Son of a Preacher Man - Teil 16

Autor: Maggie
veröffentlicht am: 09.09.2014


Den nächsten Morgen stehe ich Punkt zehn Uhr vor der hübsch dekorierten Wohnungstür meiner Oma. Ich bin bewaffnet mit einem Billig-Prosecco, den ich in unserem Vorratsschrank entdeckt habe. Weder Justus noch Gordon wussten, wem der gehören könnte. Das sind die Vorteile einer WG – manchmal tauchen Sachen aus dem Nichts auf und bleiben für immer ein Rätsel. Mir kam der unedle Tropfen ziemlich gelegen und meine biertrinkenden Mitbewohner sind wohl froh, dass der Fusel aus dem Haus ist. Und ich kann Omi bestechen.

Jene ist auf alle Fälle zu Hause, da brauch ich mich nicht ankündigen. Im Gegensatz zum Rest der Familie ist sie mit mir wohl die Einzige, die nicht zum sonntäglichen Gottesdienst geht. Meine Eltern und meine Großeltern väterlicherseits, die meine Existenz ignorieren, seitdem sie vor zwei Jahren bei einer Familienfeier meine Tattoos entdeckt haben, befinden sich auf Garantie vor Pfarrer Kasperskis Pforten und werden anschließend gemeinsam dem Sonntagsbraten frönen.
Auf diese Tradition verzichten Oma Traudchen und ich mal ganz unhöflich.

Ich klingele also und recht fix steht meine Lieblingsoma im Türrahmen und beäugt mich leicht kritisch. Sie weiß ganz genau, was ich hier will. Mir schlottern die Knie und bei ihrem Anblick steigt ein sehr merkwürdiges Gefühl meine Kehle hoch. Keine Ahnung, was da mit mir passiert. Omis Gesichtsausdruck wechselt blitzschnell und sie sieht mich so wissend an, dass bei mir alle Messen gelesen sind. Dicke Krokodilstränen brennen mir in den Augen und wollen wie bei einem Sommergewitter in heftigen Strömen auf meine Wangen tropfen. Ich halte sie tapfer zurück.

„Komm rein Schätzchen“, sagt sie mitfühlend.
Ich schnappe nach Luft und presse, während ich die Flasche hochhalte, leicht krächzend hervor: „Ist es noch zu früh für Sekt?“
„Es ist nie zu früh für Sekt“, grinst sie und nimmt mich in den Arm.


Ich erzähle ihr also die ganze Geschichte. Eingebettet zwischen Kissen mit Katzenstickereien, Häkeldeckchen und dem ganz typischen Geruch nach Omi, eine Mischung aus Kölnisch Wasser und Pfannkuchen. Und sie hört zu. Nickt hin und wieder, schlürft ihr Alkoholbräuschen und verkneift ihre faltigen Lippen entweder mitfühlend oder aufgebracht. An der Stelle mit der Fehlgeburt, die ich so grob und unspektakulär wie möglich gestalte, reagiert sie gerade richtig. Sie drückt nur kurz mal meinen Arm und muntert mich mit ihren alten, klugen Augen dazu auf, einfach weiter zu erzählen. Und das tue ich. Ich rede mich regelrecht in Rage. Ich kann kaum noch aufhören zu plappern, weil ich das dringende Bedürfnis spüre, mich einfach mal so richtig auszukotzen. Und Omi muss herhalten. Erst Caro und Johann, nun meine Oma. Was bin ich schlecht.

Ich rede von meinem Abgang aus Berlin, der Zombie-Zeit hier in Weimar und ende mit den verstörenden Avancen des Pfarrersjungen.
Irgendwann bin ich fertig und fühle mich wie ein ausgeleierter Ballon, der nach einem laut quietschenden und wild umherflatternden Luftausgehen nun ziemlich schlaff auf dem Boden liegt. Und ein merkwürdig weiches Gefühl breitet sich in mir aus. Erleichterung?

„Sag Anna“, meint Omi, nachdem sie die Fülle an Information mit einem großen Schluck Sekt begossen hat, „Vermisst du Chris?“
„Natürlich“, antworte ich ohne nachzudenken.
„Ich meine nicht den alten Chris. Ich meine den Jungen, der dich in deinen dunkelsten Stunden verlassen hat. Der neue Chris, der auf seinem Erfolgswölkchen fortgeflogen ist und dich, ohne mit der Wimper zu zucken, abserviert hat, weil du nicht mehr in sein Leben passt“, sagt sie mächtig unverblümt und deutlich.

