem Blumenkasten. In der Küche schien niemand zu sein. Mit einem erleichterten Seufzer entriegelte ich die Tür mit meinem Schlüssel.
»Hi, Mom! Hi, Grandpa!«, rief ich durch das Haus. Ich hörte ein Räuspern aus dem Wohnzimmer, das genau auf der anderen Seite des Flures lag. Ich stellte noch schnell meine Schulsachen an der Heizung ab.
»Leanne! Hier bin ich!«, rief mein Großvater und ich konnte mir denken, wo er gerade saß. Ich flitzte an der Treppe vorbei und stieß die Tür zum Wohnzimmer auf. Dabei stemmte ich einen Arm in meine Hüfte.
»Wo ist Mom?«
»Im Garten, Kleines«, räusperte mein Großvater William sich und schaute weiter auf den Fernseher. »Ich würde dir aber empfehlen sie nicht zu reizen.«
»Wieso?«, fragte ich verblüfft.
»Heute morgen bekam sie ein Telefonat mit dem sie nicht sonderlich zufrieden war.« Er drehte seinen Kopf zum Garten. »Annabelle!«
Ich zog die Augenbrauen zusammen. Wer könnte sie so sehr verärgert haben? Eigentlich war meine Mutter eine sehr geduldige Frau.
»Oh, hallo, Schatz!«, begrüßte sie mich, als sie mit Gummihandschuhen, Stiefeln und einer Schürze ins Wohnzimmer kam. Sie lächelte nicht einmal.
Auf dem Regal entnahm sie eine Postkarte und drückte mir diese in die Hand. »Dein Vater.«
Ich rollte die Augen und nahm die Karte an. Ja, mein Vater, den ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Angeblich würde er in Australien etwas Geschäftliches führen und hätte so keine Zeit nach Amerika zurückzukommen. Sogar nicht einmal am Wochenende für ein Telefonat. Stattdessen hatte er Zeit für Postkarten und Briefe. Ich war wütend auf ihn. Vor allen Dingen weil er in den siebzehn Jahren nicht ein einziges Mal Zeit für mich fand. Deshalb las ich sie mir nicht wirklich durch, sondern sie wanderten in einen Karton.
»Willst du sie nicht lesen?«, fragte meine Mutter verwundert. Ich schüttelte gekränkt den Kopf.
»Wieso sollte ich? Denkst du im Ernst, die Worte bedeuten mir etwas?«
Meine Mutter ließ ihre Schulter sinken. »Leanne, dein Vater-« Ich drehte mich mit einem erzürnten Blick zu ihr um. »Was?« Sie blies ihre gestaute Luft aus den Backen. »Er ist ein sehr beschäftigter Mann.«
Ich schmiss die Karte wieder auf die Theke. »Tja und ich ein vielbeschäftigtes Mädchen!« Sie schwieg und ich flüchtete mit meiner Schultasche nach oben in mein Zimmer. Dort ließ ich mich in mein Bett fallen, das in der rechten Ecke des Raumes stand. Direkt links davon war mein Fenster. Ich konnte leider nicht auf den Garten schauen, sondern spähte in das Zimmer meiner Nachbarin. Aber sie hatte sich angewöhnt die Rollläden unten zu lassen. Ich ließ mein Fenster auch nicht schutzlos offen, sondern hatte mir vor Jahren schwarze Stoffvorhänge besorgt, die ich meistens zuzog. So wie jetzt gerade.
Am Schreibtisch setzte ich mich auf meinen Bürostuhl und rollte gelangweilt auf und ab. Ich müsste eigentlich Hausaufgaben machen. Aber so kurz vor den Sommerferien hatte ich keine wirkliche Lust mich großartig anzustrengen. Die Noten standen bereits und so wie es aussah, wurde ich Jahrgangsbeste.
Im selben Moment vibrierte mein Handy. Ein Bild von Miranda belegte meinen Bildschirm. Ich hob ab.
»Hey, was gibt’s?«, fragte ich mit einem schweren Seufzer. Dad’s Postkarte hatte mir die Stimmung verdorben.
»Alles okay?«, fragte Miranda zuerst, bevor sie mit dem eigentlichen Thema beginnen wollte.
Ich machte eine schweifende Handbewegung, auch wenn sie sie nicht sehen konnte. »Ach nichts Wichtiges. Also, was wolltest du mir sagen?«
Miranda blieb kurz still, begann jedoch ihr Problem zu erläutern, als sie einen Seufzer von sich gab. »Es gibt da einen harten Konkurrenten.« Ich zog meine Augenbrauen zusammen. »Ich meine, was der Wettbewerb angeht. Jemand steht mit dir notengleich.«
Ich umfasste verkrampft das Handy. »Wie bitte? Wer?«
»Sein Name ist Jonathan Paine. Anscheinend hat er dieselben Stärken wie du. Du musst unbedingt nächste Woche im Test Klassenbeste werden, wenn du gewinnen willst.«
Ich sog scharf die Luft ein. »Wie? Ich meine, wieso taucht er jetzt so kurz vor Schluss auf?«
Ich konnte mir gut vorstellen, wie Miranda lässig ihre Schultern zuckte. »Keine Ahnung. Jedenfalls schien er mächtig aufgeholt zu haben. In den letzten Jahren…«
»Moment!«, stoppte ich sie. »Woher hast du denn diese Informationen eigentlich?« Hatte ich schon erwähnt, dass Miranda ein echtes Genie war, wenn es um Technik oder Internet ging?
Sie kicherte. »Wenn ich es dir sagen würde, würdest du es sowieso nicht verstehen.« Irgendwo hatte sie recht.
»Sag mir nur ob es illegal oder legal ist«, fragte ich und kaute dabei auf meinen Lippen. Mich würde es nicht wundern, wenn eines Tages der Schuldirektor der St. Johnson High School vor uns stehen würde. Sein Begleiter wäre die Polizei.
Sie lachte beschämt. »Ach, was soll’s! Hauptsache du weißt auf welchem Standpunkt du nun stehst!«
»Miranda!«, konterte ich giftig. »Ich habe dir schon einmal gesagt, das du dir damit nur selbst in den Finger schneidest.«
Sie kicherte noch immer. »Komm mal wieder runter! Mir passiert schon nichts.« Ich hörte das Hämmern der Tastatur. »Siehst du, bin gleich wieder ausgeloggt.« Ich wollte nicht wissen, welchen Admin sie wieder geknackt hatte.
