Als ich in unsere kleine Straße einbog, war Roman noch immer nicht da. Ich sah es gleich auf den ersten Blick: kein bulliger schwarzer Geländewagen vor dem Holunderweg Nr. 5, unserem schmucken Bungalow in Ortsrandlage. Der geräumige, kierfernhölzerne Carport - eindeutig leer. Genervt fuhr ich die letzten Meter bis zum Haus, stellte meinen eigenen Wagen im Carport ab und schloss die Haustüre auf.
Was war heute nur los! Immer war er zuverlässig, berechenbar und genau, neuerdings bis an die Grenze zur Pedanterie, und nun das! Vor einer Stunde schon hatte er von der Arbeit zurück sein und die Kinder zu meinen Eltern bringen wollen; dann hätte ich mich wenigstens in Ruhe umziehen und auf unser abendliches Elend vorbereiten können. Nun hatte ich unsere Jungs notgedrungen selbst ans andere Ende des Dorfes kutschiert, dort meine Mutter in ihrem Mitteilungsdrang abgewürgt, mir eben noch einen rotbackigen Apfel aus der Obstschale genommen und mich wieder auf den Rückweg gemacht. Mein Magen hatte meinen Versuch, den aus der Küche dringenden, aromatisch würzigen Duft einer gemächlich vor sich hin köchelnden Rindfleischsuppe zu ignorieren, mit einem wehmütigen Ziehen quittiert. Heute Abend stand Anderes an, Wichtiges. Ein Abendessen mit einem neuen Geschäftspartner, mal wieder. Wie ich solche Geschäftsessen doch hasste! Niemals sonst fühlte ich mich derart unwohl in meiner Haut.
Es half nichts. Beziehungspflege war für Roman, Architekt und seit einem Jahr Teilhaber eines Architekturbüros in der nahe gelegenen Stadt, Pflicht. Ich sollte repräsentieren, schön sein, als Ehefrau zu einem gedeihlichen Klima beitragen! Immer öfter sah ich mich so auf eine Rolle reduziert, die ich nie gewollt, ja verachtet hatte. Als ich Roman kennen gelernt hatte, damals, während des Studiums, war er - wie ich - ein kreativer Mensch gewesen, im Beruf wie im Privaten. Auf gesellschaftliche Zwänge aller Art hatte er nicht viel gegeben. Doch mehr und mehr schienen nun sein Beruf und der Konkurrenzdruck in der Branche all seine Kreativität und Energie aufzuzehren, ihn auf einen angepassten, langweiligen Durchschnittsmann zu reduzieren. Für unsere kleine Familie hatte er ebenso wenig Zeit wie für die ganz privaten Abenteuer, die uns früher so wichtig gewesen waren. So stand uns heute wieder ein wunderbar verschwendeter Abend bevor, wegen dem ich schon die Kinder angeschrieen und meine Mutter verstimmt hatte, und der in seinem weiteren Verlauf sicherlich nicht besser werden würde.
Ich schaute auf die Uhr, die Roman mir zu unserem fünften Hochzeitstag geschenkt hatte. Es war zehn vor sechs. In spätestens fünfundzwanzig Minuten mussten wir weg, wenn wir rechtzeitig im Maxime's sein wollten, einem Edelfranzosen. Der Tisch war auf sieben Uhr reserviert. Wenn Roman nicht bald kam, kämen wir zu spät. Unverzeihlich in einem Geschäft, in dem Zeit Geld bedeutet und pünktliche Fertigstellung Alles.