Ich muss erst mal schlucken. „Er hat mich nicht einfach so abserviert“, revoltiere ich kleinlaut.
„Hat er sich denn mal gemeldet, seitdem du hier bist? Hattet ihr irgendwie Kontakt?“, fragt sie scharfsinnig und nippt ziemlich selbstgefällig an ihrem Kunstkristall-Glas.
„Nein.“ Meine Stimme klingt verdächtig dünn.
Omi zieht wissend ihre Augenbrauen hoch. „Es scheint ihn dann wohl hart getroffen zu haben, dass du plötzlich weg warst.“

Der Sarkasmus ist unüberhörbar. Und natürlich hat sie recht. Ein weiterer Fakt der an meinem Ego gekratzt hat, seit ich wieder in Weimar war. Ganz tief in meinem überheblichen Selbst war die Gewissheit, dass Chris sich schon melden würde. Die irre Hoffnung, dass er ein schlechtes Gewissen bekommt, sich Sorgen macht. Aber da war Nichts. Keine Nachricht, kein Lebenszeichen, keine Frage, ob ich überhaupt noch lebe. Einfach Nichts. Noch deutlicher kann man einem Menschen wohl nicht zu verstehen geben, dass er gefälligst da zu bleiben hat, wo der Pfeffer wächst.

„Ich glaube Chris war über deinen stillschweigenden Auszug ziemlich erleichtert“, fügt Omi dann noch hinzu. „Er hat dich nicht mehr geliebt, Spätzchen. So hart wie es klingt.“
Meine Lippen schieben sich trotzig hervor. „Das glaube ich nicht.“
Ich will es nicht glauben. In meinem Weltbild war unsere Liebe unerschütterlich. Verdammt, wir waren doch wie füreinander geschaffen. In unserer Beziehung war das Gleichgewicht das Entscheidende. Es gab keinen, der den anderen mehr geliebt hat. Eine Waage, die beharrlich ausgeglichen vor sich her schwingt.

„Was glaubst du nicht?“, fragt sie direkt. „Natürlich liebt er dich nicht mehr. Das steht außer Frage.“
Na Danke. Noch deutlicher geht es nicht. Omas Worte sind manchmal wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Sie nimmt echt kein Blatt vor den Mund, sehr unangenehm. Insbesondere für mich, da ich doch gern mal sehr uneinsichtig bin. Im Prinzip bin ich ja ähnlich, ich sag auch gern gerade heraus was ich denke. Nur wenn man selbst mit der eigenen Schärfe konfrontiert wird, weiß man erst mal, wie sich die andern fühlen.

„Und ich glaube auch nicht, dass du ihn noch so abgöttisch liebst“, geht sie noch einen Schritt weiter. Ich sehe sie mit Missfallen an. Will ich das hören?
„Du klammerst dich an dein altes Leben und das ist unüberwindbar mit Chris verbunden. Aber du willst nur die guten Zeiten zurück. Denk mal an das Ende zwischen euch! Hast du überhaupt um ihn gekämpft?“
„Ähm...“, sage ich wenig eloquent, doch Omi rattert ihren Vortrag unbeeindruckt herunter:

„Du hast dich einfach aus dem Staub gemacht, weil du wusstest, es ist aussichtslos. Und das heißt für mich, du hast ihn nicht genug geliebt. Vielleicht wolltest du das, hast es dir eingeredet, aber du hast es nicht getan und du tust es nicht. Wenn dein Opa und ich Probleme hatten, dann haben wir darüber geredet und haben sie geklärt. Da blieb nichts unausgesprochen im Raum stehen und keiner ist wortlos einfach davon gelaufen. Wenn man sich liebt, dann tut man so etwas nicht. Man arbeitet in einer Beziehung, gemeinsam und ständig. Doch ihr beide habt nichts für eure Liebe getan. Ihr habt in eurer jugendlichen Leichtigkeit doch keine Ahnung davon, wie man eine Partnerschaft pflegt. Und das ist jetzt die Konsequenz.“

Ich zwinkere perplex. Auch Omi kann sich in Rage reden.
„Ich glaub es reicht jetzt mit Sekt“, sage ich behutsam und will ihr die Blubberprause entziehen.
„Nein!“, wehrt sie sich bestimmt. „Anna, du kleiner Sturkopf. Ich weiß, du willst das nicht hören. Doch ich habe nun mal Recht. Punkt. Chris war deine Jugendliebe und während ihr gemeinsam erwachsen geworden seid, habt ihr euch in unterschiedliche Richtungen entwickelt, ohne dabei Rücksicht auf den anderen zu nehmen. Aber das ist eure Generation. Wahrscheinlich kannst du nicht einmal was dafür. Hör auf in Selbstmitleid zu baden, schnapp dir diesen süßen Pfarrerssohn und werde wieder glücklich. Das ist mein letztes Wort. Amen.“

