Voiceless

Autor: Emiliemia
veröffentlicht am: 04.10.2013


So, ich habe nach langem Hin und Her beschlossen meine erste Geschichte hier zu veröffentlichen. Wenn ihr mir Feedback (egal ob positiv oder negativ) geben würdet, würde mich das sehr freuen :)
Viel Spaß!


VOICELESS


- Summer -

Ich sitze auf der Rückbank in unserem voll bepackten Auto. Dad fährt und erzählt irgendeinen Witz, über den Mum lachen muss. Sie dreht sich zu mir um und wirft mir ein strahlendes Lächeln zu, das ich nur zu gerne erwidere. Weder sie, noch Dad, noch ich haben eine Ahnung wo wir hinfahren, aber das kümmert mich nicht. Für mich bedeutet Zuhause zu sein, bei meinen Eltern zu sein, egal wo ich bin. Ich kuschele mich in die weichen Lederbezüge. Aus den Lautsprechern ertönen die Beatles und wir haben alle Fenster herunter gekurbelt. Der Wind fährt durch meine Haare. Ich schließe, immer noch mit breiten Lächeln, die Augen und genieße die Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Die Luft riecht nach Frische, Freiheit, Leben.
Zuhause, denke ich voller Glückseligkeit. Ich bin Zuhause.

»Summer. Summer! Hörst du mir überhaupt zu?«
Ich schrecke auf. Ich sitze vorne. Auf dem Beifahrersitz. Die Sitzbezüge aus Leder sind verschwunden und durch normale, kratzende Autostoffbezüge ersetzt worden. Und aus den Lautsprechern ertönen auch nicht die Beatles, sondern irgendein klassisches Musikstück vom einem Kulturradiosender. Ich hasse Klassik. Die Luft ist stickig; es stinkt nach Neuem.
Und es regnet in Strömen. Die Sonne hat sich seit Monaten irgendwo hinter den Wolken verkrochen und sich nicht blicken lassen.
Ich muss mich richtig zusammenreißen um nicht loszuheulen. Das hier, ist die Realität. Das eben, nur eine Erinnerung. Anfangs süß und schön und am Ende bitter und hässlich.
»Summer, ich rede mit dir!«, und das ist auch nicht die weiche, sanfte Stimme meiner Mum, sondern die schrille und genervte meiner Tante Lauren.
»Das geht so nicht weiter! Streng dich ein bisschen mehr an! Hör auf der Vergangenheit nachzuhängen, du kannst sie nicht ändern!«
Tante Lauren ist die unmenschliche Schwester meines Dads. Ich wohne bei ihr seit genau vier Monaten und zwei Wochen, seit heute. Jeder Tag ist eine Qual, eine unerträglich langsame Folter.
Nur allzu gut, lässt sie mich spüren, wie sehr es ihr gegen den Strich geht, dass ich bei ihr wohne. Doch sie hätte bei der Entscheidung im Gerichtssaal einfach Nein sagen können, als sie gefragt wurde, ob sie mich bei ihr aufnimmt. Stattdessen hat sie Ja gesagt. Den Grund dafür, werde ich wohl nie erfahren.
Am liebsten will ich einfach nur in Ruhe gelassen werden. Doch Tante Lauren versteht das nicht. Sie zwingt mich in eine Schule zu gehen, obwohl sie weiß, dass Mum und Dad mich zu Hause unterrichtet haben. Sie redet mit mir, versucht mich ständig zum Antworten zu zwingen. Das nervt einfach nur. Wenn sie spricht, schalte ich ab. Es interessiert mich nicht, was sie sagt.