Das letzte Geschäftsessen war gerade eine Woche her. Herr Mayer, Bauunternehmer, ein feister, quadratschädeliger und dickbäuchiger Kerl um die fünfzig, hatte mich zunächst kurz taxiert, seinen Blick dann langsam und ungeniert über meinen Körper wandern lassen und mir schlussendlich in den Ausschnitt gegiert. Unglaublich, zu welch unmäßigem
Selbstbewusstsein dieser erbärmlich unansehnliche Kerl durch ein bisschen Geld gekommen war! Seine Gattin, eine mit Klunkern behängte, in jeder Hinsicht aufgeblasene Blondine, hatte sich vornehmlich durch ihr sirenenartiges Lachen hervorgetan und auch ansonsten voll und ganz dem Frauentypus entsprochen, der für Männer von Herrn Mayers Schlag wohl der ideale ist: ab und an wurde ein unqualifizierter Kommentar in den Raum geworfen, ansonsten wurden erotische Augenaufschläge geübt. Unglücklicherweise war Trainingsobjekt mein Roman gewesen, der ihr gegenüber gesessen hatte. Kein Wunder, wenn mir über all dem der Appetit verging auf Austern, Froschschenkel und Co.!
Langsam begann ich mir ernsthaft Sorgen zu machen. War etwas passiert, hatte es vielleicht einen Unfall gegeben? Ich nahm das Telefon und wählte Romans Geschäftsnummer. Arne antwortete, der Praktikant, ein lustiger Kerl von gerade mal 22. 'Dein Mann? Nee, meine Liebe, der ist vor über einer Stunde weg.' Mein Herz schlug schneller - die Fahrt von Romans Büro bis nach Hause dauerte normalerweise gerade mal zwanzig Minuten. 'Ina, alles in Ordnung mit Dir?' fragte Arne. 'Klar', sagte ich, legte auf. Als nächstes versuchte ich es über das Handy, doch nur eine schwach weibliche Computerstimme antwortete, die Mailbox. Es half nichts, mir blieb nichts anderes übrig als zu warten. Resigniert machte ich mich auf den Weg ins Schlafzimmer, in Richtung Kleiderschrank. Im Wohnzimmer fand ich meinen Laptop eingeschaltet; eigentlich hatte ich heute Nachmittag noch ein wenig an meiner Dissertation weiterarbeiten wollen, bevor mich das übliche Tohuwabohu der Kinder aus dem Konzept gebracht hatten. Ich würde den Computer später ausschalten und mich erst einmal umziehen. Hoffentlich tauchte Roman in der Zwischenzeit auf.
Im Schlafzimmer zog ich zunächst Sweatshirt und Jeans aus, dann den sportlichen BH und meinen wenig Aufsehen erregenden Baumwollslip. Ein Lichtstrahl fiel durch das Fenster auf meine Haut. Goldener Oktober. Ich setzte mich auf unser Bett, lehnte mich zurück und schloss die Augen. Eigentlich hatte ich dafür nun wirklich keine Zeit, doch wie schön wäre es, endlich mal wieder auszuspannen und das Leben mit all seinen Facetten in vollen Zügen zu genießen! Lichtsterne tanzten derwischgleich vor meinen geschlossenen Lidern. Ich begann zu träumen… Eros. Wie wäre das schön.
Ein Auto, das mit laut aufheulendem Motor an unserem Haus vorbeifuhr, holte mich zurück in die Realität. Ich betrachtete die beiden Ensembles, die ich mir herausgelegt hatte, und zwischen denen ich mich nicht hatte entscheiden können. Mein neues Kleid, diese Woche gekauft, roséfarben, figurbetont geschnitten, mit zauberhaftem Dekolleté. Als Roman mich darin gesehen hatte, hatte ich für einen Moment dieses Funkeln in seinen Augen gesehen, das ich so lange vermisst hatte. Er hatte mich umfasst, sanft auf das Bett gehoben. Mit seinen Händen hatte er zunächst über den seidigen Stoff gestrichen und dann begonnen, meinen Busen zu streicheln. Du bist so schön, hatte er gesagt. Dann hatte sein Handy geklingelt. Stress bei einem Projekt, ein Wasserschaden. Der Augenblick war vorbei. Romans Blick war wieder routiniert, ein Blick, den ich gut kannte und so wenig mochte. Er war gegangen. Ich würde das Kleid heute nicht anziehen. Es nicht den begehrlichen Blicken eines alternden, klebrigen und in jeder Hinsicht raffgierigen Geschäftspartners aussetzen.