Den Besuch bei meiner Oma habe ich mir definitiv anders vorgestellt. Ich bin davon ausgegangen, dass sie mich bemitleiden wird, mir ihre zarte Schulter zum Anlehnen schenkt und wir gemeinsam ein paar Tränen vergießen. Stattdessen hat sie mich nach ihrem Monolog ziemlich unsanft hinaus geschmissen und sich unter dem Deckmantel versteckt, dass sie nach dem ganzen Alkohol am Morgen ein Nickerchen bräuchte.

Nun bin ich auf dem Heimweg mit einem Berg voll emotionaler Hausaufgaben, die sie mir unbewusst aufgegeben hat. Mit Samthandschuhen hat sie mich jedenfalls nicht angefasst. Eher mit kratzigen, Reißnagel-verzierten Folterhandschuhen. Schubs! Und ab ins kalte Wasser. Und dann lässt Omi mir nicht mal die Möglichkeit mit ihr über alles zu diskutieren. Echt frustrierend. Ich wollte tatsächlich noch ganz gern eine Weile bemitleidet werden. Doch die Frau hat das Thema mit einer Selbstverständlichkeit abgehakt, die mich schwindeln lässt. Ich bin ein Kopfmensch und zerrede mit mir selbst gern alles in Grund und Boden. Nun komme ich einmal aus mir raus, springe über meinen Schatten und was passiert? Ich werde abgespeist. Das wird mir eine Lehre sein.

Was mir auch eine Lehre sein wird, stelle ich in dem Moment fest, als ich vor meiner WG stehe und im Hausflur verdächtig große Treter liegen, die mir unbehaglich bekannt vorkommen. Noch an der Tür werde ich vom fleißigen Gordon abgefangen, dem ich bestimmt nie wieder die Erlaubnis zum Einlass von Gästen gebe.
„Du hast Besuch!“, erklärt er bedeutungsschwer. Er wirkt mit sich und seiner Position als Türsteher mehr als zufrieden. „Der Sohn vom Pfarrer“, zwinkert er noch. Will er jetzt gelobt werden?
Ich schiebe mich an ihm vorbei, lasse gar nicht erst Nervosität in meiner Magengegend zu und stürme in mein Zimmer. Der Tag hat beschissen angefangen, warum sollte er dann auch nicht so weiter gehen?

Noah sitzt auf meinem Bett und liest etwas. Hat es sich ja ziemlich bequem gemacht, der Lümmel. Bei meinem hastigen Einstürmen schreckt er kurz zusammen, dann packt er das Buch zur Seite, presst leicht nervös seine Lippen aufeinander und sieht mich erwartungsvoll an.
„Hey“, murmelt er.
„Hey“, gebe ich reserviert zurück. „Was machst du hier?“
Er hebt demonstrativ das Buch hoch. „Lesen“, und grinst widerlich charmant. In der Hand hält er mein komplett zerfleddertes Exemplar von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Mein Lieblingsbuch, meine Bibel. Ungelogen mindestens hundert Mal gelesen und der Grund, warum ich nie mit Drogen angefangen habe.

„Warum gerade das?“, frage ich neugierig. Gut, viel Auswahl hat er nicht. In meiner Jugend, bevor ich cool wurde, war ich ein richtiger Bücherwurm. Die meisten Bücher stehen bei meinen Eltern oder ich habe sie Caro geschenkt. Nur einige Auserwählte durften bleiben.
„Du liest es zur Zeit“, stellt er fest.
„Wie kommst du darauf?“
„Es sind Lesezeichen drin.“ Lauter kleine, knallbunte Post-Its, die ich zum markieren meiner Lieblingsstellen benutzt habe.
„Die sind da immer drin“, gebe ich zur Antwort.

Er sitzt immer noch recht entspannt auf meinem Bett und ich stehe ihm, um Distanz zu bewahren, mit Abstand gegenüber. Meine Arme sind verschränkt. Verdammt, was will er hier?
„Warum denn gerade diese Stellen?“, fragt er dreister Weise.
„Das geht dich nichts an“, fauche ich, gehe auf ihn zu und schnappe mir mein kleines Heiligtum. Für mich steht in diesem Buch nicht die bewegende Geschichte der Protagonistin im Vordergrund, sondern eher der Schauplatz des ganzen Dramas. Berlin. Ungeschminkt und auf den Punkt gebracht. Die Stadt, die ich so vermisse und das Leben, das damit zusammen hängt. Albern, total. Aber in dieser Lektüre wird Berlin so hässlich und gleichzeitig glitzernd dargestellt, dass ich mich zu Hause fühle. Und irgendwie ist es, als würde ich ein Stück meines alten Lebens zurück gewinnen, wenn Christiane über den Kurfürstendamm schlendert oder am Bahnhof auf Freier wartet. Ziemlich krank. Aber da versuche ich drüber hinwegzusehen.