Früher habe ich oft Tante Lauren und Dad verglichen. Obwohl sie Geschwister sind, könnten sie eigentlich nicht unterschiedlicher sein. Tante Lauren ist energisch, Dad sanft. Tante Lauren geht mit Scheuklappen auf den Augen durch die Gegend, Dad war offen für alles und jeden. Tante Lauren ist kalt und herzlos, Dad war warm und schenkte jedem seine Liebe.
Ich habe sie geliebt, meine Eltern. Ich tue es immer noch. Mehr als alles andere.
Seit vier Monaten ist der Schmerz mein täglicher Begleiter, ein unangenehmer Gefährte, den man vergeblich versucht loszuwerden. Ein leeres Loch in der Brust. Seit vier Monaten habe ich aufgehört zu sprechen, aufgehört mit meinen Mitmenschen zu kommunizieren. Seit vier Monaten ist mein Gesichtsausdruck derselbe: ausdruckslos.
So etwas nennt man Mutismus. Eine »Krankheit«. Ausgelöst durch ein Schockerlebnis.
Dr. Hawn sagt, dass ganz klar der Autounfall, bei dem meine Eltern ums Leben gekommen sind und ich wie durch ein Wunder überlebt habe, mein Schockerlebnis ist. Er sagt, ich bin traumatisiert, dass es normal ist, dass ich so reagiere.
Ich habe im Internet gelesen, dass es mehrere Sorten von Mutismus gibt, doch nicht alle sind heilbar. Dr. Hawn jedoch, ist der festen Meinung, dass man alle Arten von Mutismus heilen kann.
Na dann, viel Glück.
Denn ich habe nicht vor in nächster Zeit irgendeinen Laut von mir zu geben, selbst wenn ich es wollte, ich kann es nicht. Es ist wie eine Blockade.
»Summer, ich will Dr. Hawn nicht schon wieder sagen müssen, dass du dich seit der letzten Sitzung kein Stückchen verändert hast! Also streng dich an, gib dir mehr Mühe!«, dringt Tante Laurens Stimme in mein Bewusstsein. Sie hat den Motor ausgemacht und sich zu mir gedreht. Es herrscht eisige Stille, man hört nur den Regen, der auf das Autodach trommelt. Ihre grauen Augen durchbohren mich förmlich und mir wird eiskalt. Ich mag es nicht, wenn man mich so ansieht.
»Komm.«, sagt sie, schnappt sich ihren Regenschirm aus dem Handschuhfach und stießt energisch die Fahrertür auf. Ich will nicht unter ihren Schirm. Ich will nichts mit dieser Frau teilen, geschweige denn gemeinsam haben. Also gehe ich im Laufschritt durch den Regen zur weißen Eingangstür. Mir egal, ob ich nass werde.
Ich drücke hastig die Klingel, wo daneben DR. HAWN - THERAPEUT steht, und spüre Tante Laurens missbilligenden Blick in meinem Nacken, doch sie sagt nichts. Sie schürzt nur die Lippen.
Ich werde mich nie so verhalten, wie du es willst, denke ich. Ich werde immer anders sein, genauso wie Dad, genauso wie Mum. Ich bin deren Tochter, nicht deine.