Ich gab ein genervtes Stöhnen von mir. »Also gut, aber jetzt mach das nie wieder! Verstanden?«
»Alles klar, Chefchen.« Ich rollte die Augen. »Falls du mehr von Jonathan erfahren möchtest, kann ich dir sehr detaillierte Informationen besorgen. Total legal!«
»Miranda, detaillierte Informationen von Personen sind - egal wie du es drehst - strengstens untersagt!«
»Woher willst du das wissen?«, protestierte sie. Doch sie wusste ganz genau, dass sie keine Chance gegen meine Argumentation hatte. Deshalb gab sie gleich auf. »Wie gesagt, nur wenn du willst.«
Ich rümpfte die Nase. »Nein, danke. Ich werde nächste Woche Klassenbeste.«
»Dann lerne mal schön!«
»Werde ich«, lachte ich. »Bis morgen!«
Sie verabschiedete sich ebenfalls und tatsächlich wurde mein mulmiges Gefühl im Magen nicht besser. Zuerst die Postkarte meines imaginären Vaters – so nannte ich ihn bereits – und zum Schluss der Name meiner Konkurrenz. Es war ein einziges Kopf an Kopf rennen. Miranda sagte seine Noten stünden mit meinen gleich. Konnte es denn zwei Sieger geben? Wohl eher nicht. Das gab es noch nie in der Schulgeschichte der St. Johnson High School. Ich wäre bitter enttäuscht, wenn ich nicht nach West Berkshire gehen dürfte.
Selbst am Abend dachte ich nur an diesen Jonathan. Wenn er gewann… All meine Hoffnungen, Träume,… Er würde sie mit nur einem verdammten Notenunterschied zunichtemachen. Ich wäre so bitter enttäuscht von mir. Das ganze Jahr gelernt und am Ende saß man zu Hause mit einem Taschentuch in den Händen, um sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen.
Jemand klopfte an die Tür. Meine Mutter trat ein. Sie lehnte ihren Kopf an den Türrahmen und gab ein aufmunterndes Lächeln von sich. »Tut mir leid, dass ich dir heute Mittag gegenüber-«
»Schon okay, Mom«, sagte ich und sie war dennoch nicht zufrieden.
»Möchtest du mit mir über deinen Vater sprechen?« Wie kam sie denn jetzt auf diese Idee? All die Jahre wollte sie nie über ihn sprechen und ausgerechnet jetzt fiel ihr das erst ein? Aber hören wollte ich es trotzdem. Schließlich wusste ich so gut, wie nichts über ihn. Seit vier Jahren hatte ich aufgehört ihm eine Antwort zu schreiben.
Sie schloss die Zimmertür und setzte sich neben mich. »Dein Vater wollte eine Firma gründen. Doch in ganz Minnesota fand er keine geeignete Möglichkeit. Da dein Vater Familie in Australien hatte, beschloss er aus Amerika auszuwandern und dort ein neues Leben zu beginnen.«
Mir klappte der Mund auf. »Er hat dich sitzen gelassen?«
»Nicht direkt. Wir hatten uns darauf eher geeinigt. Schließlich ließ ich mich von ihm scheiden und blieb hier.«
Ich senkte meinen Kopf. »Wann war das?«
»Noch vor deiner Geburt.« Ich konnte ihr ansehen, dass sie sich damit in den Jahren abgefunden hatte. Schließlich hatte sie noch Grandpa William und mich. Sie brauchte vielleicht meinen Vater gar nicht. All die Jahre waren wir schließlich ohne ihn ausgekommen. Trotzdem fände ich es toll, wenn er wüsste, dass ich eine gute Schülerin war und nächstes Jahr meinen Abschluss machte.
Sie strich mir zärtlich über die Wange. »Du musst ihm ja nicht antworten, aber lies die Briefe wenigstens. In Ordnung?«
Ich senkte kurz meinen Kopf und nickte ihr anschließend lächelnd zu. »Trotzdem finde ich es nicht in Ordnung von ihm.«
Sie erhob sich vom Bett und warf einen kurzen Blick auf meinen Schreibtisch. »Ich auch nicht. Aber wir müssen seine Entscheidung auch akzeptieren. Bisher kamen wir damit doch gut klar.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Ich bin sehr stolz auf dich, mein Schatz.« Sie gab mir einen Kuss auf meine Stirn, den ich sofort wegwischte, weil ich mittlerweile zu alt dafür war und schaute ihr grimmig hinterher. Sie blickte über ihre Schulter und lachte. »Schlaf schön!«

Kapitel 2 - Jonathan

Nach einer Woche saß ich in der Schule. In meiner Hand befand sich der Kugelschreiber. Der Test war nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Ich wanderte mit meinen Augen kurz zum Lehrerpult. Mrs. Adam rückte ihre Brille auf der Nase zurecht, ihr Blick schweifte kurz durch die Klasse, anschließend widmete sie sich ihrem Schreiben wieder.
Miranda saß neben mir und warf mir hilfesuchende Blicke zu. Sie hatte nicht gelernt. Wieder einmal. Ich konnte ihr nicht helfen, da Mrs. Adam auf uns aufmerksam wurde. Sie drückte dieses Mal ihre Brille auf die Nasespitze und hob ihren Kopf.
»Kann ich Ihnen helfen Miss Salt?« Sie siezte Miranda immer. Den Grund hatte sie nie erwähnt. Etwa tat sie es, um Miranda zu ärgern oder weil sie sie respektierte.
»Nein, danke Mrs. Adam, ich komme super zurecht«, antwortete Miranda mit übertriebener Freundlichkeit.
Mrs. Adam rückte ein drittes Mal – innerhalb einer Minute – die Brille zurecht. Ihre Spangenfrisur und die tiefen Falten im Gesicht erinnerten mich an einen Raben. Sogar ihre buckelige Nase ähnelte dem Vogel.