Noah beobachtet mich, während ich das Buch behutsam zurück in das kleine Regal stelle. Als ich mich ihm wieder zuwende, setzt er sich auf den Bettrand und klopft demonstrativ mit der Hand auf den freien Platz neben sich. „Komm her“, sagt er.
Ich schüttle mit dem Kopf. Die Nähe würde ich nicht ertragen. Es macht mich eh schon nervös, ihn hier so in meinem privaten Reich zu sehen. Auch noch auf dem Bett. Und ich glaube, das dunkle Shirt, dass er trägt, ist doch eine Nummer zu klein. Jedenfalls sitzt es hauteng. Hau ab, Kasperski!

„Ich schwöre, ich mache nichts“, meint er aufrichtig und hebt zur Untermauerung seiner Worte die Hände. Skeptisch mustere ich ihn. Man, ist er niedlich. Diese Locken haben einen so vorteilhaften Schnitt, dass sie sein echt hübsches Gesicht gut zur Geltung bringen und seine Augen strahlen in diesem moosgrünen Ton. Er soll mich nicht so ansehen. Das hält doch keiner aus.
Ich schüttle wieder mit dem Kopf.

Noah seufzt. „Gut, dann nicht.“ Er erhebt sich und kommt auf mich zu. Instinktiv weiche ich vor ihm zurück. Mein Körper weiß noch zu genau was das letzte Mal passiert ist, als wir uns zu nah gegenüber standen. „Noah!“, warne ich.
Er blickt leicht verdutzt, dann bleibt er stehen, holt tief Luft und sagt: „Es tut mir leid! Es tut mir so sehr leid, dass ich dich einfach geküsst habe. Nicht wegen des Kusses, der war toll -“ Ein leichtes Grinsen zieht sich über sein Gesicht. „- sondern weil ich dich so überrumpelt habe. Das war anstandslos, moralisch höchst verwerflich und sieht mir überhaupt nicht ähnlich.“
Ich nicke leicht überrascht. „Ja.“ Mehr fällt mir dazu nicht ein.

„Ich bin ein widerlicher Sittenstrolch“, stellt er fest.
Wieder nicke ich. Immer noch sprachlos.
„Ich sollte mich schämen, eine Dame so unehrenhaft in Bedrängnis gebracht zu haben.“
„Ja“, gebe ich ihm wieder recht. Meine Mundwinkel zucken.
„Meine Verhalten glich einem unsozialisiertem Halbaffen mit zu viel Testosteron im Blut“, meint er ernst. Ich beiße mir in die Innenseite meiner Wange, um nicht zu lachen und mache ein strenges Gesicht.

„Man sollte mich teeren, federn und zur Belustigung des Pöbels auf dem Marktplatz zur Schau stellen“, gibt er überzeugend zum Besten. Seine Lippen bleiben zu einer geraden Linie verzogen, doch aus seinen Augen blitzt der Schalk.
„Hier gibt es keinen Marktplatz mehr“, sage ich trocken. „Und geteert und gefedert wurde das letzte Mal vor über 500 Jahren oder so.“
„Gut, dann denk dir eine gerechte Strafe für mein Verhalten aus.“
„Ich hab Hunger. Lade mich bei McDonalds ein.“


Nun sitzen wir also beim goldenen M und blicken uns leicht schüchtern über Pommes, Cheeseburger und Getränke-Pappbecher an. Die Fahrt war stillschweigend. Noah hat übrigens kein eigenes Auto, was ihn mir noch sympathischer macht. Mittellos und sexy.
Ich habe mir Gordons altersschwachen Nissan-Irgendwas ausgeliehen und bin gefahren. Selbst ist die Frau. Ich habe ja noch die Hoffnung, dass mir meine Eltern irgendwann mal wieder einen fahrbaren Untersatz zur Verfügung stellen. Den nigelnagelneuen Golf nach meinem Abitur haben sie aus Trotz verkauft, als ich nach Berlin bin. Aber das tut gerade nichts zur Sache. Ein Gespräch steht aus.

