Weirdly - Teil 9

Autor: blue-haze
veröffentlicht am: 27.05.2014


9. Verlassen

„Was?“
„Willst du in ein Heim?“ Der Ernst in seiner Stimme ist ungewohnt. Es ist nichts mehr von dem aufgedrehten jungen Vater übrig, der er einmal war.
„Weißt du... es gibt eine Pflegefamilie, die dich sehr gerne aufnehmen würde.“
Jetzt beginnt es in meinem Kopf zu rattern. „Du willst mich also weggeben.“ Ich bin so schockiert, dass diese Aussage wie Monoton vorgetragen wirkt. Mein Vater will mich weggeben. Wenn er sagt, dass es da eine Familie gibt, dann hat er bereits mit diesen Menschen darüber gesprochen, dann hat er längst vor mich weg zu geben. Tränen steigen mir in die Augen, die ich trotzig runter schlucke, nur um nicht vor seinen Augen zu weinen. Nein, diese Genugtuung, gönne ich ihm nicht. „Geh.“
„Akira, hör mir-“
„GEH! Mach die blöden Papiere fertig und schick mich meinetwegen ans andere Ende der Welt. Hauptsache, ich muss dich nie wieder sehen!“
Ja, diese Worte habe ich ausgesprochen. Dass ich es in der nächsten Sekunde bereut habe, spielt dabei keine Rolle. Ich habe das Herz meines Vaters brechen sehen, doch das war nur das Spiegelbild meines eigenen zertrümmerten Herzens.
Die Tür knallt hinter ihm zu und ich sitze am Fenstersims. Mein Vater schickt mich weg. So unfassbar ist dieser Gedanke, dass die Verzweiflung über mir einschlägt. Plötzlich ist der Gedanke so dicht am Fenster zu sitzen möglicherweise keine Gute Idee. Ich bin schon unzählige Male aus dem Fenster geschlichen und am Baum, der daneben steht herunter geklettert. Doch den Weg einmal ohne Baum zu nehmen... einfach die drei Stockwerke runter springen. Vermutlich zu wenig um zu sterben. Esseiden, ich lande direkt auf dem Genick.
Eine SMS.
„Reden? Kenan“
Sehe noch eine Weile aus dem Fenster, bis ich neben dem Baum eine Gestalt erkenne. Kenan.
Ich klettere aus dem Fenster und steige am Baum entlang zu ihm hinunter.
„Ich habe dich vorhin gehört...“ Er gibt mir ein Taschentuch. „Was ist passiert?“
Ich antworte nicht. Es ist zu viel. Ich sehe nur auf den Boden und weine wieder los. Ganz zaghaft streicht seine Hand über meinen Scheitel, aus Angst, dass zurückweiche. Ich halte still und lasse es zu. Zum ersten mal seit Langem, wünsche ich mir eine Umarmung. Aber ich bin sicher die Angst wird siegen, „Sollen wir ein Stück gehen?“
Ich nicke.

Seit diesem Abend, habe ich vermutlich nicht mehr gesprochen. Weder mit Kenan, noch mit sonst wem. Ich bin ziemlich sicher, mein Dad setzt gerade die Papiere auf, damit diese Pflegefamilie mich aufnimmt. Ob meine Großeltern Bescheid wissen?
Ich laufe umher wie ein Zombie und bin sogar überrascht, als Sean mich begrüßt.
„Alles in Ordnung mit dir?“
In meinem Kopf rattert es. Oh verdammt! „SEAN! T-tut mir leid... ich... ich bin nur... es tut mir leid, ich war mit den Gedanken völlig wo anders...“
„Das sehe ich. Ist etwas passiert?“
„Nein... nicht...nicht direkt... ein bisschen Stress zu Hause, das ist alles.“
Die Besorgnis in seinen Augen rührt mich, doch als seine Hand meine Wange streicheln will, zucke ich automatisch zusammen. Beinahe gekränkt, zieht er seine Hand zurück. „Tut mir leid.“
„Nein...es hat nichts mit dir zu tun... es ist komplizierter...“
„Willst du darüber reden?“
Ich schüttele den Kopf. Es ist wie Kenan gesagt hat. Ich kenne ihn noch nicht wirklich.
„Okay... wir sehen uns dann morgen. Bye...“
Entschuldigend sehe ich ihn an. „Bis morgen.“