Ich wählte einen zartbitterfarbenen Hosenanzug. Sachlich, nüchtern, gleichzeitig mit den richtigen Schuhen und Accessoires durchaus elegant. Hochhackige Pumps, goldene Ohrringe. Etwas Make-up, ganz dezent. Ich betrachtete mich im Spiegel. Mein langes kastanienbraunes Haar, rötlich im Herbstlicht. Und doch in dieser Verkleidung fremd.
Mein Blick fiel wieder auf die Uhr. Viertel nach sechs, eigentlich schon etwas später. Wo er nur blieb? Wieso hatte er sein Handy abgeschaltet? Ich machte mich erneut auf den Weg in Richtung Telefon… Der Laptop auf dem Couchtisch brummte sein monotones Lied. Ich hielt an, um ihn auszuschalten. Als der Bildschirmschoner verschwand, die Überraschung. Eine neue E-Mail! Meine Hand zitterte, während ich mit einigen schnellen Mausklicks die E-Mail öffnete. Roman? - nein. Eros hatte geschrieben:
Komm heute Abend in den Weinberg. Du weißt wo - ich warte auf Dich.
Ich konnte es nicht glauben! Fassungslos ließ ich mich aufs Sofa fallen… Wie hatte ich mich in letzter Zeit auf diese E-Mails gefreut, auf sie gewartet, wenn Roman mal wieder nicht da war, weil er den Abend, die Nacht durch arbeitete. Anfangs hatte ich diese Art des Werbens kindisch gefunden, es war mir auch ein bisschen peinlich gewesen, das, was er schrieb. So sachlich war sie geworden, die Beziehung zwischen Roman und mir, dass diese Art der Sprache nun Saiten in mir anschlagen konnte, die lange nicht mehr geklungen hatten. Das vorsichtige Tasten war bald in eine explizitere, umso sinnlichere Form der Kommunikation übergegangen. Wo überall könnten wir zusammen sein, wenn wir nur zusammen sein könnten. An einem einsamen Strand, wir beide, Sand in allen Körperritzen und doch unendliches Glück, potenziert noch durch die kräftigen Strahlen der Sonne. In einer Höhle, dunkel, feucht und unwirtlich, doch der Boden mit zartem Moos bewachsen, wir sanft gebettet, geborgen und für uns ganz allein.
Eine Variante hatte uns besonders gut gefallen, der Weinberg in der Nähe des Dorfs. Ein Wirtschaftsweg, in einer Sackgasse endend, an einem Landabbruch. Wenn man in den Kopf hob, konnte man kilometerweit blicken. Träumend, in der Kühle des von Tau benetzten Grases. Pralle Trauben, die einem förmlich in den Mund hinein wuchsen. Die wohlige, erregende Angst, dass gleich der Winzer um die Ecke käme oder die Erntehelfer aus Polen, kräftige, braungebrannte Burschen im Ripphemd, die nur verschlungene Körper sehen würden, ein Mann, eine Frau, eins.
Die Kirchturmuhr schlug halb sieben, wieder eine viertel Stunde Leben später. Doch nun konnte ich lachen, endlich. Mit um die Beine geschlungenen Armen saß ich da, spürte schon jetzt die wohlige Wärme, die mich bald ganz und gar durchströmen, süß umfangen würde. Geschäftsessen mit wichtigem Geschäftspartner? Unser Leben noch ein bisschen sicherer machen, mehr Geld, Erfolg, Ordnung, all dass, was man in unserer Gesellschaft wollen muss, wohl oder übel? Was wir anstreben, mit aller Macht, obwohl es uns lähmt, sich über uns legt wie ein grauer, zähflüssiger Schleim? Wir würden darauf pfeifen, wenigstens heute Abend. Die Konsequenzen würden morgen sein. Das Leben ist jetzt.