„Wir sollten es langsam angehen“, stelle ich fest.
Noah verschluckt sich fast an einer labberigen Pommes. „Was?“, keucht er.
„Das wir uns mögen ist wohl nicht zu leugnen“, seufze ich. „Aber ich will dich nicht ausnutzen, nur weil du mich von meinem Liebeskummer ablenken kannst.“
„Ist es nur das?“, fragt er ungläubig. „Ich lenke dich lediglich von deinem Exfreund ab?“
„Nein“, gestehe ich. „Da ist mehr. Aber ich kann es momentan noch nicht eindeutig zuordnen.“
„Deine Reaktion am Dienstag war ziemlich deutlich“, grinst er leicht überheblich.
Meine Augen verengen sich zu Schlitzen. „Wir waren uns einig, dass du mich da überrumpelt hast?“ Kann doch nicht sein. Nimmt er das als Argument. Scheiß Schlitzohr.

„Trotzdem kannst du nicht leugnen, dass es dir gefallen hat“, bleibt er auf der Spur.
Ich schnaube. „Noah!“, und empöre mich „Ich mache dir hier gerade Zugeständnisse, was mir nicht leicht fällt. Ich sage dir, ich brauche Zeit. Und ich bin so ehrlich und gestehe dir meine Gefühle in jeglicher Hinsicht. Und du bedrängst mich schon wieder!“ , echauffiere ich mich.

Ist doch wahr! Da ist es nämlich wieder, dieses Überrannt-werden vom Pfarrersjungen. Er scheint immer ganz genau zu wissen, was das Beste für mich ist. Momentan er selbst. Verrückt!

„Ich bedränge dich doch nicht. Und was heißt, du gestehst deine Gefühle in jeglicher Hinsicht? Ich weiß überhaupt nicht, was du fühlst. Du bist wie ein zugeknöpfter Anorak mit extra dickem Schal und Wollmütze. Absolut undurchschaubar. Also klammere ich mich an das, was überzeugend war. Und das war nun mal die Reaktion auf meinen Kuss. Das war Leidenschaft, Anna. Ich glaube nicht, dass du in diesem Moment an Chris gedacht hast!“

Ich schnappe nach Luft. Wie dreist ist das denn bitte? Kurzzeitig bin ich versucht ihm den lauwarmen Cheeseburger ins Gesicht zu schmeißen und dann die wässrige Fanta über den Lockenkopf zu schütten. Aber nein! Man schmeißt nicht mit Essen um sich. Und ich bin auch ganz ruhig. Durchatmen. Noah ist sturer, als erwartet. Gepaart mit meinem Temperament endet das hier in einer Katastrophe. Ich muss einen kühlen Kopf bewahren.

„Kannst du bitte einfach akzeptieren, dass ich momentan emotional nicht verfügbar bin?“, frage ich verzweifelt. „Ich habe noch ein paar Dinge zu verdauen, muss mich neu orientieren, hier einleben. Da will ich mich nicht gleich in ein Abenteuer stürzen. Kleine Schritte, Noah. Mehr verlange ich nicht.“

Das war doch richtig vernünftig. Und wenn er das nicht kapiert, dann ist ihm nicht zu helfen. Jetzt sieht er mich an, studiert meine Miene und versucht wohl herauszufinden, wie ernst mir das Gesagte ist. Sehr ernst! Ich halte seinem Blick stand. Seine schönen Augen bohren sich in meine. Ziemlich intensiv der Blick, geht mir fast durch Mark und Bein. Um ehrlich zu sein, durchzieht ein heftiges Kribbeln meine Magengegend. Verflucht!

„Okay“, presst er schließlich hervor und ich atme erleichtert aus. „Wir gehen Minischritte. Aber tu mir einen Gefallen. Sei ehrlich zu mir und versuch nicht deine Gefühle zu unterdrücken. Wenn man etwas füreinander empfindet, ist das etwas sehr schönes. Ich habe mich in dich verliebt Anna und ich stehe dazu. Ich bin geduldig-...“
Pfff! Ich schnaube. Als ob! Er redet weiter:
„- Lass uns Zeit miteinander verbringen. Lass uns, uns richtig kennenlernen. Und wir sollten auch über unserer beider Vergangenheit reden.“

„Ich weiß nicht, ob ich das will“, murmle ich unsicher.
„Was willst du nicht?“, fragt er einfühlsam.
„Über Chris reden“, sage ich unbehaglich. Will ich wirklich nicht.
„Nicht jetzt. Irgendwann. Wenn du so weit bist, okay?“
Und dann sehe ich, wie seine Hand über den Tisch wandert und meine einfach so umschließt. Er hält sie fest. Man, ist seine Hand warm. Verdammt. Das fühlt sich gut an.