Mein Tag sollte nicht nur entsetzlich beginnen. Er endet auch genauso beschissen, wie er angefangen hat. In unserem Wohnzimmer, sitzen fremde Menschen. Wie schon bekannt, reagiere ich darauf allergisch.
„Guten Tag“, sage ich gedehnt und sehe mich nach Dad um.
„Du musst Akira sein“, begrüßt mich die Frau.
Ich nicke.
„Mein Name ist Rachel Winston.“ Ich schüttele Mechanisch ihre Hand, während ich mich noch immer nach Dad umsehe. Die Frau ist mir unsympathisch. Sie sieht aus wie meine Mutter, nur etwas älter.
Auch der Mann erhebt sich und reicht mir die Hand. In seinem Blick liegt etwas...lüsternes. Ich will ihm gar nicht erst die Hand schütteln, sehe mich jedoch dazu gezwungen. „Ich bin Harrold.“
„Freut mich“, erwidere ich ebenso gedehnt wie schon meine Begrüßung war.
„Als dein Vater uns von dir erzählt hat, da wollten wir dich unbedingt kennenlernen“, beginnt die Frau.
„Ja...ähm...entschuldigen Sie mich bitte.“ Ich stürme aus dem Wohnzimmer und suche nach meinem Vater, der wie erwartet in der Küche steht. „Da stehen fremde Menschen in unserem Wohnzimmer.“
„Das sind deine künftigen Pflegeeltern.“
„Hättest du mich darauf nicht vorbereiten können?“
„Willst du sie nicht kennenlernen?“
„Um ehrlich zu sein: NEIN.“
„Aber ich dachte-“
„Du kannst Gedanken lesen. Aber offenbar bist du nicht in der Lage selbst zu denken!“ Tränen steigen mir in die Augen. „Hasst du mich so sehr, dass du mich so schnell los werden willst?“
„Aki-“ Er streckt die Hände nach mir aus, doch ich stoße ihn von mir weg und renne aus dem Haus.
Kenan, der gerade reinkommen wollte, sieht mir irritiert nach und folgt mir.
Zu spät bemerke ich das Auto, dessen Tür sich öffnet und aus der ein Mann steigt, der mich in das Auto zerrt. Es geht alles zu schnell, ich kann nicht einmal schreien, als er mir ein Tuch auf die Nase presst und ich ohnmächtig werde.