Ich schrieb meinen Namen auf das Blatt und begann die richtigen Lösungen auf die feinen Linien zu schreiben. Der Test war viel zu einfach. Innerhalb von zehn Minuten war ich fertig. Unauffällig legte ich die Lösungen in die Mitte der Bank, sodass Miranda abschreiben konnte. Sie dockte ihre flache Hand an ihre Stirn, sodass Mrs. Adam nicht sah, wohin ihre Augen wanderten. Anschließend schrieb sie alles unauffällig ab.
Am Ende der Stunde legten wir den Test auf ihr Pult und Miranda nahm mich erdrückend in den Arm. »Danke! Ich wäre verloren ohne dich!«
»Ja, aber lern bitte das nächstes Mal. Du kannst dich doch nicht durch den Lernstoff schmuggeln.«
Sie lachte. »Natürlich! Es war auch nur eine Ausnahme.« Ja, beinahe die Fünfundzwanzigste dieses Jahr!
Als ich gerade dabei war meine Sachen in den Spint zu legen, tippte Miranda auf meine Schulter. Ich drehte mich um und blickte in die Menschenmenge. Erst als ich Mirandas Blick verfolgte, blieb ich an drei Jungs hängen.
»Der in der Mitte!«, flüsterte sie.
Schlank, groß, muskulös, wirkte charmant. Ich zuckte die Achseln. »Und?«
Ihr Mund öffnete sich. »Ich hätte niemals gedacht, das Jonathan so gut aussehen würde.« Zuerst war ich überrascht. Woher wollte Miranda wissen, dass dies Jonathan war? Eigentlich sollte es mich auch nicht interessieren. Ich rollte die Augen und schlug meinen Spint zu, als Miranda meinen Kopf mit ihren Händen zwangsweise in seine Richtung drehte.
»Schau doch mal genau hin!« Ich machte ein gequältes Gesicht und schaute erneut zu ihm. Dieses Mal konnte ich auf seinen vorderen Teil blicken, da er mit den anderen zwei Jungs stehen blieb. Sie sprachen miteinander. Es mag sein, dass Miranda Recht hat, aber dass mir deswegen gleich der Mund aufklappen würde, dafür braucht es eine intensivere Betrachtung seines Charakters. Jungs nur nach ihrem Aussehen zu beurteilen war ein fataler Fehler. Ich sprach aus eigener, schmerzhafter Erfahrung.
Ich tat einfach Miranda den Gefallen und schaute mir Jonathan, meinen Konkurrenten, intensiver an. Er hatte dunkles, pechschwarzes Haar, beinahe schillernde, dunkelbraune Augen. Mich überkam eine Gänsehaut, wenn ich zu ihm schaute. Irgendetwas wirkte düster oder geheimnisvoll an ihm.
»Ich steh auf Typen mit dunklem Haar.« Miranda, schon aufgefallen, dass du dir nicht gerade den geläufigsten Style ausgesucht hast? Durch die dunkle Schminke, den karierten, blauen Rock und die Netzstrumpfhose wirkte sie eher wie ein Rockergirl. Aber es stand ihr sehr gut. Ihre großen dunkelblauen Augen passten dazu. Sie wirkte manchmal sogar sehr putzig.
Ich hingegen war einfach nur so normal, wie man nur sein konnte. Ich wünschte an mir gäbe es auch etwas Besonderes. »Schade, dass er dein Konkurrent ist.«
»Ja, aber doch nur bis nach der Wahl. Dann sind wir wieder normale Schüler der St. Johnson High School.«
»Heißt das ich darf mit ihm sprechen?« Lieber nicht, Miranda. Auf mich macht er keinen guten Eindruck. Ich habe das Gefühl bei ihm mit dem Feuer zu spielen.
»Gefällt er dir etwa?«
»Das Aussehen stimmt schon mal.«
Ich seufzte. »Lass uns zum Unterricht gehen.« Sie nickte und folgte mir. Aber ihre Augen konnte sie nicht von Jonathan lassen.
Nach der Schule liefen wir gemeinsam zum Bus, um nach Hause zu fahren. Dabei sprach Miranda ununterbrochen von Jonathan. Ich glaubte, sie hatte sich bei ihm verguckt. Warum ausgerechnet mein Konkurrent? Nur wegen seiner geheimnisvollen Erscheinung?
Als wir vor meinem Haus standen, drehte sie sich auf ihren Absätzen zu mir. »Okay! Ich will mehr über ihn erfahren. Ich check gleich mal das Internet und dann gebe ich dir Bescheid. Alles klar?«
»Miranda, wir haben über illegale Eingriffe gesprochen!« Ich seufzte. »Sogar noch vor einer Woche.«
»Nur noch ein Mal!« Sie setzte ihren Hundeblick auf, der jedes Mal perfekt saß.
»Tue was du nicht lassen kannst.« Sie lächelte glücklich.
»Alles klar! Bis dann!« Wir hatten Freitag. Wochenende.
Ich schaute ihr noch kurz nach. Ihre Schritte waren schneller als sonst. Sie schien tatsächlich nach Jonathan nachforschen zu wollen. Hoffentlich stieß sie auf etwas, das ihre Meinung zu ihm änderte.
Zuhause legte ich meine Tasche, wie jeden Tag, an die Heizung. Meine Mutter war arbeiten. Ich begegnete Grandpa, der gerade einen Brief in der Hand hielt und sich an den Küchentisch gesetzt hatte. Er sah schockiert aus.
»Was ist los?«, fragte ich interessiert und stellte mich hinter ihn. Ich schaute mir ebenfalls den handgeschriebenen Brief an. Es war eine Einladung von Miss Joycette. Sie war – so viel ich wusste, da es eine lange Familiengeschichte war – eine weitentfernte Verwandte meines Vaters. Außerdem schien die Schwester meiner Mutter, Ruby, mit dieser Familie zu tun zu haben. Jedenfalls erhielten wir fast jedes Jahr den Brief zum Sommerball. Er fand auf ihrem Anwesen in New York statt. Die Gegend war wunderschön, doch mit den Jahren lehnte mein Mutter ihre Einladungen ab. Ich war bereits einmal dort. Es war wunderschön gewesen. Die Gärten waren wie aus einem Märchen. Um das Anwesen waren verschiedene Baumgruppe und Tannenarten. Ein langer Kieselweg führte zur riesigen Luxusvilla. Das Haus war vollkommen weiß. Jedenfalls von außen. In einem großen Saal standen viele Leute in wunderschönen Anzügen und Cocktailkleidern. Die meisten waren hohe Persönlichkeiten. Der Herr des Hauses war Richard Nemours. Er war ein alter Mann, der mit seiner mindestens zwanzig jüngeren Frau Joycette die Villa bewohnte. Ihre Kinder waren bereits ausgezogen, besuchten ihre Familie jedoch so oft es ging.
