Merancyia - Dämonen der Nacht - Teil 8

Autor: BobbySmitty
veröffentlicht am: 05.09.2014


Wer nicht mehr weiß, wie es aufgehört hat, sollte das Ende des vorherigen Kapitels lesen. ^^

Anthonys Gesicht.
Schreckerstarrt entwich mir ein Keuchen. Mein Herz machte einen Hüpfer und fast konnte ich die Redewendung „Das Herz rutschte mir in die Hose“ nachvollziehen.
Er starrte mich unentwegt an. Aber nicht mit seinen roten Augen.
Die Schwarzen. Leer, leblos und emotionslos.
Wieso, das wusste ich natürlich nicht, aber er bewegte keinen Muskel im Gesicht und blieb wie eine Statue an einer Stelle stehen.
Irgendwas stimmte hier gewaltig nicht. Was suchte er um diese Uhrzeit hier? Vor etwa einer Stunde oder mehr, war er zusammen mit den anderen Seattlern weggefahren. Obwohl ich es mir nicht eingestehen wollte, wurde ich misstrauisch und beobachtete Anthony, während ich mich ganz bedächtig aufsetzte. Schließlich stand ich auf zwei Beinen und in diesem Moment schlug er auf das Fenster ein.
„Fuck“, keuchte ich und schmiss mich zu Boden, als ich Glassplitter erwartete, die um die Gegend fliegen würden. Stille. Mein Atem ging Stoßweise und mein Herz pochte mir buchstäblich aus der Brust. Die Hände, die ich mir beschützerich auf den Kopf gelegt hatte, nahm ich runter und lugte hoch zum Fenster. Niemand befand sich dort, doch dafür hämmerte jemand an der Tür. Wie von der Tarantel gestochen, bockte ich auf und wich ein paar Schritte Richtung Kamin. Lautes Poltern erklang und ich zerknitterte den Stoff von meinem T-Shirt, dass ich mit meinen Fäusten hielt, daher ich mich daran festhielt, als hinge mein Leben davon ab.
„Jearinne!“, erklang eine Singsangstimme. Tief, kehlig und rau. Auf Zehenspitzen schlich ich zur Tür und als ich vor dem Spion stand und durch sah, ging mir der Anblick durch Mark und Bein. Das Hämmern hatte aufgehört. Anthony starrte unverwandt in den Spion, als würde er genau wissen, dass ich davor stand, obwohl selbst ich meine Schritte nicht gehört hatte.
„Habe ich jetzt deine Aufmerksamkeit? Gut.“, sagte er und die Stimme klang gedämpft aus der anderen Seite der Tür. Ich schluckte trocken und konnte mich nicht von der Stelle bewegen. Als hätten meine Füße Wurzeln geschlagen. Anthony, oder was auch immer er war, öffnete seinen Mund zu einem Lächeln und das Bild von meinen Alpträumen tauchte vor meinem inneren Auge auf. Spitzzulaufende Zähne. Erschrocken wich ich von der Tür und hielt mir die Hand vor dem Mund. Meine Augen weit aufgerissen und ich atmete so heftig, dass mir die Brust wehtat.
Plötzlich unterbrach mein Handyklingeln das Ganze und vor Erleichterung hätte ich aufheulen können. Ich nahm meine Beine in die Hand und schoss in die Küche, wo es sich befand. Ethans Name erschien auf dem Display. Das Hämmern und Lachen an der Tür kamen mir regelrecht unmenschlich vor. Sofort nahm ich ab.
„Ethan!“, rief ich panisch und meine Stimme kam krächzend raus. Ich hörte mich so an, als wäre ich kurz vor einem Tränenausbruch.
„Jearinne! Ganz ruhig, was ist los?“, fragte er laut und besorgt. Das Poltern vor der Tür bedeutete, dass Anthony noch davor stand. Wenn es überhaupt dieser Junge war!
„Ethan, bitte hilf mir!“, flehte ich und starrte mir vorgehaltener Hand auf den Eingang.
„Sag mir doch, was bei dir drüben vor sich geht!“, rief er verzweifelt.
„Bitte, hilf mir! Anthony steht vor meiner Tür und verschwindet nicht. Irgendwas stimmt nicht mit ihm!“, schrie ich aufgebracht und raufte mir Haare. Am anderen Ende hörte ich Ethan, wie er nach Sam, Charlie, Jackson und Cam rief.
„Hör mir gut zu, Kleine. Sag mir, was an ihm nicht stimmt.“, sagte er eindringlich und betonte das „was“.
„Seine Augen und seine Zähne. Gott, ich will meinen Bruder!“, rief ich und schämte mich keineswegs, wie ein Kleinkind zu klingen. Mason oder Michael oder beide sollten kommen!
„Versteck dich.“, flüsterte er und es wurde aufgelegt. Völlig benebelt starrte ich auf das Handy. Verstecken? Auf einmal fiel mir auf, und das viel zu spät, dass keiner an der Tür hämmerte.
„Oh mein Gott.“, flüsterte ich, als eine Tür quietschend geöffnet wurde. Es kam von oben. Schnell hastete ich ins Wohnzimmer, schob die kleinen Schiebetüren vor dem Kamin beiseite, kniete mich rein und zog sie im Inneren wieder zu. Wie verkatert stand ich auf und unterdrückte ein Husten, weil es im Kamin staubig und muffig war. Scheiße, scheiße, scheiße! Was machte ich jetzt nur? Durch die Gitter vor dem Kamin lugte ich ins Wohnzimmer und sah eine Gestalt auf der Treppe. Ich hielt mit meiner Hand meinen Mund zu und ignorierte die verbrannten Holzscheite, die in meine Knöchel piksten und die Asche, auf denen meine Füße standen. Es war zwar eng hier drin, aber ich erinnerte mich an die Metallstäbe, die mein Vater im Inneren des ganzen Kamins angebracht hatte. Wenn ich an ihnen hoch klettern würde, könnte ich vom Dach auf die Garage und von da aus, würde es nicht schwer werden. Anthony lief in die Mitte der Wohnung und sah sich um. Im Inneren betete ich um sein Verschwinden. Er flüsterte irgendwas und plötzlich wurde es total schwarz vor mir und ich konnte nichts mehr sehen. Fast dachte ich, das Licht im Flur wäre ausgegangen, aber wenn ich runter sah, erblickte ich Lichtstrahl. Es sah so aus, als stände vor den Gittern jemand und würde die Sicht versperren. Plötzlich tauchte Anthony grinsendes Gesicht auf.
„Hab dich.“, flüsterte er und riss die Schiebetüren auseinander. Ich konnte zuerst nicht reagieren, als er meine Hüfte packte und mich mit den Beinen voran herauszog, aber dann schlug ich ihm auf die Brust. Trotz der Panik, der Angst und der Verzweiflung.
„Lass mich los, Anthony.“, zischte ich und konnte einfach nicht einsehen, dass er vielleicht nicht er selbst war. Ein andere Person? Schizophrenie? Er hielt mich eisern fest und warf mich kurz darauf zu Boden. Ich schlug auf der Seite auf, mein Ellbogen unter mir. Schmerz breitete sich auf meinem Arm aus.
„Ich werde nicht zulassen, dass du meinen Plan zunichte machst.“, zischte er, packte mich an den Haaren und zog mich mit sich. Ich schrie vor Schmerzen und hielt mich verzweifelt an seiner Hand fest, die meine Haare umschlang, damit es nicht an meinen Strähnen hing, meinen Körper mitzuzerren. Von was für einem Plan redete er, fragte ich mich aufgebracht.
Als wir am Bogen unserer Küche ankamen und mir die Vase ins Auge fiel, streckte ich mich, packte sie und zerschmetterte sie an Anthonys Kopf. Er ließ los, fiel zu Boden und stöhnte vor Schmerzen.
Ich wollte auf die Tür zu rennen, aber sie kam mir so schutzlos vor. Wenn ich da raus rannte, könnte er mich schnappen, bevor ich weit kam. Ich entschied mich für das Dach.
Entschlossen rannte ich auf den Kamin zu, streckte mich nach den Gittern und zog mich Stück für Stück nach oben und stemmte mich mit den Füßen von den unten liegenden Stäben ab. Anthony erschien und wollte meinen Knöchel packen, aber ich entzog es ihm und kletterte weiter.