Status Quo ist nun vorerst: Noah und ich versuchen uns ganz konservativ-christlich näher zu kommen. Hat auch was, so ein unschuldiges Kennenlernen. Gleichzeitig komme ich mir vor wie eine erzkatholische Jungfrau, was absolut und überhaupt nicht zu mir passt. Nichtsdestotrotz bin ich mit der Situation ganz zufrieden und widerlich kleine Schmetterlinge flattern durch meine Magengegend, wenn ich an ihn denke. Verrückt. Noch verrückter ist, dass ich tatsächlich nur noch sehr wenig an Chris denke. Ich bin mir nicht sicher, ob das ein klassischer Verdrängungsmechanismus ist oder ob ich tatsächlich im Begriff bin, mich in den Pfarrersjungen zu verlieben und somit ganz einfach und praktisch über meine Jugendliebe hinweg komme. Fakt ist jedenfalls: Das Leben wird irgendwie erträglicher. Ich verbarrikadiere mich nicht mehr in meinem Zimmer, ich suhle mich nicht mehr in meinem Kummer und ich kann mir schon eine Stunde nach dem morgendlichen Aufstehen ein Lächeln abringen. Persönlicher Rekord.

Nach unserem romantischen Lunch sind wir noch an den Schwanensee gefahren und haben es uns unter einer Weide gemütlich gemacht. War ja schönes Wetter. Wir haben sehr lange gequatscht, uns permanent mit Sicherheitsabstand angeschmachtet und kleine Disney-Vögelchen sind über unseren Köpfen umhergeflattert. Fehlte nur noch, dass sie zu einem kitschigen Lied angestimmt hätten. Es war ein fürchterlich, triefend schmalziger Nachmittag. Natürlich musste Gordon die Idylle zerstören, weil er nach mehreren Stunden dann doch mal sein Auto wieder haben wollte. Ein letzter Witz von Noah über meine Qualitäten den Menschen in meinem Umfeld Autos zu entwenden und der Tag endete mit einer schüchternen Verabschiedung inklusive langem, intensivem Blick aus seinen Moosglubschern, den ich sowas von verfallen bin.

Mittlerweile ist es Freitag Nachmittag. Ich war die Woche über so vorbildlich, dass ich mich selbst kaum wieder erkenne. Nicht nur das, ich fürchte mich fast ein bisschen vor der neuen Anna. Sie ist anders. Sie ist so normal.

Am Montag bin ich unwahrscheinlich früh aufgestanden, da ich in letzter Zeit eh immer sehr ausgeschlafen bin. Ich habe mein Zimmer geputzt, war mit Gordon und Justus einkaufen und wir haben später gemeinsam gekocht. Gruselig.
Dienstag war ich arbeiten. Später hat mich Noah auf ein Eis eingeladen und mich anschließend Händchen-haltend nach Hause gebracht. Abends habe ich wieder Zeit mit meinen Mitbewohnern verbracht. Schaurig.
Mittwoch hatte ich frei und habe Caro von der Arbeit abgeholt, nachdem ich mich vormittags noch eingehender mit dem Studiengang beschäftigt habe. Ich warte noch immer auf die Zusage. Caro hat mich dazu überredet, Brautmodengeschäfte abzuklappern. Es war gespenstig.
Donnerstag arbeiten, Abendessen bei Noah, ganz keusch, zusammen mit Kai und Elsa, die mich noch immer wie ein Wesen von einem anderen Planeten betrachten, sowie Caro und Johann. Eine intensive Umarmung von Noah zum Abschied. Um halb zehn lag ich im Bett. Unheimlich.

Heute war ich wieder arbeiten. Ich bin jetzt ganz offiziell Petras kleiner Liebling. Kathrin gehe ich aus dem Weg, auch wenn sie sich immer auffällig in meiner Nähe rumdrückt. Kleines penetrantes Etwas. Ich versuche ihre Existenz weitestgehend zu ignorieren. Aber um ehrlich zu sein gefällt es mir nicht, dass mein toller Noah mit dieser Tusse liiert war. So ein Kind. Die wusste seine schräge aufdringliche Art doch gar nicht zu schätzen. Wirklich. Noahs Übermutter-Verhalten hat doch auch was für sich. Er meint es ja immer nur gut, der kleine Irre. Ohje, ich klinge verliebt.