»…hingehen sollten. Ich verstehe sie nicht«, murmelte Großvater, aber ich hatte ihm durch meine Versunkenheit kaum zugehört. Doch ich konnte mir denken, über wen er wieder meckerte.
»Mom hatte bestimmt einen triftigen Grund.«
»Ja«, setzte er an und fuhr sich mit seinem Zeigefinger über den grauen Schnauzer. »Aber Richard Nemours liegt im Sterben. Hier steht, das es ihm eine Ehre wäre, wenn alle kommen könnten. Sein letzter Wille sozusagen.« Er hustete in seine geballte Faust. »Ich kannte ihn gut. Er war ein guter Freund gewesen. Ich möchte ihn noch einmal sehen, bevor er…« Ich hatte bemerkt, dass ihm bereits die Tränen in die Augen stiegen und legte meine Hand auf seine Schulter. Er nahm sie und strich mit dem Daumen über meinen Handrücken. »Aber Ann hatte bereits abgelehnt.«
Ich stampfte wütend auf den Boden. »Obwohl jemand aus ihrer Verwandtschaft im Sterben liegt? Wie kann sie nur!«
»Sie möchte es einfach nicht.«
Ich beugte mich zu ihm herüber, um ihm ins Gesicht schauen zu können. »Ich werde mit ihr reden.«
Er lächelte knapp. »Ein Versuch ist es wert. Ich würde sehr gerne Richard wieder sehen. Es sind so viele Jahre vergangen.«
»Mach dir keine Sorgen, Grandpa. Manchmal braucht es nur die richtigen Worte, damit sie ihre Meinung ändert.«
Er tätschelte meinen Arm, so als ob er mich loben wollte und nahm die Einladung wieder in zwei Hände. Das Papier war sehr edel, fest und hatte sogar Ornamente eingraviert. Unten war ein Siegelzeichen auf einem Wachsfleck eingedrückt worden. Auch wenn solche Briefe ausgestorben waren, fand ich den Stil sehr faszinierend. Die Einladung wurde mit schwarzer Tinte geschrieben. Ich nahm den Brief in meine Hände.
Als ich den Text las, hätte ich beinahe Joycettes Gefühle gespürt, so als ob sie neben mir stehen würde und mir die Worte auf dem Brief ins Gesicht sagte. Jetzt konnte ich auch meinen Großvater verstehen. Ich kannte Richard kaum, aber für William war er wie ein Bruder gewesen. Ich war wütend darauf, dass meine Mutter dennoch absagte. Fürchtete sie sich vor der Feier? Mochte sie bestimmte Personen dort nicht? Oder hatte sie vielleicht sogar Angst, dass mein Vater dort aufkreuzen könnte? Ich hielt diese Vorstellung für vollkommen irrelevant. Wenn er nicht einmal Zeit hatte mit mir zu telefonieren, dann würde er erst recht nicht nach New York fliegen.
»Ich werde ein bisschen spazieren gehen, Kleines«, sagte mein Großvater mit trauriger Stimme.
»Soll ich dich begleiten?«
Er schüttelte den Kopf. »Warte auf deine Mutter. Wir versuchen es noch einmal sie davon zu überzeugen. In Ordnung?« Ich nickte.
Anschließend schnappte er sich seinen schwarzen Hut, den er noch aus den Siebzigern behalten hatte und setzte ihn sich auf den Kopf. Er zog sich ein Jackett über und lief in langsamen Schritten zur Tür hinaus. Er tat mir so leid. Mein Großvater hatte wegen meiner Mutter all seine Freunde in den letzten Jahren vernachlässigt. Wie konnte sie nur so kalt sein? Ich durfte ihr das nicht durchgehen lassen. Selbst wenn nur ich und Grandpa hingehen würden. Wir nahmen die Einladung an!
Im selben Moment vibrierte mein Handy und ich erhielt erneut einen Anruf von Miranda. Mit einem Seufzer hob ich ab. »Hey, du Verliebte!« Am Telefon herrschte Stille. »Miranda?«
Ein kurzes Rauschen. »Leanne, kannst du bitte zu mir herüber kommen?« Sie klang alles andere als beruhigt.
»Was ist passiert?«
»Bitte!«
»Ok, bis gleich!« Ich legte schnell auf und lief mit einem Schlüssel aus der Haustür. Ob Grandpa seinen mitgenommen hatte? Ich würde rechtzeitig zu Hause sein, bevor er von seinem Spaziergang heimkehrte.
Miranda wohnte nur ein paar Häuser weiter. Sechs um es genau zu sagen. Außerdem befand sich ihr Haus auf der anderen Straßenseite. Ich liebte diese Ruhe hier. Kein rasender Verkehr, friedliche Wohngegend und nette Nachbarn.
Ich folgte den Steinfliesen bis zur Türschwelle. Neben mir waren die Erde und der Rasen nass. Anscheinend hatte Mrs. Salt die Blumen frisch gegossen.
Jemand öffnete die Tür. Miranda hatte auf meine Ankunft bereits gewartet und winkte mich herein. Sie schaute verunsichert und nervös aus. Schließlich sagten wir kein Wort, bis wir oben in ihrem Zimmer am Schreibtisch saßen.
Miranda öffnete einige Fenster am Bildschirm. »Nur zum Vergleich. Das ist Chris Martin.« Wieso ausgerechnet denjenigen, den sie am wenigstens leiden konnte? Sie nannte ihn immer Playboy, da er sich meistens auch so benahm. Jedenfalls gegenüber der Mädchen. »Schau dir sein Profil genau an.« Miranda scrollte seine Schulbesuche hinunter. »In Nebraska ging er zur Pre-School, anschließend zogen sie wieder nach Kansas, wo Chris geboren ist. Dort besuchte er auch die Junior High School und nun hier in St Paul die High School.«
Ich schüttelte missverstanden den Kopf. »Miranda, was willst du mir jetzt damit sagen?«
Sie seufzte. »Ich bin doch noch gar nicht fertig.« Sie klickte auf einige Buttons. »Schau, hier ist auch ein Profil vervollständigt. Blondes Haar, sogar ein Foto, besondere Merkmale, Schulleistungen…« Sie verließ Chris Profil und klickte Jonathan Paine an.