Ich klappte den Laptop entschlossen zu. Zog die Pumps aus, ich würde sie nicht mehr brauchen. So wie ich war, im feinen Hosenanzug, mit bloßen Füßen, schloss ich die Haustüre, mein schönes und doch so tödlich geordnetes Leben hinter mir ab. Holte mein klappriges, wenig benutztes Fahrrad aus dem Carport. Los konnte es gehen. Ich sog ihn ein, den Duft nach neuem Wein, der dieser Tage überall in der Luft lag. Trat fest in die Pedale. Bald hatte ich die letzten Häuser des Dorfes hinter mir gelassen, spürte die Schweißperlen, die auf meiner Haut glänzten und sogleich vom frischen Fahrtwind abgekühlt wurden - mein offenes Haar flatterte.
Die Haupternte war nun fast abgeschlossen, dennoch hingen an einzelnen Reben noch volle, goldgelbe Trauben. Wartend auf den ersten Frost, der sie in neue Sphären heben, zu einem besonders gehaltvollen, köstlich beerigen Wein veredeln würde. In ein neues Leben getragen… Still war es, kein menschlicher Laut, nur Vogelgezwitscher und das Gekakel der Krähen zu hören. Fern fuhr ein einsamer Vollernter durch die Weingärten.
Was würde ich finden an unserem Platz im Weinberg? Ein anderes Leben, auf das ich so lange schon gewartet habe? Mehr Liebe, Erotik, Zeit miteinander? Machte ich mir nicht Illusionen, die unser Leben zerstören würden? Sollte ich, sollten wir nicht besser umdrehen und versuchen, auf einer sachlichen Ebene zu bleiben, um gleichwohl zueinander zu gelangen?
Doch das konnte ich nicht. Wollte nicht. Ich war ganz nah, noch ein letzter Hügel, den ich überwinden musste. Ich fuhr nun direkt auf die Sonne zu, die langsam begann, hinter den nahen Bergen zu verschwinden. Das Rebenmeer, getaucht in ein immer dunkler werdendes, orangefarbenes Licht. Langsam legten sich Schatten über die umliegenden Hügel. Was, wenn er nicht da wäre? Wenn es ein übler Scherz gewesen wäre, der mich auf die Probe stellen sollte? … Mich schauderte. Das würde er niemals tun.
Außer Atem, keuchend fast, erreichte ich den Gipfel. Ich ließ meinen Blick schweifen. Im schwächer werdenden abendlichen Dämmerlicht glitt er über die umliegenden Gärten, die Dörfer, vereinzelte Häuser mit hell erleuchteten Fenstern. Dahinter, drohend, die Stadt. Welch Glück, dass ich ihr heute entflohen war! … Am Fuß des Hügels schemenhaft: ein Auto. Mein Herz machte einen Sprung. Wie konnte ich nur zweifeln! Er war da.
Abwärts ging es nun, rasend schnell auf dem Wirtschaftsweg in mein neues Glück. Dann war ich da, lehnte mein Rad gegen einen nahen Baum. Er lag auf einer großen wollenen Decke: nackt. Die Augen geschlossen, den Kopf gen Himmel gewandt, genoss er die letzten Strahlen der herbstlichen Sonne, die auf seinen schlanken, fast mageren Körper fielen. Sein schwarzes Haar, an den Schläfen schon grau, schimmerte im abendlichen Licht. Wie unglaublich schön er doch aussah. Ich kniete mich neben ihn auf die Decke, strich vorsichtig mit meinen Händen über seine trotz des mittlerweile kühlen Abendwindes warme Haut. Wortlos umfasste er mich mit kräftigen Armen, öffnete den Reißverschluss meines Hosenanzugs. Wie schön war es, diese wohlbekannten, so lange vermissten Finger auf meinem Körper zu spüren! Den heißen, begierlichen Atem, der seinem Mund entströmte, als er mich mit Küssen bedeckte… mein Eros.
'Schön, dass Du gekommen bist', sagte er. 'Ich hatte schon fast befürchtet, Du würdest neuerdings Deine E-Mails nicht mehr lesen…' 'Wieso hast Du Dein Handy ausgeschaltet, Roman, ich hatte mir Sorgen gemacht?' Er lachte, verschloss meinen Mund mit einem weiteren Kuss. Dieses eine Mal würden wir ungestört sein …
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