Jetzt sitze ich jedenfalls in meinem Zimmer und hecke einen Plan aus. Ein kleiner Racheplan sozusagen. Für meine neuen Freunde. Ich wurde für heute Abend schon wieder zu einer Kirchensache eingeladen und langsam wächst mir mein frommes Leben über den Kopf. So ganz umgepolt bin ich dann doch nicht. Außerdem möchte ich mal wieder tanzen gehen.
Also schließe ich mich der Veranstaltung heute Abend an, unter der Bedingung, dass wir den Samstag an einem Ort meiner Wahl verbringen werden. Das Versprechen habe ich Caro, Johann und Noah abgerungen, die mich sehr unsicher und höchst skeptisch bei dem Deal betrachtet haben. Ob der Rest sich anschließen wird, also Kai, Elsa und Jasmin, ist mir Schnuppe. Gordon und Justus sind auch schon vorgewarnt und haben zögerlich zugesagt, weil ich versprochen habe, weiterhin so handzahm zu bleiben, wie die vergangene Woche.

Also geht es nachher dann zu so einer Sache mit den Konfirmanden. Kein großes Ding. Irgendwas im Gemeindezentrum. Die wollen die kleinen geistlichen Anwärter wahrscheinlich einfach nur von der Straße fern halten oder so. Und das zum Freitag Abend. Ich weiß nicht, wen ich mehr bemitleiden soll. Mich oder die Konfirmanden.

Aber ich werde ja entschädigt. Erstmal weiß ich, dass Noah heute Abend wieder singen wird und mir flattert jetzt schon das Herz. Und dann habe ich mir fest vorgenommen, meine lieben Freunde auf das morgige Beatrausch-Festival zu schleppen. Ja, genau. Das Techno-Ding, zu dem mich David eingeladen hat!
Ich bin mir sicher, ich werde sie zutiefst schockieren. Und gleichzeitig sorge ich für den nächsten Schritt in meinem nun nicht mehr ganz so holprigem Weg der Besserung. Meine Erkenntnis ist nämlich: Ich muss mich der Vergangenheit stellen. Und warum nicht das schlechte mit dem angenehmen verbinden? Ich weiß, es klingt im ersten Moment nach einem wahnwitzigen Plan mit dem bitteren Beigeschmack der Erinnerung an meine letzte, fixe Idee, spontan auf ein Festival zu fahren. Doch diesmal wird alles anders. Diesmal bin ich vorbereitet.

Ich habe mich intensiv mit dem Gedanken beschäftigt und bin zu dem Schluss gekommen, dass der Reiz, meinen süßen Noah und den weltfremden Rest, mit auf eine Techno-Party zu zerren, viel größer sein wird, als der traurige Gedanke, dass dies wohl nicht mehr meine Welt ist. Nun bin ich ja auch nicht mehr so verblendet und bilde mir ein, ich könnte so weiter machen, wie in Berlin. Nur eben ohne Chris. Man war ich stur. Nein, ich fühle mich auf dem besten Weg der Heilung und ziehe nach dieser schön-schnarchigen Woche nun den radikalen Weg vor. Es wird mehr oder weniger ein therapeutischer Besuch werden. So, als würde man einem Menschen mit einer Spinnenphobie die Tarantel direkt auf die Hand setzen. Attacke und Heilung. Ein sehr passender Vergleich. Nur dass ich mir dabei noch einen Spaß draus machen kann, indem ich meine neue Sippschaft schocke.
Ich bin sehr zuversichtlich.


Punkt sieben Uhr klingelt es an der Wohnungstür. Caro holt mich ab und wir fahren zum Gemeindezentrum. Hier war ich auch schon ewig nicht mehr. Und ich erkenne meine neuesten Wochenendbekanntschaften, die sich in einem Stuhlkreis eingefunden haben. Zu meinem größten Schreck steht in der Mitte Noahs Vater, Pfarrer Kasperski. Er sieht aus wie eh und je. Halbglatze, Jesuslatschen und so ein muffiger Mantel. Ich hoffe Noah kommt nicht nach ihm.
Eben jener schnappt mich überraschend von der Seite, haucht mir einen Kuss auf die Wange und zerrt mich auch gleich zu seinem Erzeuger.

„Na Papa, kennst du die junge Dame noch?“, fragt er seinen Vater.
Dieser nickt erfreut. „Natürlich. Anna. Lange nicht gesehen. Wie geht es dir?“
Seine Augen sind so durchdringend, als könnte er mir direkt in die Seele blicken. Ich fühle mich ein wenig unbehaglich. Außerdem hält mich Noah noch immer am Arm fest. Wir sehen aus wie ein Paar, so dicht, wie er neben mir steht. Ich spüre die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf uns gerichtet.