Ich runzelte die Stirn. »War ja klar!«
Sie zischte. »Bevor du meckerst, schau lieber genau hin.« Ich stützte meinen Kopf, indem ich meine Hand unter das Kinn legte und den Ellenbogen auf den Schreibtisch aufstellte. Dabei kaute ich nervös an meinen Fingernägeln. »Hier leer… leer… leer… und dann ... St. Johnson High School. Er ist erst seit zwei Jahren auf dieser Schule.« Sie klickte auf eine andere Seite. »Jetzt schau dir sein Profil an. Keine Details, nur Name, Geburtstort und Name der Mutter.« Ich schaute genauer hin. Alison Paine. »Es steht sogar nicht einmal darin, wo sie wohnen. Wer hat denn dieses Profil ausgefüllt?«
»Vielleicht kamen sie noch gar nicht dazu.«
Miranda warf mir einen das-ist-jetzt-nicht-dein-Ernst-Blick zu. »Leanne, er ist schon seit zwei Jahren auf dieser Schule. Mein Profil war nach einer Woche komplett ausgefüllt.« Sie schaute den Bildschirm misstrauisch an. »Ich sage dir, da stimmt etwas nicht.« Sie rümpfte ihre Nase. »Ich habe so etwas einmal im Fernsehen gesehen. Das kommt bei Kriminellen vor.«
Ich verdrehte die Augen. »Oh ja, Jonathan sieht auch total kriminell aus«, sagte ich sarkastisch.
Miranda blickte mich mit vollem Ernst an. »Glaub mir, Leanne, normal ist das hier nicht.«
Ich erhob mich vom Stuhl und zeigte auf den Bildschirm. »Legal ist diese Nummer auch nicht!« Miranda seufzte. Ich massierte meine Stirn. »Dafür gibt es bestimmt eine simple Erklärung. Vielleicht war irgendetwas defekt.«
Miranda starrte mich fassungslos an. »Das kann nicht dein Ernst sein! Du hast ja echt keine Ahnung vom Computer. Wenn Datenbanken defekt sind, gibt es immer eine Art Sicherung, womit man die verschwundenen Daten wieder abrufen kann. Verstehst du?« Ich blieb bei meiner Meinung. »Außerdem sind alle Profile ausgefüllt. Wirklich alle! Bis auf seines!«
Ich zuckte mit Achseln. »Klar ist es merkwürdig, aber warum sollte das unser Problem sein? Wir kennen den Typen nicht einmal und ganz ehrlich…« Ich seufzte. »…ich will auch gar nichts mit ihm zu tun haben. Irgendwie gruselt er mich an.«
Miranda begann träumerisch zu wirken. »Also ich finde er sieht beinahe perfekt aus.« Ja, aber nur weil er deinem Typ entspricht, Miranda! »Aber vielleicht hast du recht.« Sie schloss das Fenster. Ihr Desktophintergrundbild kam zum Vorschein. Es war ein Bild von ihr und mir. »Vielleicht sollte ich mich tatsächlich dort nicht hineinsteigern.«
Ich nickte zustimmend. »Siehst du. Lass den Kerl seine Sache machen und wir machen unsere. Ich habe besseres zu tun, als ihm nachzuspionieren.«
Miranda schaute plötzlich interessiert auf. Anscheinend hatte ich etwas erwähnt, das ihr eine Idee erbrachte. »Nur heute Abend. Ich habe vorhin gelesen, dass er sich mit ein paar Jungs und Mädels im Switcher trifft.« Es war eines der angesagten Clubs in St Paul. Viele Teenies tobten sich – wenn auch heimlich – dort gerne an einem Freitagabend aus. Ich war auch schon einige Male mit Miranda dort gewesen.
»Was willst du denn jetzt machen?«, fragte ich verwirrt, da ich noch immer nicht ganz verstand, was sie mir eigentlich damit sagen wollte.
»Ich will Jonathan ausspionieren.«
Ich verdrehte erneut die Augen. »Nein! Ohne mich! Du spinnst doch, Miranda! Seit du den Typ gesehen hast, bist du ja wie besessen von ihm.«
Sie knurrte. »Stimmt doch gar nicht.«
»Außerdem sind wir noch minderjährig! Und wir haben keine geeignete Begleitung.«
»Doch, Steven würde bestimmt mitwollen.«
»Claires älterer Bruder? Ich weiß nicht…«
Miranda setzte ihren Hundeblick auf. Nicht schon wieder! Wegen ihr bekomme ich nur Ärger! »Wir machen es wie die anderen Male. Wir schmuggeln uns hinein und heraus.«
»Ach? Mit Steven an der Backe? Letztens ist er so betrunken gewesen, das ein Schleichen unmöglich wurde.«
Miranda erhob sich vom Stuhl und lief zu ihrem schwarz-pinken Bett. Ihr ganzes Zimmer wirkte beinahe so. Ein Regal mit Nirvana, Oasis, Linkin Park und Billy Talent CD’s. Direkt daneben ein Bass. Ein großes Poster mit einem Gitarre spielenden Skelett und der Aufschrift Heavy Metal belegte beinahe eine komplette halbe Wandseite.
Währenddessen ich mich in ihrem Zimmer umgeschaut hatte, ob es etwas Neues geben könnte, hatte sie schon längst Claires Nummer gewählt. »Hey! Wie geht’s dir? Heute Abend, du, ich, Leanne und Steven Party? Ja? Frag ihn mal.« Miranda wippte mit ihrem linken Bein, das sie um ihr anderes geschlagen hatte. Dabei knabberte sie an ihren schwarzen Fingernägeln. »Oh, wirklich? Das ist super!« Miranda grinste breit. »Dann bis heute Abend! Um 8? Gut, bis dann!«
Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust und schaute sie erwartungsvoll an. »Also, wenn ich das jetzt richtig verstanden habe: Du, ich, Claire und ihr Bruder fahren zu Switchers, schmuggeln uns hinein und beobachten den gefährlichen Jonathan.«
Sie warf mir einen kalten Blick zu. »Ich hasse deinen Sarkasmus.«
Ich lachte innerlich. »Vielleicht hilft es mir ja dich umzustimmen.« Aber Mirandas Ausdruck verriet alles. Sie war einfach zu entschlossen. Eigentlich spionierte ich keine Leute aus. Besonders niemand, der dieselbe Klassenstufe, wie ich, besuchte.