Diesmal war ich froh über meine dürre Figur, weil ich fließend voran kam. Anthony jedoch war breit und zu muskulös für den Schacht. Nie und nimmer könnte er den Schornstein erklimmen, redete ich mir verzweifelt ein. Die Schwärze machte mich hier drinnen fast kirre und der Rus an den Wänden ganz nebelig.
Schließlich nahm ich den Nachthimmel wahr und stützte mich am Rand des Schornsteins ab und landete auf dem Dach. Vorsichtig, aber auch schnell rannte ich geduckt über den Dach. Am Ende angekommen und die Garage unter mir, setzte ich mich auf den Rand und ließ mich fallen. Noch so konnte ich auf den Füßen landen. Dann flüchtete ich auf die Seite, wo der Volvo meines Bruders rein fuhr. Ich hörte hinter mir ein Ächzen. Er hatte es geschafft den Kamin hochzuklettern. Schnell schwang ich mich runter, hielt mich in einem Moment mit den Händen am Rohr fest und ließ schließlich los. Diesmal jedoch landete ich auf dem Po und ignorierte wissentlich den Schmerz. Ohne mich umzudrehen schlug ich die Richtung zu Phil ein und rannte los. So schnell ich konnte und versuchte keinen Gedanken an den Jungen hinter mir zu verschwenden.
Doch dann nahm ich schnelle Schritte hinter mir war. Obwohl das Seitenstechen mich auslaugte, gab ich alle Kraft meinen Beinen und schon bald hielt ich mich kaum auf den Füßen. Plötzlich kam jemand von rechts angeschossen und packte mich an den Hüften. Ich schrie auf.
„Ich bin es, Charlie“, rief er und stellte mich ab. Nur sehr schwer konnte ich halbwegs Luft in meine Lungen ziehen. Ich hechelte und hielt mir schmerzverzerrt die Seite. Erleichtert grinste ich ihn unter feuchten Augen an. Das ganze Adrenalin, das mich ergriffen hatte, als ich die Vase an Anthonys Kopf erschlagen hatte, war weg und ich fiel erschöpft in die Hocke. Von weit hinten nahm ich zwei Gestalten wahr, die mit sich rangen. Der andere war Samuel. Der packte knurrend Anthony an der Kehle zerrte ihn zu Boden und der fiel auf den Rücken. Cameron erschien auch und rannte auf die beiden zu. Ich wusste nicht was sie taten, aber in diesem Moment wusste ich, dass die Gefahr vorbei für mich war. Langsam füllten sich meine Lungen mit Luft und das Stechen in der Brust zog sich Stück für Stück zurück. Charlie legte seine Hand auf meinen Kopf.
„Hat er dir was angetan?“, fragte er voller Sorge.
„Wenn man davon absieht, dass er mir glatt eine Glatze verpasst hatte, ist alles im grünen Bereich.“, sagte ich sarkastisch und hustete, daher sich meine Kehle ziemlich trocken anfühlte. Der Schock saß immer noch in mir, aber ich versuchte ruhig zu atmen und nicht die Logik der Welt in Frage zu stellen.
„Ich meine es ernst, hat er dir etwas angetan?“, fragte er eindringlicher. Ich sah ihn an.
„Willst du die ganze Geschichte hören?“. Er nickte. Vorsichtig richtete ich mich auf und ließ meinen Rücken knacksen, indem ich ihn durchdrückte. Charlie war fast einen Kopf größer als ich und sah mit Sorgenfalten auf der Stirn zu mir runter.
„Ich will aber zuerst nach Hause.“, flüsterte ich. Mason müsste bald nach Hause kommen. Zumindest wünschte ich mir das, in diesem Falle keine große Überraschung.
„Sicher.“, sagte er und wollte seinen Arm um meine Schulter legen. Ich winkte ab.
„Noch nicht.“.Wenn er mich umarmen würde, käme es mir so vor, als ob ich eingeengt wäre. In manchen Häusern waren die Lichter angegangen und nur zwei bis drei Leute sahen aus den Fenstern auf die Straße. Samuel und Cam zischten Sachen auf Anthony ein und schüttelten ihn. Vorsichtshalber lief ich einen Schritt hinter Charlies Rücken. Er streckte den Arm aus, als wir zwei Meter vor ihnen stehen blieben.
„Und?“, fragte Charlie. Cam wischte sich mit seinem Ärmel über den Mund. Sein Blick war wild.
„Stabil könnte man so sagen.“, sagte er und sah mich an. In seinem Gesicht konnte ich das Bedauern sehen und Schuld. Ich versuchte ihm zu zu nicken, aber ich musste ziemlich verkrampft ausgesehen haben. Samuel hatte seine rechte Hand um Anthonys Arm geschlossen. Unter dem Laternenlicht konnte ich die Knöchel sehen, die weiß hervortraten. Anthonys Gesicht konnte ich nicht sehen, daher er mit gesenktem Kopf nach links sah. Seine Schultern bebten. Doch es entging mir nicht. Das Rot, das wieder vertraut in seinem Gesicht war. Mich überkam eine gewisse Erleichterung.
„Bring Jearinne nach Hause.“, sagte Samuel und es war das erste Mal, dass er mich bei meinem ganzen Namen nannte. Charlie nickte. Während wir uns von ihnen entfernten, dachte ich an Mary, die bestimmt schon schlief. Auch wenn alles geregelt schien, machte ich mir Sorgen. Ob bei ihr alles in Ordnung war? Oder Phillip. Der Gedanke, dass die beiden im Ungewissen waren, juckte mich. Verdammt, wo waren eigentlich Jackson und Ethan? Vor Schreck blieb ich stehen. Was wenn Jackson bei Mary eingebrochen war und Ethan zu ihr gegangen war, um ihr zu helfen? Ich blieb wie angewurzelt stehen. Charlie sah meinen ängstlichen Blick und schien alarmiert.
„Was ist?“, fragte er. Als ich zu einer Antwort ansetzen wollte, rief Samuel uns etwas nach.
„Mach dir um sie keine Sorgen, Ethan ist bei Phil und Jackson bei Mary!“.
Ich sollte überrascht sein, dass er wusste, was mir durch den Kopf ging, war ich aber nicht wirklich. Immerhin wusste er auch jedes Mal, wie ich mich fühlte oder worum ich mir Gedanken machte. Seufzend lief ich mit Charlie weiter. Jedoch fiel mir eine Sache ein, als wir vor unserer Haustür standen. Die Schlüssel waren drinnen und wir draußen.
„Wir können durch die Garage.“, sagte ich und nahm die Ersatzschlüssel für die Garage, die Mason immer in der losen Diele verstecke. Man erkannte sie daran, dass sie beige, anstatt weiß war. Ich nahm den verstaubten Schlüssel und drehte ihn im Griff am Garagentor um. Charlie schob es für mich hoch und zog sie hinter uns wieder zu. Den Schalter neben dem Werkzeugregal knipste ich an und zusammen liefen wir durch die Gittertür ins Haus. Die Lichter waren noch immer an.
Die Gänsehaut auf meiner Haut schien nicht verschwinden zu wollen und mein Herz hörte einfach nicht auf, ohne Pause schnell zu schlagen. Ich schluckte trocken. Wenn ich an Anthony dachte, schauderte ich. Aber wenn ich an den lächelnden Tony mit den roten Augen dachte, beruhigte ich mich. Ich brauchte eine Erklärung. Für alles.
„Ich mach das.“, sagte Charlie leise, als er die zerbrochene Vase auf dem Boden entdeckte. Daneben fand ich ein paar Bluttropfen. Sie mussten vom Schlag stammen, den ich Anthony mit der Vase verpasst hatte. Nickend setzte ich mich auf den großen Sessel, in dem Mason immer saß, wenn Michael vom Thailänder Essen mitgebracht hatte. Wie sehr ich mir einen dieser Momente mal wieder herbei sehnte. Der Schmerz in meinem Arm verschwand langsam und die Taubheit auf meinem Kopf auch. Erschöpft lehnte ich mich zurück und beobachtete das Fenster. Kurz sah ich den Jeep von Sam wegfahren und dann war es wieder still. Bloß das Geräusch von dem Handbesen, den Charlie zum Aufräumen benutzte war zu hören. Übertönte auch die Uhr. Als ich an mir herunter sah, waren meine Finger vom Rus schwarz. Meine ganzen Klamotten waren mit schwarzen Flecken überseht und ich war mir sicher, dass auch mein Gesicht mit Rus verschmiert war. Später würde ich mich in die Dusche stellen, aber nur um den Schmutz weg zu schrubben.