»Guten Tag, Mrs. Hampton. Hallo Summer.«
Dr. Hawns Händedruck ist fest. Sehr fest. Meine Finger pochen noch minutenlang danach.
»Nehmen Sie Platz, Mrs. Hampton. Summer, setze dich bitte wieder auf die Couch wie das vorige Mal.«
Ich gehorche und nehme auf der Couch Platz. Leder. Vorsichtig streiche ich mit meiner Hand über den glatten, kalten Bezug. Es ist nicht dasselbe. Unser Leder im Auto war weich und warm gewesen.
Dr. Hawn ist ein Therapeut. Dass er mein Therapeut ist, will ich nicht einsehen. Jedoch ist er ein netter und einfühlsamer Mann, der erste Mensch, für den ich seit dem Unfall ein klein wenig Sympathie hege. In der Gegenwart von Tante Lauren ist er sachlich und kalt, doch kaum hat er sie hinaus geschickt (ein weiterer Pluspunkt!), wird er ganz warm und freundlich.
»Mrs. Hampton, hat Summer sich seit der letzten Sitzung anders verhalten? Und sei es auch nur eine geringe, minimale Veränderung.«, fragt er im sachlichen Tonfall.
»Nein, Dr. Hawn. Absolut gar nichts. Es ist nur noch schlimmer geworden, besonders die Träume. Sie gibt keinen einzigen Laut von sich, doch sie bewegt sich stärker und heftiger, wenn sie träumt.«
Sie redet über mich, als ob ich nicht da wäre. Aber ich bin da. Und ich höre genau zu.
Die Träume sind das Schlimmste. Es ist jedes Mal dasselbe, jedes Mal durchlebe ich den Unfall, höre die Schreie, sehe das ganze Blut, die schmerzverzerrten Gesichter meiner Eltern.
»Ich verstehe.«, Dr. Hawns Stimme ist immer noch sachlich, ohne eine Spur von Mitleid oder Mitgefühl für Tante Lauren und er notiert das, was sie gesagt hat in eine blaue Mappe. Meine Mappe. Wo alles drin steht, was Dr. Hawn hat über mich erfahren können. »Nun, dann werde ich jetzt mit der heutigen Sitzung beginnen. Mrs. Hampton, wenn ich Sie hinaus begleiten darf...«, er erhebt sich, Tante Lauren ebenfalls und begleitet sie zur Tür. »Sie können sich ins Wartezimmer setzen oder Summer um 17 Uhr wieder hier abholen.«
Das hat er die letzten zwei Male auch schon gesagt. Tante Lauren nickt und entgegnet: »Ich hole sie ab.«
Keinen einzigen Blick hat sie für mich übrig, als sie das der Höflichkeit halber sagt.
Die Tür fällt ins Schloss und der Knall lässt mich zusammenzucken.
Mit einem Knall hat der Unfall auch begonnen...
Ich versteife mich, als die Erinnerung sich vor mein inneres Auge schiebt. Meine Atmung wird flacher.
»Lass es nicht zu, Summer.«, höre ich Dr. Hawns tiefe Stimme neben mir. Ich spüre wie er mir etwas rundes, kaltes in die Hand drückt. »Hier, konzentriere dich darauf.«
Rund, kühl. Länglich.
Ich höre die Schreie meiner Eltern. Meinen eigenen Schrei.
Ich stoße einen Luftschwall aus.
Konzentriere dich.
Es ist ein Stift.
Ein Kugelschreiber.
Ich blinzele. Dr. Hawn hockt vor mir, die Stirn durchfurcht mit tiefen Sorgenfalten.
»Gut gemacht.«, sagt er. Allmählich beruhige ich mich wieder, meine Atmung geht wieder normal.
»Also.«, er steht auf und setzt sich neben mich. »Wie ich sehe, hat sich das Verhältnis zwischen dir und deiner Tante nicht gebessert.«
Ich erwidere nichts, ich nicke oder schüttele nicht mit dem Kopf. Ich sehe ihn nur an. Er redet einfach weiter, so als hätte ich irgendetwas gesagt oder getan. Und ich finde, dass genau DAS ihn so sympathisch macht. Er wartet nicht auf eine Antwort, er versucht mich nicht zum Antworten zu zwingen.
»Deine Eltern waren anders als sie, richtig?«, vermutet er und sieht mich an. Ja, denke ich. Doch mein Gesicht bleibt ausdruckslos.
»Manchmal lässt Mutismus sich heilen, in dem man viel Zeit mit Menschen verbringt, die einem nahe sind, die man liebt.*«, er macht eine bedeutungsvolle Kunstpause und ich ahne, dass jetzt etwas Besonderes kommen muss. »Deswegen habe ich mir gedacht, dass du – nennen wir es mal, Urlaub – machen solltest. Allein. Zwei Wochen lang ohne deine Tante, ohne irgendjemanden. Mein Ziel ist es, dass du ein wenig Zeit für dich bekommst und dich selbst wiederfindest. Auch das kann ein wenig zur Heilung des Mutismus\' beitragen. Ich habe auch schon einen passenden Ort für dich ausgesucht, in den Bergen, mit einem großen See. Es wird dir gefallen.«
Ist das sein Ernst? Er will mich einfach so in den Urlaub schicken? Um mich selbst wiederzufinden?
»In dem Ort habe ich eine Kontaktperson, die einmal pro Tag kurz bei dir vorbei schauen wird, um zu sicherzugehen, ob es dir gut geht und alles in Ordnung ist. Und Summer, ich möchte, dass du egal wie, auf irgendeine Art und Weise, Kontakt mit den Menschen knüpfst. Zumindest ein bisschen.«
Dr. Hawn sagt es so ernst, dass ich es ihm einfach glauben muss. Ich werde also tatsächlich in den Urlaub geschickt. Für zwei Wochen. Eine Freikarte für das Paradies. Denn jeder Ort auf Erden, wo es Tante Lauren nicht gibt, ist ein Paradies.

* BERMERKUNG: Diese Heilungsmethode ist völlig frei erfunden. Ich gebe zu, ich habe nicht gründlich genug recherchiert um herauszufinden, ob es diese wirklich gibt. Aber ich brauche diese 'Methode' für meine Geschichte.





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