»Aber du bist dabei, oder? Du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen, Fog!«
Ich seufzte. »Ja, in Ordnung! Aber versprich mir das wir nicht lange bleiben.«
Sie grinste breit. Gerade wollte sie mich zur Haustür begleiten, da ich ihr vorhin sagte, dass mein Großvater vermutlich keinen Schlüssel für das Haus mitgenommen hatte. Da fiel ihr noch etwas Wichtiges ein, als ich gerade aus der Tür heraus wollte. »Wie machen wir das mit deiner Mom? Sie lässt dich abends nicht gerne weggehen.«
Ich überlegte nicht lange. »Ich sage einfach, das ich heute Nacht bei dir schlafe.« Miranda wollte etwas einwerfen, als ich schon bereits eine Lösung darauf fand. »Ich werde es so einfädeln, dass deine Mom nichts von mir weiß. Dann kann sie auch keinen Ärger bekommen.«
»Also gut. Denn deine Mom versteht sich mit meiner ziemlich gut. Vergiss das nicht!« Ich nickte und blickte kurz zu unserem Haus hinüber.
»Dann bin ich genau um 8 Uhr hier.« Sie nickte und schloss hinter sich die Tür. Durch das Ornamentglas konnte ich sehen, das Miranda mit schnellen Schritten die Treppe hinauf flitzte. Vermutlich saß sie noch weitere Stunden am Computer.
Ich stopfte meine Hände in die Hosentasche und spazierte gemütlich auf mein Haus zu. Klar, war es mir nicht absolut egal, dass nichts über Jonathan Paine im Internet stand. Teilweise machte es mich auch stutzig. Außerdem sind alle Profile ausgefüllt. Wirklich alle! Bis auf seines! Mirandas Worte fegten durch meinen Kopf. Ich habe so etwas einmal im Fernsehen gesehen. Das kommt bei Kriminellen vor. Jonathan? Kriminell? Wenn nichts über seinen Wohnort in den Daten angeben war, könnte das sogar Sinn machen. Ich schüttelte heftig den Kopf. In unserer Schule gab es Unruhestifter, Kiffer, Drogendealer, aber keine Kriminellen. Damit meinte ich, Diebe oder sogar Mörder. Vielleicht wuchs er auch in einer Familie auf, die schon vor seiner Geburt als Verbrecher gesucht wurden. Er wäre praktisch schon als Krimineller aufgewachsen. Das würde jedenfalls Einiges erklären.
Was redete ich denn da? Ich stempelte jemanden als Verbrecher ab, nur weil er kein ausgefülltes Profil hatte? Jonathan verhielt sich in der Schule vollkommen normal. Er hatte mit seinen Freunden gelacht und keine merkwürdigen Verhaltensweisen aufgezeigt. Vermutlich setzte ich mir nur durch Mirandas Misstrauen solche Flusen in den Kopf.
Zu Hause öffnete ich die Tür und lief hinauf in mein Zimmer. Ich schloss die Vorhänge und blickte auf die Uhr. Ich hatte noch etwas Zeit, bevor wir zum Switchers fuhren. Deshalb legte ich mich unter die Decke und bettete meinen Kopf ins Kissen. Schlaf täte mir ganz gut.
Zuerst ertönte eine wundervolle Melodie. Es war ein Klavier. Manchmal war der Klang dunkel und wollte etwas Unheimliches entfalten. Aber als eine lange Pause einkehrte, klang die Melodie sehr traurig. Helle Töne und ein schneller Rhythmus sorgten für Drama und Sehnsucht. Ich glaubte vor mir nichts zu sehen, doch dabei war es nur eine dunkle, alte Holztür. Ich hatte sie nicht sofort erkannt, da nur eine einzelne Kerze hinter mir brannte. Offensichtlich befand ich mich auf einem Korridor. Aber die Melodie kam ganz deutlich aus diesem Raum vor mir. Sollte ich hineingehen?
Die Melodie wurde von traurig zu aufregend. Beinahe so, als ob sie versuchen würde meine momentanen Gefühle nachzuahmen. Schließlich legte ich meine Finger an den vergoldeten Griff und drückte ihn herunter. Er stockte. Ich versuchte es ein zweites Mal mit mehr Druck. Die Tür sprang auf. Mit leisen Schritten betrat ich den Raum. Als Erstes fielen mir hohe Bücherregale auf. Man konnte sie sogar durch eine kleine Holzleiter erreichen, die auf einer weiteren Ebene befestigt wurde. Durch ein Geländer wurde oben das Umhergehen gesichert. Der Holzboden wurde an den Wänden befestigt. Es gab keine Stützen, die die Ebene gehalten hätte. Die Decke war gewölbt und erinnerte mich an eine damalige Besichtigung in einem Dom. Dort waren Muster eingraviert, Bilder von Engeln und christlichen Persönlichkeiten, wie Jesus. Ich erkannte einen weißen Flügel, der an einem Rücken eines Mannes haftete. Er war riesig, beinahe doppelt so groß, wie der Träger. Der Mann hielt einen Speer in seiner Hand und schlug auf einen anderen ein. Dieser besaß dunkles Haar, dunkle Augen und trug eine glänzend silberne Rüstung. Er war unterhalb des geflügelten Mannes. Vermutlich stellte er einen Erzengel dar. Ob der andere dann ein Dämon war? Ich wusste nicht, wie mir diese Vermutung plötzlich in den Sinn kam.