Schließlich kam Charlie ins Wohnzimmer und setzte sich im Schneidersitz vor mich. Kurz grinste er über mein Aussehen, aber wurde schnell wieder ernst, als ich es nicht erwiderte.
„Also, rede.“, sagte ich. Er runzelte die Stirn.
„Du wolltest mir doch erzählen, was hier passiert ist.“.
„Werde ich auch.“, erwiderte ich und Charlies Furchen wurden tiefer. Sein sonst so großen Augen, wurden schmal. „Auch wenn du zu wissen scheinst, was hier nicht stimmt.“.
„Was stimmt denn jetzt nicht?“, fragte er und wieder schwang Sorge mit.
„Wenn du mir endlich sagst, was mit euch nicht stimmt, dann werde ich es dir auch sagen.“. Er bekam große Augen und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. Einen seiner Knöpfe öffnete er und sah mich fragend an. Als würde er nicht wissen, wovon ich redete.
„Hör mal, Anthony ist hier einfach aufgetaucht. Mit diesen irren schwarzen Augen und den Monsterzähnen, wollte mit mir irgendwas anstellen, was ich selbst nicht verstehen kann. Samuel scheint fast alle meine Gedanken zu kennen, außerdem gibt es noch eine ganz große Sache, die wirklich nicht zu übersehen ist.“, sagte ich laut und setzte mich auf, um Charlie besser ins Gesicht zu schauen. Er senkte gequält den Kopf. Ich hörte ihn fragen, welche große Sache ich meinte und sofort öffnete sich mein Mund.
„Dass ihr gar keine Eltern habt und zusammen lebt.“.
Sein Kopf schoss nach oben und er wich vor mir zurück, als ob ich diejenige wäre, mit der nichts stimmte. Charlie stand auf und raufte sich die Haare und flüsterte immer wieder „Ich sollte das nicht machen“. Mit einem gequälten Ausdruck in den Augen sah er mich an.
„Morgen. Ich verspreche dir, morgen werden wir alles erklären.“, sagte er schnell.
„Was?“, fragte ich verdattert. „Nein, ich will jetzt eine Erklärung. Sag mir, was hinter all dem steckt. Wieso ist Anthony so?“. Meine Stimme wurde unkontrollierbar lauter und energischer.
„Man, Jearinne!“, flehte er.
„Nenn mich nicht so!“.
„Jeara, kannst du nicht bis morgen warten?“.
„Denkst du ich kann nach dem ganzen die Augen zu machen?“, fragte ich ironisch.
„Ich bleibe über Nacht in der Nähe. Versprochen.“, sagte er sanfter. Seufzend schloss ich die Augen. Wie könnte ich wütend auf Charlie sein, wenn er erstens keine Schuld trug, er mich aus diesen großen blauen Augen ansah und sich ernsthafte Sorgen um mich machte.
„Da verstehst du mich falsch. Nicht dass ich wirklich Angst hätte, bloß... es ist nun mal so, dass...“, vor Verzweiflung, dass ich noch nicht mal einen anständigen Satz aus mir bringen konnte, hätte ich mir glatt die Haare raus gerissen. Aber lieber doch nicht. Mein Haaransatz schmerzte immer noch, genau an der Stelle, wo Anthony zu gepackt hatte. Weshalb war nur hierher gekommen? Und wo steckte Mason!
„Sieh mich an.“, verlangte Charlie leise und löste meine Hände von meinem T-Shirt. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich den Stoff wieder in den Fäusten hielt. Mit müden Augenlidern sah ich ihn an. Er strich mir über den Kopf, genau so wie es mein Vater früher bei mir gemacht hatte.
„Ich verstehe dich. Glaub mir.“, fing er langsam an, und als ich ihm widersprechen wollte, schüttelte er bestimmt den Kopf.
„Kannst du kurz die Klappe halten und mir zu hören?“. Ich nickte.
„Morgen wird alles wieder gut, versprochen. Wir werden mit dir, Marilyn und Phillip über alles reden. Trotzdem musst du auf das vorbereitet sein, was dich am Montag erwartet. Sonst kannst du diese Nacht schlafen. Ich bin in der Nähe, falls du was brauchen solltest.“.
Seine Worte gaben mir eine gewisse Beruhigung. Denn es erleichterte mich, ihn in der Nähe zu wissen.
„Wenn du dir sicher bist, nicht schlafen zu können, habe ich etwas für dich. Keine Tabletten, ich weiß wie sehr du sie hasst.“, sagte er und kramte in seiner Hosentasche eine große, goldene Münze heraus. Sie war etwas größer als meine Handfläche und mit vielen Mustern überseht. Im Großen und Ganzen war sie total schön und faszinierend, jedoch unheimlich und fremd zugleich.
„Du legst es irgendwo an deine Haut und es wird dir helfen, einzuschlafen. Falls du sie nicht brauchst, kannst du es woanders verstecken.“. Er drückte es mir in die Hand. Überrascht sah ich es an. Die Münze, ob es überhaupt eine wahr, wusste ich ja nicht, fühlte sich lebendig an. Als würde es leben und war warm und irgendwie ganz leicht.
„Was ist das?“, fragte ich flüsternd und betastete die Fläche der Münze. Charlie antwortete nicht.
„Morgen.“, seufzte ich und nickte verständnisvoll. Er lächelte mich bedauernd an, aber sein Blick hatte etwas anderes angenommen. Fast als ob er mich bewunderte. Fragend schüttelte ich den Kopf.
„Hätte nicht gedacht, dass du es so leicht nimmst.“, murmelte er.
„Liegt vielleicht daran, dass die alte Jearinne immer an Übernatürliches geglaubt hat und es in mir nicht ganz verloren gegangen ist.“, scherzte ich, aber es war die Wahrheit. Charlie schnalzte verneinend die Zunge.
„Ich denke, diese angebliche alte Jearinne hat nicht an Übernatürliches geglaubt. Du, Jeara, glaubst ständig an Unmögliches und Übernatürliches.“, mit diesen Worten stand er auf und lief auf die Tür zu. „Mason ist gleich da.“. Dann war er weg und ließ mich verstummt auf dem Sessel zurück und die Münze in meiner Hand ebenfalls. Nach fünf Minuten drehte sich ein Schlüssel im Schloss und die Eingangstür öffnete sich. Mason drückte sie leise zu und schält sich aus seiner Kapuzenjacke. Als er das Flurlicht anknipste und mich sah, blieb er erschrocken stehen. Schnell versteckte ich die Münze.
„Jearinne?“, fragte er überrascht und sah mich völlig alarmiert an.
„Wieso sind deine Klamotten und dein Gesicht so schwarz?“, fragte er.
„Du kennst doch die Gedanken der Teenager. Vor Langeweile machen sie dummes Zeug, und klettern den Schornstein aus Spaß hoch.“, sagte ich beiläufig und war mal wieder über meine Kunst des Lügens froh. Dann wieder auch nicht. Mason schüttele verwirrt den Kopf, aber glaubte mir. Warum sollte er nicht? Warum sollte ich denn sonst dort hochklettern, fragte er sich. Außerdem wusste er, dass ich früher sehr oft da hoch geklettert war, weil es mir wie ein Abenteuer vorkam, von Schwärze umhüllt zu sein und den Himmel über mir zu sehen. Oft hatte ich gespielt, ich wäre irgendwo ohne Erinnerungen aufgewacht, und dies wäre der einzige Ausgang.
„Wieso schläfst du nicht?“, fragte er und zog seine Schuhe aus. In der einen Hand hielt er seinen Pieper.
„Konnte nicht. Warst du im Krankenhaus?“, fragte ich. Mason nickte und schließlich sah ich seinen Gesichtsausdruck. Er war traurig.
„Was ist passiert? Einer deiner Patienten?“, fragte ich vorsichtig.
„Er ist vor einer halben Stunde gestorben, als ich von der Tankstelle nach Hause fuhr.“, sagte er erschöpft und knipste das Licht in der Küche aus. Mit hängenden Schultern ließ er sich auf das Sofa der Länge nach fallen. Er sagte mir ich solle in die Dusche und den Dreck abwaschen und später wieder runterkommen. Also lief ich in mein Zimmer, schloss mit klopfendem Herz mein Fenster und ging ins Bad. Nach einer halben Stunde zog ich mir frische Klamotten an und lief mit einem Handtuch wieder runter. Mason hatte die Vorhänge und die restlichen Lichter ausgeschaltet, sodass bloß die Lampen bei den Treppen Licht spendeten.