Ich erwache noch immer benebelt und sehe mich um, versuche zu begreifen, was los ist. Ich bin gefesselt. Wo zur Hölle bin ich?
„Ah, du bist endlich wach.“
„Wer sind Sie?“
„Nur ein alter Bekannter deines Vaters...“
Zu viel versprochen, als ich gesagt habe, der Bodyguard wäre nicht übertrieben?
„Schön, dann erlauben Sie mir eine Frage: WAS ZUR HÖLLE HABE ICH DAMIT ZU TUN?“
„Hm, genauso manierlos wie der Vater. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, was?“
„Ach, und Menschen zu entführen, gehört zum guten Ton, oder wie?“
Der Mann lacht und pfeffert mir seinen Handrücken ins Gesicht. Der hat gesessen. Aber mit einer Mutter wie meiner, ist man irgendwann abgehärtet.
„Du bleibst hier bis dein Vater kommt. Und wenn er hier ist, dann werde ich dich vor seinen Augen umbringen.“
„Er wird nicht kommen.“
Das dunkle Lachen hallt in dem leeren Raum wieder. „Das glaubst du doch selbst nicht.“
„Er wollte mich weggeben, wieso sollte es ihn kümmern, dass mich ein Psychopat entführt hat? Ich war vier Jahre lang entführt. Meinen Sie, jemand hat großartig nach mir gesucht? Und was das Sterben angeht. Hatte ich schon mal. War nicht sonderlich aufregend.“
Die Kälte in meiner Stimme scheint ihn zu überraschen. Vermutlich hat er mit einem weinerlichen Mädchen gerechnet, das um sein Leben fleht. Was soll ich sagen? Die Reaktion in seinem Gesicht zu sehen, macht irgendwie Spaß. Ich unterdrücke ein Grinsen und sehe ihn mit hochgezogener Augenbraue an.
„Er wird kommen. Und wenn du hier verreckst, bis er da ist.“
Ich zucke mit den Schultern, was in meiner Position nicht sehr bequem ist. „Bin gespannt, wer von uns beiden zu erst die Geduld verliert.“
„Du kleine-“ die nächste Ohrfeige kommt. Scheiße, wer hat ihm beigebracht mit dem Handrücken zuzuschlagen? „Dann machen wir es eben so: Ich mache es ihm leicht. Er bekommt eine Wegbeschreibung. Und wenn er in zwei Stunden nicht da ist, dann pumpe ich deinen hübschen kleinen Kopf mit Blei voll.“ Er hält mir eine Waffe an die Schläfe. Soll ich was verraten? Ich fühle keine Angst. Nicht eine Sekunde. Wer mich jetzt für irre mutig hält, liegt falsch. Eigentlich bin ich nur lebensmüde. Hab mich schon gefragt, wie sich das anfühlt. Tja, wenn mich die Kugel tatsächlich trifft, bevor mein Dad kommt, muss ich wenigstens nicht sehen, wie er reagiert, wenn ich sterben soll. Denn wenn es ihn kalt lassen würde, dann würde ich doch noch heulen. Wenn es ihm etwas ausmachen würde... dann würde ich erst recht heulen. Mein Leben mag nicht viel wert sein... aber einige schöne Erfahrungen hatte ich mir wohl doch noch erhofft. Ich habe zum ersten Mal erfahren, was es heißt einen guten Freund zu haben... ich habe zum ersten Mal erfahren, wie es sein könnte, wenn sich jemand in mich verliebt. Ich fühle, wie mir tränen in die Augen steigen und konzentriere mich wieder darauf, dass das Leben im Grunde nicht lebenswert ist. Für andere Gedanken ist jetzt der falsche Zeitpunkt.
Ich sehe zu, wie der Mann eine SMS verschickt.
„Was hat mein Vater Ihnen angetan?“
„Was er mir-... du fragst, was dein Vater mir angetan hat?“
Hey ho, Da habe ich wohl einen Wunden Punkt erwischt.
„In den Ruin getrieben, hat mich dieser kleine Bastard. Mein ganzes Vermögen habe ich verloren, weil er mich an die Bullen verpfiffen hat. Dann konnte ich meine Schulden bei der Mafia nicht mehr zahlen. Weißt du, was die mit einem machen, wenn man seine Schulden nicht zahlt?“
Er zeigt auf eine Narbe in seinem Gesicht.
„Kennen Sie den Spruch: Ehrlich währt am längsten?“
„Klappe!“
„Ich meine nur... warum soll jemand anders leiden, wenn Sie schulden bei Gangstern gemacht haben? Und offenbar noch ein paar andere krumme Dinger gedreht haben... Ich verstehe das nicht. Im Ernst. Ein Kind kann zum Beispiel auch nichts dafür, wenn die Eltern zu blöd zum verhüten waren. Das ist kein Grund ihm die Pulsadern aufzuschneiden.“
„Da hast du ganz recht, kleines.“ Perfekter Filmmoment. Der Held erscheint mit einer Stimme aus dem Off.
„Kiyoshi, du kleiner Penner, komm raus! Komm raus und sieh zu, wie deine Tochter stirbt.“
„Du wirst sie nicht töten.“
„Und ob ich das werde! Und übrigens, hast du die kleine nie zum Psychiater geschickt?“
„Doch, einmal wöchentlich“, beantworte ich. „Ich mag den Kerl nicht.“
„Warum hast du mir das nie gesagt?“
„Ruhe! Oder ich knall sie gleich ab.“
„Wirst du nicht.“
„Komm raus, du Feigling! Zeig dich, damit ich sicher sein kann, dass du zusiehst, wenn sie abkratzt.“
Aus dem Schatten der Treppe tritt mein Vater. Während sich der Entführer ihm zuwendet, fühle ich, wie etwas an meinen Fesseln herum schneidet. Als sie gelöst sind, steht Kenan neben mir und bedeutet mir leise zu sein.
„Das ist eine Sache zwischen dir und mir. Meine Tochter hat damit nichts zu tun.“
„Meine Frau hat meine Kinder genommen und mich verlassen, DEINETWEGEN. Du sollst jetzt das gleiche erfahren.“
„Das ist nicht das gleiche und das weißt du.“
„Sei still!“ Er dreht sich zu dem Platz um, an dem ich gerade noch gesessen habe und fuchtelt wild mit der Waffe herum, als er merkt, dass ich weg bin. „Stehen bleiben!“ Ich friere augenblicklich ein. „Dachtest du, du kommst so leicht davon?“
Er entsichert die Waffe und zielt auf mich. Kenan stellt sich vor mich, doch als der Schuss fällt, schubse ich ihn Mechanisch zur Seite.
„AKIRA!“ Zwei Stimmen rufen meinen Namen, als die Kugel meine Schulter zerfetzt.
Kennt ihr diese Filme, in denen in solchen Momenten plötzlich alles in Zeitlupe abläuft und alles wunderschön wirkt. Ich sehe meinen Dad, der den Schuss im Letzten Moment wegzulenken versucht hat (sonst wäre jetzt wohl mein Herz dran gewesen). Ich sehe Kenan, der über mir kniet und versucht die Blutung zu stillen. Ich höre Sirenen... und eine Träne rollt über meine Wange.
Die Welt um mich herum verschwimmt. Etwas nasses tropft auf mein Gesicht... Ich kann meine Augen nicht mehr offen halten. Regen? Als ich meine nichts mehr wahrzunehmen, berührt etwas warmes, weiches meine Lippen. Vielleicht träume ich das auch nur...
Wenn man weiß, dass sich das erste Mal zu sterben so unglaublich beruhigend angefühlt hat, trotz der Schmerzen, dann ist es das zweite Mal fast schon ein Abenteuer, dem man hinterher jagt.
Dumm nur, wenn dann plötzlich Menschen da sind, die sich nicht mit einem freuen, sondern darüber trauern, dass man geht.

He, Tod... wie soll ich so in Ruhe mit dir gehen? Fragen dich das viele Menschen, die du mitnimmst? Kein Wunder, dass du so unbeliebt bist... bist du nicht ziemlich einsam? Ich wäre gerne deine Freundin, damit du nicht einsam sein musst....
Aber... ich glaube Kenan braucht mich noch als seine gute Freundin... und meinen Vater weinen zu sehen... so verzweifelt... das tut mir weh...






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