»Gut geschlafen?«, ertönte es schallend. Zusammen mit der männlichen Stimme hörte auch das Klavierspiel auf. Wer sprach da? Ich schaute mich im Zimmer um. Ob die Stimme aus dem Nebenzimmer kam? Jedenfalls führte eine Lücke zwischen den Bücherregalen zu einem weiteren Raum. Vielleicht befand sich dort der Unbekannte. Ich trat letztendlich ganz in den Raum und schloss hinter mir die Tür.
Ich blickte zum Schaukelstuhl. Darauf musste gerade jemand gesessen haben, da er noch hin und her wippte. Wenn er mit seinen Vorderachsen den Boden berührte, knarrte es kurz. Auf dem kleinen Tisch daneben, stand eine Weinflasche. Ich lief zu ihr und schaute sie mir genauer an. Seit wann interessierte mich Wein?
Auf dem Etikett war der Jahrgang geschrieben worden. 1892. So alt? Konnte man den überhaupt noch trinken? Ich roch an der Öffnung. Der Traubenduft zusammen mit dem Alkohol stieg mir in die Nase. Schnell stellte ich ihn wieder auf dem Tisch ab und drückte mir meine Hand an die Nasenlöcher. Er schien zwar normal zu riechen, aber aus einem mir unerklärlichen Grund traute ich dieser Mixtur nicht. Außerdem mochte ich keinen Wein. Selbst, wenn ich eines Tages in den Genuss von Alkohol käme.
»Leanne?«, ertönte es erneut. Doch dieses Mal war die Stimme nah und ich war mir sicher, dass sie aus dem Nebenraum kam. Langsam schritt ich zu den Bücherregalen und fuhr mit meinen Fingern über das glänzend dunkle Holz. Die Oberfläche war sehr glatt. Es erweckte den Eindruck, als wäre es erst vor kurzem neu gekauft worden. Aber wo fand man noch solch ein altes Regal? Kurz wanderten meine Augen über die Einbände der verschiedenfarbigen Bücher. Manche waren sehr dicke, andere beinahe so dünn, wie ein einfaches Comicheft. In meinen Fingern zuckte es. Nur aus Neugierde hätte ich gerne gewusst, was in ihnen drin stand. Geschichten? Einfache Lexika? Eines davon erinnerte mich an die Bibel. Ich wollte gerade nach einem von ihnen greifen, als erneut die Stimme ertönte.
»Du kannst später lesen. Aber bitte komm doch erst einmal hierher. Ich will dir etwas zeigen.«
Gespannt was auf mich warten könnte, ließ ich die Finger von dem Buch ab und drehte mich erneut zu der circa ein Meter breiten Lücke zwischen den Regalen. Als ich hindurchglitt, erwarteten mich erneut viele Bücher. Das hier schien eine Art Bibliothek zu sein. Auch hier gab es eine unfassbar hohe Decke mit einer Ebene, die man durch eine weitere Holzleiter erreichen konnte. Allerdings war das Geländer abgewetzt, als ob jemand daran gekratzt hätte. Einige Splitter hingen an den beinahe durchtrennten Stäben. Ich konnte gar nicht aufhören meinen Blick davon abzuwenden.
Als hätte es die unbekannte Stimme bereits geahnt. »Das war gestern gewesen. Wir haben den Falken nur sehr schwer wieder aus der Bibliothek bekommen. Er hatte sich geweigert, aber Nathanael hatte ihn einfangen können, nachdem er ihn mit einem Feuerpfeil verletzt hatte.« Ich hörte Schritte hinter mir. Er musste hinter mir stehen. »Also bitte pass das nächste Mal auf, welche Bücher du hier öffnest und dann laut vorliest. Deshalb ist dieser Raum hier ja von dem anderen abgegrenzt.«
Im selben Moment wollte ich mich zu ihm umdrehen, als alles heller wurde und mir der Traum langsam entglitt.
»Leanne? Wach auf!«, rief jemand und ich schaute, wie aus dem Schlaf gerissen, zu meinem Großvater William. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. »Alles in Ordnung, Kleines?«
Ich nickte gelassen. Erst als er meine Hand nahm, um sie zu streicheln, bemerkte ich das klebrige Shirt, das schweißgebadet an meinem Rücken haftete. Auch im Bereich meines Dekolleté war alles nass geworden. Was war denn mit mir im Schlaf passiert? Außerdem rann mir eine Schweißperle die Stirn hinunter und glitt an meiner Schläfe vorbei.
»Du hast anscheinend schlecht geträumt.« War der Traum wirklich so bösartig gewesen? Normalerweise erinnerte ich mich an keinen meiner Illusionen, doch diese hier, schien mehr denn je ein Erlebnis gewesen zu sein. Ich verspürte sogar noch immer die Angst, als ich zum aufgesplitterten Treppengeländer heraufgeblickt hatte.
»Kann schon sein«, sagte ich und fühlte mich vollkommen ausgelaugt. Meine Muskeln schmerzten ein wenig. Beinahe so, als ob ich einen Marathon gelaufen wäre und zwei Stunden lang Gewichte gestemmt hätte. War das Muskelkater? »Wie viel Uhr haben wir, Grandpa?«
Er zog an seinen Ärmel nach oben, um auf seine goldene Uhr schauen zu können. Er blinzelte einige Male, konnte jedoch die Zeiger erkennen.
»Halb 8, wenn ich das richtig sehe!«
Ich riss meine Augen auf und sprang aus dem Bett! »Was?!«
Wie von einer Tarantel gestochen, scheuchte ich William aus dem Zimmer und blickte in den Spiegel. Ich sollte in einer halben Stunde mein zerzaustes Haar waschen, mich schminken und fertig machen? Egal wie lange ich mich noch im Spiegel betrachtete, die Zeit wurde definitiv nicht langsamer.
Schließlich lief ich ins Badezimmer und hatte mich in weniger als einer Minute unter die Dusche gestellt. Ich benutzte nur das Shampoo und ließ die Spülung aus. Mein Haar war von Natur aus weich. Noch schnell rieb ich das Duschgel über meine Haut und ließ erneut Wasser über meinen Körper sausen. Außerhalb der Dusche legte ich ein Handtuch um mich, wickelte meine Haare ein und lief ins Zimmer. Was zog ich an? Jedenfalls musste ich schon etwas älter aussehen. Ein Kleid wäre nicht schlecht.