Ich öffnete den Schrank neben dem Kamin und nahm zwei Decken. Eine gab ich ihm und mit der anderen legte ich mich an das Ende seiner Füße und streckte mich aus. Unser Sofa hatte die Form eines Us. Ich lag auf der linken Seite und Mason in der Mitte. Meine Füße jedoch musste ich ein klein wenig anwinkeln, damit sie nicht in der Luft hingen.
„Das tut mir leid. Wegen deinem Patienten meine ich.“, flüsterte ich und wickelte mich in die warme Decke. Im Oktober wurde es dann doch kälter in unserem Haus und wir drehten ab und zu die Heizungen auf. Ich hatte mein Handtuch auf dem Kissen breit gelegt und sog den Duft vom frischen Weichspüler ein.
„Ich wusste, dass er stirbt. Bluterkrankheit weißt du. Die Verletzung war auf seiner Brust und ich musste immer darauf achten, dass sein Herz regelmäßig schlug. Heute jedoch hat die Familie beschlossen, die Geräte auszuschalten. Immerhin könnten wir die Haut nicht zusammen schweißen und ihn sein ganzes Leben mit Blut versorgen. Also... ich langweile dich, mit meinem Geplapper, oder?“, fragte er und stupste meine Schulter mit seinem Fuß an.
„Nein, hast du nie.“, flüsterte ich und kuschelte mich in den großen weichen Kissen ein, der unter meinem Kopf lag. Müdigkeit übermannte mich.
„Sag mal, schläfst du?“, hörte ich noch Mason warme Stimme und war weggetreten.

Etwas trug mich in den Armen. Ich roch leicht den Geruch von Michael und blinzelte müde. Wir gingen auf und ab. Dann fielen mir die Bilder an der Wand auf. Mein Bruder trug mich die Treppe hoch. Noch immer war ich in die Decke eingehüllt.
„Schlaf, meine Kleine.“, flüsterte er.
Das letzte woran ich mich erinnerte, war die Münze, die in meinem BH war. Sie schien, als ob sie mit meinem Herz im gleichen Rhythmus schlug.

Seit zwei Jahren war ich noch nie zu spät in der Schule.
Seit zwei Jahren hatte ich nicht durchgeschlafen.
Nach zwei Jahren, war ich mal wieder spät dran und in Hektik.
Nach zwei Jahren, hatte ich ohne Alpträume und Unruhen, die Nacht überstanden.
Mason war von seinem Zimmer ins Bad und wieder zurück gehuscht, er war zwar schon längst fertig gewesen, hatte aber noch seine graue Krawatte gesucht. Ihm jedoch war nicht aufgefallen, dass sie um sein Hals gelegen hatte. Nach einer Weile hatte ich sie ihm weggezogen und vor seinen Augen schwingen lassen.
„Wirst du alt?“, hatte ich gefragt.
Nun saßen Michael, Mason und ich am Esstisch und aßen hektisch unsere Sandwichs auf. Laut Masons Devise, kam ihm keiner mit leerem Magen aus dem Haus. Es war schon halb neun und somit fing der Unterricht in fünf Minuten an. Nach fünf Minuten saßen Mason und ich in seinem Auto und fuhren los. Mein Magen spielte wie verrückt, wenn ich an die Münze dachte, die ich Zuhause schnell in eine meiner Socken gesteckt hatte und nun in meinem Rucksack lag. Ich war schon ganz aufgeregt, die Seattlers zu sehen. Endlich würde ich die Wahrheit über sie erfahren und müsste nicht länger alles unterdrücken. Fast konnte ich an nichts anderes denken und checkte immer wieder mein Telefon, auf neue Nachrichten. Auf meinem Handy hatte ich vier Nachrichten gehabt heute Morgen. Eine von Mary, in der stand, ob es mir gut ginge und auch nicht durchdrehte. Da wusste ich, dass sie auch Bescheid wusste. Zwei von Phillip. Eine davon hatte ich bekommen, als ich noch geschlafen hatte. Darin fragte er mich bloß, ob ich schon schliefe und falls nicht, ob ich ihn nicht anklingeln könnte. Die andere vor zehn Minuten, in der er schrieb, wo ich bliebe. Die vierte von Ethan, in der er sich entschuldigte, dass er letzte Nacht, nicht gekommen war. Ich nahm es ihm nicht übel. Dafür hatte er auf Phil Acht gegeben. Mason trat auf das Gaspedal und wollte verhindern, dass ich zu sehr zu spät kam.
„Verdammt, ich habe nicht einmal meinen Wecker klingeln hören.“, murmelte er und als wir aus dem Haus gegangen waren, hatte ich ihn nicht darauf hinweisen wollen, dass er zwei verschiedene Socken trug.
„Du bist auch nur ein Mensch.“, sagte ich und erntete einen strengen Blick von ihm.
Schließlich rannte ich die Treppen in Mr Conklins Klasse rauf. Geschichte, das hieß, dass auch Anthony im Raum saß. Direkt gesagt, sogar neben mir. Mit klopfendem Herz klopfte ich an die Tür und konnte das Zittern in meinen Händen nicht beherrschen. Einer der Schüler machte sie auf und sah mich überrascht an. Er zog die Tür ganz auf und setzte sich wieder. Viele der Blicke waren auf mich gerichtet. Doch meiner auf den leeren Platz, wo ich immer saß. Anthony war nicht anwesend. Mr Conklin begrüßte mich und verlangte wie immer nach einer Antwort.
„Ich habe verschlafen. Entschuldigung.“, murmelte ich. Eine tiefe Enttäuschung machte sich in mir breit und ich konnte nicht fassen, dass ich nicht bedacht hatte, Anthony könnte die Stunde oder den ganzen Schultag schwänzen. Bloß fiel mir dann auf, dass die restlichen auch nicht da waren. Keine Spur von ihnen. Mit hängenden Schultern setzte ich mich hin und warf geistesabwesend einen Blick in die hinterste Reihe, wo Charlie, Samuel, Ethan, Cam und Jackson saßen. Keine Minute später landete ein Zettel auf meinem Pult. Scarlett, eine gefärbte Blondine, sah mich abwartend an.
Verwirrt nahm ich ihn in die Hand und faltete ihn unter dem Tisch leise auseinander.
Darauf waren sechs Schriften zu erkennen.
Sag nicht, du hast die sechs heißesten Jungs der Schule, verscheucht...-
man, du hast es aber faustdick hinter den Ohren, Walker
ehrlich, du hättest heute zu Hause bleiben können
wenn du nach dieser Stunde gleich abhaust, dann beweist du hiermit, was für ein Weichei du bist
du Miststück!
Haha, da hast du verdammt recht, Andy
Ich hielt den Zettel noch eine Minute in der Hand und zerknüllte ihn dann. Was sollte das bitte schön sein? Drohungen? Mit wild klopfendem Herz sah ich auf und begegnete Scarletts gehässigem Gesichtsausdruck. Genau fünf Leute sahen mich noch an. Andy, Murphys bester Freund, Caleb, Lucy und Bella. Auf jedem einzelnen Gesicht lag ein süffisantes Grinsen.
Ich schluckte trocken und schmiss den Zettel in mein Rucksack.
Nach dem Klingeln stand ich mit steifem Rücken und schob meine Sachen achtlos in meine Tasche. Sechs Blicke verfolgten mich, als ich aus der Tür ging, aber ich wartete vor den Schließfächern. Na, klar ich fragte mich wo die Seattlers waren, wo Anthony war, warum sie verdammt nochmal nicht im Unterricht waren, aber mein Stolz ließ es nicht zu, einfach abzuhauen.
„Ich wette, sie hat sich vom Acker gemacht.“, lachte eine hohe Stimme und daraufhin stolzierte Scarlett mit den anderen fünf aus dem Raum. Sie sahen mich zuerst überrascht und dann sarkastisch an. Lucy legte theatralisch die Hand auf Calebs Arm.
„Sieh das einer mal an. Walker, steht noch hier.“, lachte sie und klimperte mit den Wimpern. Ich verschränkte die Arme, damit man das Zittern in meinen Fingern nicht bemerkte. Trotzig hob ich mein Kinn. Andy schlenderte selbstsicher auf mich zu. Er wäre hübsch, mit seinen braunen Haaren und den dunkelblauen Augen, aber sein Charakter war wie ein bitterer Beigeschmack.