„Gut.“, presse ich hervor.
Eine gefühlte Ewigkeit sieht mich Noahs Vater an. Er hat einen wissend-nachsichtigen Blick, der so unangenehm ist, wie ein Stein im Schuh. Man will ihn schleunigst loswerden.
Irgendwann flüstert er beinah: „Es ist schön, dass du hier bist.“
Als hätte ich zurückgefunden, auf den rechten Pfad. Pah!
Naja, mir soll es recht sein. Noah führt mich aus dem Stuhlkreis heraus und wir nehmen am Rand Platz, wo auch Caro, Johann und der Rest sitzen. Jasmin nickt mir sogar nett zu. Und Noah hält noch immer meine Hand, während wir uns nebeneinander auf die Stühle fallen lassen.
Er grinst mich so aufmunternd und zufrieden an, dass ich nur dümmlich zurück lächeln kann.

In diesem Moment eröffnet der Pfarrer den Abend. Er labert irgendwas von Gemeinsamkeit und Zusammenhalt. Ich höre gar nicht hin. Ich genieße einfach nur Noahs warme Hand und den dazugehörigen Daumen, der ganz langsam mein Gelenk streichelt. Der alte Lustmolch. Das ist zu süß. Während ich mich in meiner rosa Wolke fläze, blicke ich durch den Raum, bis ich vier Augenpaaren begegne, die direkt aus der Hölle zu kommen scheinen. Die zwei Konfirmandinnen, die so scharf auf Noah waren. Sie blitzen mich argwöhnisch an, fehlt nur noch, dass eine mit dem Zeigefinger das Kehle-Durchschneiden-Zeichen macht. Die sind krachsauer. Ich lächle sie lieblich an und bringe sie damit leicht aus dem Konzept.

Noah drückt meine Hand, ich wende mich ihm zu und er sieht mich fragend an. Er hat mich wohl beobachtet. Ich grinse nur. Wir sind uns ziemlich nah, sitzen im unbeleuchteten Hintergrund des Raumes und der Pfarrer plappert in einer Tour.
Die Verführung ist zu groß.
Was riecht er auch so verdammt gut und was sieht er auch so unverschämt lecker aus? Sein süßer Blick, das leichte Grinsen. Ich weiß, es ist unangebracht, aber ich muss es tun.

Ganz langsam beuge ich mich vor, sehe noch die Überraschung in seinen Augen, dann berühren auch schon meine Lippen seinen leicht geöffneten Mund. Ich gebe ihm einen ganz sanften, sehr zarten Kuss, den ich dafür umso länger hinauszögere. Unsere Lippen sind eine kleine Ewigkeit miteinander verschmolzen. Und Noah scheint es sichtlich zu genießen. Denn anstatt wegzuzucken oder nur schnell, leicht beschämt ob der unangebrachten Umgebung, den Kuss zu erwiedern, hält er ganz still, seine Hand streicht meinen Arm hoch und er zieht mich ein winziges Stück näher.
Ich weiß nicht wie lange wir in dieser intimen und dennoch unschuldigen Position verharren. Unsere Vereinigung ist zu schön, um sie zu unterbrechen. Das sanfte Berühren der Lippen ist eine subtile und einfache Geste, die trotzdem meinen ganzen Körper in Spannung bringt.

Ein Räuspern holt mich zurück an Ort und Stelle. Rasch lösen wir uns voneinander und ich schaue mich um. Alle, wirklich alle, starren uns an. Da ist freudige Überraschung bei Caro und Johann, perplexes Augenzwinkern bei Jasmin, bösartige Verwünschungen bei den zwei Mädchen und albernes Kichern von den anderen Minderjährigen. Doch größtenteils sehe ich aufgeregtes Grinsen. Noahs Vater guckt sehr nachsichtig, leicht schmunzelnd. Dann sagt er:

„Und wie Petrus in der Bibel sprach: Vor allen Dingen habt untereinander beständige Liebe; denn die Liebe deckt auch der Sünden Menge.“



Kommentar:


Ich mal wieder, nach langer Pause. Das Kapitel war schon lange fertig, doch irgendwie wollte ich es immer nochmal überarbeiten, was ich jetzt letztendlich doch nicht getan hab.
Ich befinde mich momentan in einem Zustand höchst geistiger Verwirrung, da mich der Stress auf Arbeit bösartig von der Seite gepackt hat und einfach nicht loslassen will. Gott sei Dank geht es nächste Woche in Urlaub ^^
Viele Grüße
Maggie





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