Es klopfte an der Tür. »Ja?«
Meine Mom trat ein und schaute mich überrascht an. »Oh! Wohin gehst du?« Sie durfte nicht wissen, dass ich mit Miranda in einen Club gehe.
»Ich mache mich gerade fertig. Heute wollten ich und Miranda bei ihr einen Film schauen.« Bitte, lass sie guter Laune sein!
»Das freut mich«, lächelte sie zufrieden. Innerlich seufzte ich erleichtert. »Dann wünsche ich euch zwei viel Spaß!«
»Danke, Mom!«, sagte ich und setzte mein schönstes Lächeln auf. Hoffentlich blieb sie auch bei ›Dann wünsche ich euch zwei viel Spaß!‹
Erst als sie aus dem Zimmer war, machte ich mich wieder hektisch fertig und suchte mir einfach eine schwarze Jeanshose heraus, rote High Heels, die mir damals meine Tante schenkte und ein trägerloses Top, ebenfalls in Rot. Als Jacke schnappte ich mir meinen schwarzen Blazer. Es sollte genügen.
Im Badezimmer föhnte ich mir schnell die Haare, nachdem ich mein Outfit bereits angezogen hatte. Damit meine Mom keinen Verdacht schöpfte, zog ich mir ein Sweatshirt von Miranda darüber. Es war ein Foto von Kurt Cobain darauf. Die High Heels würde ich mir in meine Tasche stecken und stattdessen Sneakers tragen.
Ich traute mich überhaupt nicht auf die Uhr zu schauen. Aber meiner Neugierde konnte ich noch nie wiederstehen und blickte auf mein Smartphone. Verdammt! Es war fünf vor acht und ich war noch nicht einmal geschminkt. Zum Glück musste ich mir weder meine Haare glätten, noch mir Locken drehen. Sie sahen von Natur aus schön aus und besaßen geschmeidige Wellen. Ihre Länge reichte mir bis über die Brust.
Schließlich schmiss ich den Föhn in das Waschbecken und zog den Stecker. In meinem Zimmer suchte ich alle wichtigen Sachen zusammen und stopfte sie in meine Tasche. Zum Schluss schminkte ich mich noch schnell.
Anschließend verließ ich das Haus. Meine Mutter war in der Küche, William schaute wieder einmal laut fernsehen. Meine Finger schwitzten, so wie der Rest des Körpers. Schließlich hatte ich mich so beeilt und war nervös zugleich, dass ich froh war, mir kein Make-up zusätzlich auf die Haut geschmiert zu haben. Dafür sahen meine Augen perfekt aus. Sie brachten mein dunkles Grün besser zum Vorschein.
»Bis morgen!«, rief ich und lief aus dem Haus. Ich wollte gerade die Tür zu machen, als meine Mutter mir noch nachrief. Mein Herz pochte wie verrückt. Sie durfte nicht in mein Gesicht sehen. Die Schminke war mehr als übertrieben für einen einfachen Filmabend. Deshalb nahm ich mein Handy heraus und tat so als würde ich gerade schreiben.
Meine Mom tauchte im Flur auf und schaute durch den noch offenen Spalt. »Kommst du morgen zu Mittag?«
»Ja«, gab ich schnell Antwort und tippte wilder auf dem Touchscreen herum.
»Also schön, schlaft gut ihr beiden!«, rief sie mir noch zu.
»Ihr auch!«
Ein lauter Seufzer entglitt meinen Lippen, als ich endlich die Haustür hinter mir zumachte. Gott sei Dank!
Schließlich ging ich nicht auf dem Bürgersteig, sondern sprintete zu Mirandas Haus. Dort angekommen, blickten mich Claire, Steven und Miranda entgeistert an.
»Leanne, deine Haare…« Sie mussten vom Sprinten durcheinander gewirbelt worden sein.
»Ich wollte nicht zu spät kommen«, sagte ich leise und bemerkte, dass meine Stirn schweißgebadet war. Miranda kam auf mich zu und fuhr mit ihren Fingern durch meine Wellen. Ich blickte zu Claire. Sie sah unglaublich gut aus. Sie trug ein königsblaues Cocktailkleid und dazu eine goldene Kette. Meine Accessoires hatte ich total vergessen in der Hektik. Ihre Haare waren in schwere Locken gedreht und fielen ihr auf einer Seite über die Schulter. Sie besaß einen Seitenpony und dunkelbraune Augen. Das Gesicht wirkte eher zuckersüß, als gefährlich scharf. Bei meinem Aussehen könnte man mich für beides halten. Dafür sorgten aber Smokey Eyes.
»Okay, so ist es besser!« Sie blickte an mir herunter. »Wieso hast du mein Sweatshirt an?«
Ich biss mir auf die Lippe und drückte ihr meine Tasche in die Hand, bevor ich mein Oberteil auszog und mein Top darunter entblößte. Miranda zog meine High Heels hervor, die ich aus ihrer Hand riss und die Sneakers ersetzte.
»Heiß!«, meinte Miranda und rückte ihr rotkariertes Röckchen zurecht. Darunter trug sie eine schwarze Feinstrumpfhose, passende Pumps und als Oberteil ein bauchfreies Shirt, worüber sie sich eine schwarze Lederjacke mit Nieten gezogen hatte.
»Alle einsteigen!«, rief Claire und setzte sich auf den Beifahrersitz, der alten Schrottkarre. Aber Hauptsache wir konnten dadurch zu unserem Ziel gelangen. Ich ignorierte einfach die Rostflecken am Heck.
Bevor ich ihnen folgen wollte, griff Miranda nach meinem Handgelenk. Sie schaute mich ernst an. »Hör zu, Leanne. Niemand weiß von unserem Vorhaben und das soll auch so bleiben, in Ordnung? Wir wollen nur feiern gehen.«
Ich verstand ihre Angst und nickte daher. »Ich wollte sowieso nicht, das es Claire und Steven wissen.«
Sie seufzte. »Gut, und nun komm.«
Wir setzten uns auf die hinteren Plätze, der Motor röhrte und schließlich fuhr das Auto mit einem heftigen Rucken los.

Wenn ihr mehr lesen wollt:

http://www.bookrix.de/_ebook-j-k-bloom-fuersten-der-daemonen/

lg J.K.

(:







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