„Wenn du nicht so schön wärst, Walker, könnte ich dich glatt anspucken.“, grinste er, schloss die Augen und plötzlich kam ein gurgelndes Geräusch aus seinem Hals. Dann warf er den Kopf nach vorne. Ich zuckte zusammen und knallte an die Spindtür. Er hatte nur so getan, als würde er mich anspucken und nun stand ich als das kleine Häufchen Elend da. Die Leute um uns herum waren stehen geblieben. Manche der Blicke waren mitleidig und traurig, die anderen motiviert und triumphierend.
„Andy macht sich an dir doch nicht die Finger schmutzig.“, geigte Scarlett und pustete klischeehaft auf ihre Nägel. Bella lachte und andere stiegen mit ein. Na, los, mach den Mund auf!
„Ihr haltet euch wohl für sehr besonders.“, sagte ich laut genug. Andy kam drohend auf mich zu.
„Ich kann mich nicht daran erinnern, dass jemand tatsächlich den stinkenden, muffigen Mülldeckel aufgemacht hat.“, zischte er, wurde aber plötzlich am Kragen gepackt und nach hinten gezogen. Phillip stand über Andy und trat auf seine Hand. Sein Blick war mörderisch.
„Wehe du wagst es auch nur, sie anzufassen.“, fauchte er und ließ von Andy ab. Zwar war der Footballer um Längen stärker und breiter, aber jeder mochte Phil. Jeder achtete und respektierte ihn, weil er nie etwas Falsches tat oder sagte. Andy stand auf und zeigte drohend auf meinen besten Freund. Bedächtig machte ich ein paar Schritte auf Phil und legte meine Hand auf seinen Arm.
„Nur weil du es bist, Roys, nur weil du ein Kumpel bist.“, sagte er und zerrte die schockierte Scarlett mit sich. Daraufhin folgten den beiden auch gleich ihre Anhängsel. Der Tumult löste sich und bewegten sich endlich von der Stelle. Ich sah Phil mit großen Augen an. Man, ich liebte diesen Jungen. Er lächelte mich gequält an.
„Wenn ich könnte, würde ich dich vor der ganzen Welt beschützen.“, witzelte er und legte den Arm um meine Schultern. Zusammen liefen wir den Gang entlang, doch anstatt im unteren Bereich in den Gemeinschaftskundekurs zu gehen, dirigierte er mich die Treppen weiter runter.
„Phil, wohin gehen wir?“, fragte ich und zog die Striemen an meinem Rucksack enger.
„In die Bibliothek. Marilyn und ich erwarten genauso wie du, seit gestern Nacht Erklärungen.“.
Ich nickte nur überrumpelt und folgte ihm.
Als wir schließlich in der Bibliothek ankamen, war nur Mrs Lavender anwesend. Sie sah kurz freundlich auf und widmete sich wieder dem Computer zu. Phil führte mich weiter in die Richtung der Mythen, Sagen und Legenden. Schließlich nahm ich die durchdringenden Stimmen wahr. Charlies Kopf erschien zwischen zwei großen Regalen. Er winkte uns zu sich.
Die Seattlers und Marilyn standen vereinzelt vor dem langen sechs meterlangem Regal unter den großen Fenstern. Der streckte sich fünf große, parallel stehenden Bücherregalen entlang. Ich blieb wie angewurzelt stehen, als ich Anthony sah. Einen kurzen Moment blieb mir das Herz stehen bei seinem Anblick. Er hatte dunkle Augenringe und seine Haaren standen zerzaust in viele Richtungen. Durch den knallroten Pullover, stachen seine Augen weiter hervor. Sein Gesichtsausdruck war zum weinen. Komischerweise, konnte ich genau ablesen, was er fühlte. Schuld, Bedauern, Traurigkeit und das seltsamste von allen Hoffnungslosigkeit. Er hatte die Augenbrauen zusammen gezogen, die Stirn in Falten und die Mundwinkel nach unten gezogen.
„Alles in Ordnung, Jeara. Er macht dir nichts.“, hörte ich Samuel beschwichtigend sagen. Marilyn kam auf mich zu und hakte sich bei mir ein.
„Ist schon okay, Leute, mir geht es gut.“, sagte ich und nickte als Bekräftigung. Sie seufzten alle. Samuel stellte sich vor mich.
„Du brauchst uns nichts vor zu machen. Was gestern passiert ist, ist nichts was man auf die leichte Schulter nehmen kann.“, erwiderte er ruhig. Charlie stimmte ihm zu. Nur wusste ich nicht, wen ich ansehen sollte. Mary, Samuel, Charlie oder Anthony.
„Wir können auch woanders reden.“, sagte Charlie und wies mich auf sein Versprechen an.
„Nein, ich bleibe.“.
„Sieh mich an.“, sagte nun Marilyn. Meine beste Freundin hatte nach einer langen Zeit wieder den ganz besonderen sorgevollen Ausdruck. „Ich und Phil wissen Bescheid, wir können es dir auch erklären.“, sagte sie und ich merkte, wie sie sich etwas versteifte.
„Bitte, zieht es doch nicht in die Länge. Ich bleibe und damit warst das.“, sagte ich. Das Zittern in meinem linken Knie, versuchte ich zu überdecken, indem ich mein Gewicht darauf verlagerte. Ich wollte bleiben und mir alles anhören. Was auch immer mich in den nächsten Minuten erwarten sollte, ich wollte wissen, warum sie nur zu sechst waren. Warum sie keine Eltern hatten. Wie es dazu gekommen war, dass sie mit niemanden außer uns Kontakt hielten. Weshalb Samuel Gedanken lesen und konnte und Anthony rote Augen hatte. Nach ein paar Minuten saßen wir alle zusammen am Tisch. Mrs Lavender hatte uns die Bibliothek überlassen, als sie meinte, sie müsse sich im Lehrerzimmer um etwas kümmern. Ich saß zwischen Phil und Mary gegenüber mir befand sich Ethan zwischen Anthony und Cam. Jackson saß zwischen Mary und Charlie und Samuel neben Phil und Tony. Kurz war es still und ich wusste, dass mir alles überlassen war. Die Fragen. Ich atmete tief ein. „Wieso war keiner im Geschichtsunterricht?“.
„Wir waren hier und haben Marilyn und Phillip versucht das Wichtigste zu erklären.“, beantwortete Jackson die Frage. Ich nickte und warf Mary einen kuren Blick zu.
„Woher kommt ihr?“, fragte ich und richtete meine Augen auf Ethan.
„Vor kurzem waren wir noch in Seattle.“, sagte er. Ein Augenverdrehen konnte ich nicht vermeiden.
„Fangen wir anders an. Seid ihr Brüder?“.
„Nein, nur Cameron und Charlie.“, sagte Jackson. Die beiden Besagten nickten als Bestätigung.
„Fast hätte ich es mir gedacht.“, murmelte ich und schüttelte den Kopf, um ihn für Fragen frei zu bekommen.
„Wenn ihr keine Brüder seit, in welchem Zusammenhang steht ihr dann zueinander?“.
„Verewigte.“, purzelte es aus Charlie raus. Wie bitte?
„Was?“, fragte ich heiser und traute meinen Ohren nicht. „Ihr seid unsterblich?“.
„Quatsch, das ist doch Unsinn.“, sagte Jackson und Ethan nickte.
„Verewigte heißt bei uns, so wie es bei euch Gefährten heißt.“, erklärte Ethan.
„Verstehe ich nicht.“, flüsterte ich. Samuel ergriff das Wort.
„Unsere Eltern waren Verewigte, also Gefährten. Die meisten von unseren Eltern sind gestorben und in einem der Testamente steht, dass wir, Jackson, Ethan, Anthony, Cameron, Charlston und ich ein gemeinsames Leben teilen.“.
„Charlston?“, fragte ich und sah Charlie verwirrt an. Er wurde rot.
„Ich hasse diesen Namen.“, erwiderte er. „Deswegen nur Charlie.“. Mehr als ein Nicken brachte ich nicht zu Stande.
„Ist es zu persönlich, wenn ich frage, wessen Eltern noch leben?“.
„Diese Frage habe ich ihnen auch gestellt.“, gestand Marilyn.
„Nur noch Anthonys Vater, Cameron und Charlies Mutter und meine Eltern.“, sagte Ethan.
„Oh Gott.“, murmelte ich erschrocken und hielt mir die Hand vor dem Mund. Samuel und Jackson hatten auch keine Eltern mehr. „Das tut mir leid.“.
„Braucht es nicht. Wir haben sie nie kennen gelernt.“, sagte Samuel. Mary legte eine Hand auf Jacksons und dieser lächelte sie warm an.
„Willst du auch wissen, warum ich angeblich Gedanken lesen kann?“, wechselte Sam glücklicherweise das Thema. Ich nickte.
„Kann ich nicht. Nur sehe ich ab und zu Bilder und die dazu gehörigen Gefühle. Sowie letzte Nacht. Ich habe deine Sorge gespürt und wusste automatisch, dass du dir Gedanken um Marilyn und Phillip machst.“.
„Und meine Bedürfnisse?“.
„Dabei spüre ich den Geschmack auf meinem Mund, wenn du von Essen denkst.“.
„Er macht es aber nicht absichtlich, sie stürmen auf ihn ein, wenn er es nicht abstellt.. Er kann es auch wie einen Schalter umlegen. Nichts, was er nicht kontrollieren kann.“, mischte sich Charlie ein. Mein Blick huschte verräterisch zu Anthony, der stur auf den Tisch sah.
„Seid ihr unmenschlich?“, sprudelte es aus mir heraus. Alle hielten die Luft an. Ein Schuss ins Schwarze? Wartend sah ich sie an. Ethan räusperte sich und verschränkte die Hände ineinander und legte sie auf die Tischplatte.
„Sozusagen.“, sagte er leise. (Irgendwie hatte ich nichts anderes erwartet) Etwas unbeholfen schluckte ich und hätte glatt an meiner Spucke gehustet.
„Zum Beispiel?“, fragte ich heiser.
„Wir wurden nicht auf der Erde geboren.“, sagte Cam ruhig und hatte die Arm hinter seinem Kopf überkreuzt. Ihm schien das alles nicht sehr zu interessieren.
„Aliens.“, krächzte ich und sah Phil an. „Sie sind Aliens. Wie cool.“, sagte ich leise und schämte mich gleich deswegen. Ich erfuhr, dass sie nicht menschlich waren und das war meine Reaktion. Sehr elegant, Jearinne, sehr elegant. Samuel prustete los und die anderen grinsten. Anthony nicht.
„Nein, keine Aliens.“, meinte Samuel glucksend.
„Was dann?“, fragte ich. Stille.
„Crypnolien.“, kam es flüsternd von Anthony. Bei seiner Stimme horchte ich auf. Dann richtete er seine roten Augen auf mich. „Wir sind Crypnolien aus Merancyia.“.
Es wurde still am Tisch. Sogar das Ticken der Uhr und die Vögel draußen kamen nur gedämpft. Die wollten mich doch verarschen? Das fand ich nun wirklich nicht mehr lustig. Etwas sauer und misstrauisch stand ich auf.
„Wenn ihr hier irgendwas abzieht, dann gehe ich.“, sagte ich und wollte meinen Rucksack packen, aber meine beste Freundin hielt mich auf. In ihrem Blick lag etwas Ernstes und Flehendes.
„Das ist kein Witz, Jeara. Setz dich und hör zu.“.
„Zuhören? Woher soll ich bitte schön wissen, welche Erklärungen Lügen und welche die Wahrheit sind.“, zischte ich und befreite mich aus ihrem Griff. Cameron stand auch auf. Doch sein Blick war nicht flehend, sondern streng.
„Setz dich hin, oder du kannst deine verdammten Erklärungen vergessen.“, geigte er. Ich schluckte den Kloß runter und starrte zurück.
„Von mir aus.“, murmelte ich düster und ließ mich wieder auf den Stuhl fallen.
„Crypnolien also?“, vergewisserte ich mich leise und das Wort klang in meinem Mund und in meinen Ohren total fremd. Noch nie hatte ich davon gehört oder was darüber gelesen.
Außerdem sagte mir das Wort, oder diese Bezeichnung nichts. Was waren Crypnolien?
„Genau.“, sagte Ethan und sah seine Freunde skeptisch an.
„Am Anfang wusste ich auch nichts damit anzufangen.“, flüsterte mir Phil zu und zwinkerte. Aber ihm war die Anspannung und Misstrauen anzusehen.
„Was sind Crypnolien?“, fragte ich. Die Ironie schluckte ich hart herunter.
„Du sprichst es etwas falsch aus. Es wir Crüp-nolien ausgesprochen, nicht Crip-nolien.“, verbesserte mich Charlie.
„Aber was genau seid ihr? Ich habe noch nie von Crypnolien gehört.“.
„Weil es uns für Menschen auch nicht gibt.“, stellte Samuel klar.
„Werwölfe, Vampire und Hexen gibt es auch nicht, aber wir „Menschen“ kennen das.“, sagte ich und betonte das Wort Menschen. Mir ging es immer noch nicht in den Kopf rein, dass diese sechs Jungs, mit denen ich mich angefreundet hatte, nun keine menschlichen Lebewesen sein sollten.
„Na ja, es gab zwar Bücher und Rollen über unsere Herkunft, aber glaub mir, sie alle wurden vernichtet.“, sagte Samuel und kratzte auf dem Tisch herum.
„Gibt es denn andere die über euch Bescheid wissen, außer Marilyn, Phillip und mir?“.
„Natürlich. In jedem Kontinent, in vielen Ländern. Bloß ist es wie ein riesiges Feuerwerk, wenn man darüber reden sollte. Deswegen halten alle die Klappe, weil die Crypnolien in Merancyia davon Wind bekommen.“, sagte Ethan. Ich klappte den Mund auf.
„Ehm, und was machen wir bitte schön hier.“, flüsterte ich und automatisch suchten meine Augen die Bibliothek ab.
„Jearinne, zeig uns das, was du in deinem Rucksack hast.“, verlangte Charlie sanft. Mit klopfendem Herz nahm ich meine Socke aus dem Rucksack. Am Ende des Tisches hörte ich Anthony glucksen und die anderen grinsten wegen der Mickey-Mouse Socke. Ich nahm die Münze daraus und legte sie auf den Tisch. Marilyn und Phillip beugten sich beide runter um sie in Augenschein zu nehmen.
„Wunderschön.“, kam es von Mary.
„Was ist das?“, fragte Phil.
„Wir nennen es Tarsas.“, erklärte Samuel und nahm sie von der Platte um es in seine Jackentasche zu stecken. „Sie sind was ganz Besonderes und trüben den Schein.“.
„Heißt das, andere sehen nicht was ihr seid, und dass wir mit euch über Crypnolien reden?“, fragte ich.
„Genau.“, sagte Ethan wieder.
„Aber andere Menschen können die Tarsas auch besitzen oder?“.
„Ja, klar, aber man ist doch nicht so blöd und posaunt raus, dass man kein Mensch ist.“, erwiderte Jackson. „Es sind bestimmt Jahre her, dass Crypnolien noch in der Menschenwelt gelebt haben. Viele dieser wurden nach Merancyia verschleppt und man verweigerte ihnen die Zuflucht auf die Erde.“, erzählte er weiter.
„Ist man dann nicht auch hinter euch her?“, fragte ich.
„Deshalb sind sie hier.“, sagte Phil und Mary nickte.
„Verstehe und wer jagt euch?“.
„Karmoron.“, sagte Cameron und grinste mich süffisant an. „Auch noch nie gehört was?“.
„Sei nicht so gemein.“, sagte Samuel. Cam gluckste ironisch.
„Lieber Sam, woher willst du wissen, dass die uns nicht verpfeifen. Ich habe dir gesagt, dass wir abhauen müssen, aber nein, nur wegen einer fatalen Nacht, wollt ihr alles aufdecken.“, zischte er. Anscheinend war Cameron alles doch nicht egal.
„Wir würden euch niemals verpfeifen.“, sagte ich bestimmt. Das war ja die Höhe! Wir waren ihre Freunde und er traute uns das wirklich zu?
„Ich weiß, dass du es niemals verraten würdest oder Phil, aber die kleine Mary wird die Klappe nicht halten können.“, knurrte Cam. Jackson schoss hoch und packte seinen Freund am Kragen.
„Nimm das zurück.“, fauchte er.
„Bist du bescheuert? Nie und nimmer, könnte ich es wagen, euch zu verraten.“, rief Marilyn aufgebracht. Charlie stellte sich zwischen seinen Bruder und Jackson.
„Kommt schon, hört auf!“, bat er und schob Cam etwas weg. Cameron war muskulöser und etwas größer als Jackson, aber ich denke, er ließ es bleiben, weil Charlie ihn darum bat.
„Wie ein Mädchen sich zwischen einer deiner besten Freunde stellen kann.“, flüsterte Cameron sarkastisch.
„Tu nicht so, als hättest du keine Ahnung.“, sagte Jackson und setzte sich hin.
Nach einer Weile, beruhigten sie sich wieder.
„Wir werden alle schweigen.“, sagte ich noch einmal und schüttelte den Kopf in Cams Richtung, als er den Mund aufmachen wollte. Dann hatte ich noch eine wichtige Frage.
„Was ist Merancyia?“. Das Wort war schon oft gefallen, und ich wusste auch nicht, was Merancyia für eine Bedeutung hatte.
„Da wo wir herkommen. Unsere Heimat, unsere Welt.“, sagte Charlie.
„Wo ist das?“.
Die fünf sahen sich an. Bloß Anthony ließ immer noch den Kopf hängen. Ich fragte mich, was in ihm vor ging. Ob er über letzte Nacht dachte.
„Kann keiner sagen.“, meinte Ethan schulterzuckend. Hä?
„Er meint, wir wissen nicht, wo genau Merancyia ist. Es sind uns bloß Mittel und Wege bekannt, wie wir dort hin kommen.“, mischte sich Samuel ein.
„Eine andere Dimension?“, versuchte ich ihm auf die Sprünge zu helfen.
„Davon gehen wir auch aus.“, sagte Jackson und es schien ihm unbehaglich.
„Ich wusste nie, was eine Dimension sein sollte.“, redete Mary weiter. Kurz erklärten Jackson und Charlie ihr die Bedeutung einer Dimension und währenddessen fiel mein Blick auf Anthony. Seine Finger spielten mit einem Faden an seinem Pullover.
„Reicht dir das für jetzt. Ich denke wir sollten den Rest nicht hier besprechen.“, sagte Samuel später und stand auf. „Am besten gehen wir noch vor dieser Stunde zu uns nach Hause. Geht das klar für euch?“, fragte er Mary, Phil und mich. Wir drei nickten.
„Gut, dann sollten wir keine zwanzig Minuten warten, bis es zur nächsten Stunde klingelt.
„Also schwänzen wir den restlichen Schultag?“, fragte Mary und die anderen nickten.
Wir packten unsere Sachen. Jeder ging voraus und ich bedeutete meinen besten Freunden los zu gehen. Samuel sah sicherheitshalber zu Anthony und mit einem Nicken schickte ich ihn auch weg. Bloß Anthony und ich standen noch zwischen den großen Bücherregalen.
„Lass uns gehen.“, flüsterte er, bewegte sich jedoch nicht von der Stelle. Abwartend sah ich ihn an, aber er näherte sich mir kein Stück und blieb wie angewurzelt mit zwei Metern Abstand von mir stehen. Den Kopf hob er nicht und die Hände ließ er in den Hosentaschen.
„Ich wollte mit dir reden.“, sagte ich und kam einen Schritt auf ihn zu. Die Angst von gestern war wie weggeblasen und ich wusste, er würde mir nichts tun. Anthony wich zurück und verkrampfte sich.
„Bitte, Jearinne.“, murmelte er und hielt sich am langen Regal hinter sich fest.
„Anthony, sieh mich an.“, bat ich ihn. Er schüttelte den Kopf. Die letzten Meter überbrückte ich und stellte mich vor ihm. Dieser Junge, der mir gestern angeblich etwas antun wollte, zog ergeben die Luft ein. „Ich weiß du tust mir nichts.“.
„Hast du denn keine Angst vor mir?“, fragte er leise und sah mich vorsichtig an. Diese roten Augen, könnten mir unmöglich Angst machen.
„Nein. Jetzt nicht.“.
„Was ist wenn ich wieder wie gestern werde?“.
„Wie gesagt, jetzt habe ich keine Angst.“.
Anthony seufzte und hob die Hand, aber nahm sie gleich wieder zurück.
„Du bist verrückt, Jeara Walker.“, lachte er halbherzig. Schulterzucken meinerseits. Anthony presste nickend die Lippen aufeinander, atmete tief ein und hob die Schultern.
„Okay, im Moment, da musst du auch keine haben.“, versicherte er. Fragend hob ich die Hand. Er verstand mich, nahm sie zögernd in seine und zog mich sanft mit sich.
Ich hatte das Gefühl, ihm entgegen zu kommen, weil er selbst Angst vor sich hatte. Irgendwie konnte ich mir denken, welche Schuldgefühle er auf sich lastete, aber um ihm klarzumachen, dass er sich nicht quälen müsste, ließ ich mir meinen Schock von gestern nicht anmerken.
Mir war nicht bewusst, wie sehr ich mich an ihn gewöhnt hatte und wie sehr ich seine Anwesenheit, in so einer kurzen Zeit genoss. Jeder würde mich für bescheuert halten, wenn sie wüssten, wie er eigentlich zu mir war. Dies jedoch war nun nicht mehr wichtig. Wir liefen zusammen Hand in Hand raus, doch diesmal war ich diejenige, die Anthony quasi mitschleppte. Der Jeep stand etwas abseits des Parkplatzes und die anderen warteten schon auf uns. Marilyn und Phillips Blick hing an unseren Händen, aber sie schienen nicht wirklich überrascht und nur besorgt.
„Alles okay, mein Freund?“, fragte Ethan ruhig. Tony nickte. „Dann los.“.
„Passen wir da alle rein?“, fragte Marilyn.
„Wenn nicht, können ein paar der Seattlers ja fliegen. Oder? Wenn nicht, seid ihr ja voll die billigen Superhelden.“. Wer sonst außer Phil, hätte diese in jenem Augenblick gesagt. Auf jeden Fall fingen wir an zu lachen.
Somit fiel von vielen die letzte Anspannung und das letzte Misstrauen. Schließlich quetschten wir uns rein, indem Mary auf Jackson Schoß rutschte, ich auf Phillips und Charlie auf Anthonys. Vorne gab es zwei Beifahrersitze und die wurden von Cam und Ethan besetzt. Uns entgingen nicht die Blicke die uns aus den Fenstern der Schule nachfolgten, als wir wegfuhren. Die Fahrt verlief relativ ruhig und entspannt. Manchmal warf Sam mir Blicke vom Rückspiegel zu.
Es war nicht zu übersehen, dass die sechs mit so einer Reaktion nicht gerechnet hatten. Ich gab es zu, dass ich in diesem Moment noch skeptisch und misstrauisch war, aber wenn erst alles in mich gesickert war, würde ich ausrasten. Sollte ich alleine sein, dann würde das Haareraufen, Händezittern und Hektischlaufen einsetzen. Aber jetzt versuchte ich die Kontrolle zu wahren und nicht zu lachen, weil die Situation ziemlich absurd war. Ein Kopf, zwei Augen, eine Nase, ein Mund, zwei Ohren, ein Hals, Haare, ein Körper mit zwei Armen und Beinen. Zehn Zehen und Finger. Trotzdem kein Mensch.
Was war mit den Organen und ihrem Blut? Ob es grün war? Ich erinnerte mich an die alte Serie Roswell zurück, in der dieser Alien Max grünes Blut hatte, weil die dumme Liz so neugierig gewesen ist und es getestet hat. Aber sie hatte auch nicht überreagiert und war nicht ausgerastet, als sie erfuhr dass Max, sein Schwester Isabelle und Michael Aliens waren. Vielleicht lag das daran, dass Roswell für seine angeblichen Ufoabstürze berühmt sein sollte und sie somit auch an Außerirdische geglaubt hatte.
„Wir sind keine Aliens, überhaupt nicht zu vergleichen, Jeara.“, sagte Samuel belustigt.
Mit roten Wangen senkte ich den Kopf. Nach einer Weile tat mir der Hintern weh. Ich saß so unbequem.
„Bin ich dir zu schwer?“, fragte ich Phillip.
„Ja, wieso?“.
„Na ja, dann könnte ich...“, fing ich an, aber wusste nicht wie ich den Satz zu Ende sprechen sollte.
„Was könntest du? Ah ja, dich hinlegen und schön deine Beine ausbreiten.“, erwiderte Phil. „Spaß, du bist nicht schwer. Es geht schon.“.
„Außerdem liegt es nicht immer am Gewicht, wenn einer auf deinem Schoß sitzt. Auch Magersüchtige hinterlassen eine schmerzhafte Taubheit.“, erklärte Marilyn und nickte zur ihre Bekräftigung. Ich grinste über ihre Aussage.
Schließlich fuhren wir den langen steinigen Weg zu ihrem Haus hinauf. Er lag in der Nähe der Hügel und war umgeben von Bäumen. Wir gern würde ich hier leben wollen und es erinnerte mich auch noch so sehr, an das Ferienhaus in New Hampshire, wo meine Eltern und ich zusammen Urlaub gemacht hatten. Die Aufregung verschwand ein wenig, als meine Gedanken zu meiner Mutter und meinem Vater schweiften. Puh, schwere Gedanken, sehr, sehr schwere Gedanken. Ich schüttelte den Kopf und sah aus dem Fenster. Immer wenn ich an sie dachte und die Gedanken und Erinnerungen zu schwer wurden, sah ich mir Bäume, den Himmel oder etwas Grünes an. Auf einer seltsamen Art und Weise beruhigte mich das. Von einem Moment auf den anderen fühlte sich mein Blut wie Beton an. Als würde es nicht mehr ungehindert durch meine Adern fließen.
Eine Hand legte sich auf mein Knie. Anthony sah mich fragend an. Ich nickte benommen unter seiner Berührung.
Endlich erschien das große, einladende Haus vor uns. Samuel parkte den Wagen und erleichtert kletterten wir raus, als uns die stickige Luft im Auto unerträglich wurde.
„Also, am besten wir essen etwas und besprechen dann alles im Wohnzimmer.“, riet Jackson und streckte sich. Die restlichen stimmten zu. Jedoch hielt mich Anthony fest, als ich den anderen in das Haus folgen wollte. Sein Züge waren zwar weicher, aber trotzdem etwas härter.
„Zuerst will ich dir meine Lage erklären.“, sagte er. „Wenn du willst kann Phillip währenddessen bei dir bleiben.“.
„Ich kann auch.“, pflichtete Mary bei. Mir war nicht entgangen, dass meine beste Freundin Anthony nicht mehr so sehr wie am Anfang zu hassen. Die ängstlichen Blicke jedoch, die sie ihm warf, waren nicht zu vertuschen.
„Jetzt übertreibt doch nicht.“, sagte ich und lief auf die Steinmauer zu, die zehn Meter weiter weg stand. Zuerst redeten sie durcheinander, was ich aber von hinten nicht verstehen konnte. Schließlich verschwanden alle im Haus und Anthony steuerte meine Richtung zu. Im Gegensatz zu ihm saß ich bereits auf der Mauer und ließ meine Beine baumeln. Er zog sich hoch und setzte sich im Schneidersitz neben mich, sodass er mich direkt ansah und ich machte es ihm nach. Vor dem Sprechen atmete ein paar Male tief ein und aus und erwiderte dann meinen Blick. Ein Schmunzeln stahl sich auf seine Lippen.
„Ich erwarte immer noch, dass du hektisch aufstehst, ausrastest, uns anschließend als verrückt bezeichnest und abhaust.“, sagte er und versuchte das Gesagt mit einem milden Lächeln herunter zu spielen.
„Das sollte wohl so sein, aber ich verspüre keineswegs den Wunsch einfach weg zu rennen.“.
„Wieso nicht? Du hast es sogar mit lauter Verrückten zu tun! Wir sagen dir, wir sind keine Menschen und du nimmst es an dich als ob wir gerade gesagt hätten, wir wären allesamt schwul.“, lachte er humorlos. „Vielleicht hätte dich das sogar mehr überrascht.“.
„Red keinen Unsinn. Denkst du mir ist nicht aufgefallen, dass ihr von irgendwas Fremden umgeben wart?“, wies ich ihn auf mancherlei Dinge an, die sie nicht gut verheimlichen konnten.
„Als aller erstes hätte man dir Kontaktlinsen geben müssen.“. Irgendwie schien ihn das zu verletzen, deswegen versuchte ich meine Aussage schnell klar zu stellen. „Damit meine ich, dass es sowieso nicht normal ist, von Natur aus rote Augen zu haben. Besonders nicht, dass sich das Rot bewegt.“. Anthony bekam große – aufgepasst – Augen.
„Das ist dir aufgefallen?“, fragte er verblüfft.
„Natürlich. Besonders nach der Bibliothek und immer wenn du mir so tief in die Augen schaust und nicht wegsiehst, da...“, sofort verstummte ich, wobei mir meine Worte zu spät klar wurden. Anthony lächelte liebevoll.
„Das denke ich auch immer über dich. In deinen blauen Meeren könnte sich ein Crypnolium wie ich verlieren.“, flüsterte er. Vielleicht hätte ich wegen des neuen Wortes zusammen zucken sollen. War aber nicht der Fall. Keiner unterbrach das Gestarre.
„Wolltest du mir nicht erklären, was es mit deiner Lage auf sich hat?“, fragte ich leise und wendete letztendlich doch den Blick ab. Tony räusperte sich. Hör auf ihn auf seinem Spitznamen zu nennen, das klingt so unromantisch, sagte eine Stimme in mir, die einfach die Klappe halten sollte.
„Also, zuerst musst du mir eine Frage beantworten.“. Zur Zustimmung gab ich ihm ein Nicken.
„Glaubst du an Dämonen?“.
„Was?“, entwich es mir und anders als ihn verdattert anstarren konnte mein Gesicht nicht.
„Und?“.
„Ehm, j-jein. Irgendwie schon und irgendwie auch nicht.“, stammelte ich. „Wieso?“.
„Weil ich von einem besessen bin.“, sagte Anthony und ließ – wortwörtlich – eine Bombe platzen.
Zuerst verschluckte ich mich an meiner Spucke, weil ich scharf die Luft einsog. Dann nahm ein Hustanfall von mir Besitz und schüttelte mich. Anthony schlug mir unbeholfen auf den Rücken und streichelte meinen Kopf. Als mir jedoch der Moment einfiel, in dem einer seiner Hände meine Haare gepackt hatte, wich ich erschrocken zurück und wäre ohne Anthony Reflex von der Mauer gefallen. Nach dem ich mich in eine sichere Position hinsetzte, nahm Anthony seine Hände von mir und hielt sie in die Höhe, als ob ich mit einer Pistole auf ihn zeigen würde.
„Entschuldigung.“, krächzte ich und hielt meine Hand an meine Brust, daher mein Herz vor Schock raste. „Nur, ei-ein Dämon? Besitz v-von dir?“, stotterte ich wie eine Dumme Kuh.
„Darf ich dich anfassen? Nur kurz?“, fragte Anthony ruhig und fast hätte ich ihn angebrüllt, warum verdammt nochmal das jetzt so wichtig war, aber das umfassten seine Hände meine Wangen.
Mit halbgeöffneten Lippen sah ich ihn gezwungen an. Anthony atmete leicht und unsere Gesichter waren nur eine Handlänge voneinander entfernt. Ich konnte seinen schönen, sinnlichen Duft riechen, als ob er mich in eine warme Decke einhüllte. Nach langer Zeit erschien wieder diese rote Aura und umgab ihn. Diese Röte flammte wie ein knallrotes, gleichzeitig unnatürlich und natürliches Feuer auf. Eine solche Wärme hatte ich niemanden anderen oder etwas anderes ausstrahlen sehen. Anthony atmete in tiefen Zügen, während ich ihn nur gebannt ansehen konnte.
„So beruhige ich mich immer. Einfach Jearinne ansehen.“, flüsterte er, dabei streichelten seine Hände meine Wangen. „Und jetzt hör einfach auf das, was ich dir zu sagen habe, ja?“.
„Okay.“, erwiderte ich leise. Ganz langsam lösten sich seine Hände von meinem Gesicht. Die Aura und das Feuer in seinen Augen blieb. In diesem Moment fiel mir jedoch etwas ganz eigenartiges auf. An seinem Hals sah ich etwas rotes in Streifen leuchten. Fasziniert lehnte ich mich etwas nach vorne und betrachtete seinen Hals. Anthony begriff und gab mir freien Blick auf seine Schlagadern, die von innen ganz leicht rot zu leuchten schienen.
„Was ist das?“, fragte ich und verrenkte mir selbst fast den Hals.
„Du verstehst es nur, wenn du mir zu hörst.“, sagte Anthony.
„Ist es verständlich, wenn ich sage, dass mir das \'Hör mir zu\' heute total auf den Senkel geht?“.





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