Son of a Preacher Man - Teil 6

Autor: Maggie
veröffentlicht am: 23.05.2013


Teil 6 ist da, druckfrisch und gefühlte hundert Mal überarbeitet.
Ich hoffe, er gefällt euch, inklusive Rückblende, ich habe mir wirklich Mühe gegeben ^^ Maggie♥





Teil 6

Schon gemütlich, so ein Lagerfeuer. Hätte ich ja nicht erwartet.
Schlimm nur, dass Noah gleich die ganze Stimmung versauen wird.
Er hat seine Gitarre ausgepackt! Er will ernsthaft singen. Zirpt schon einstimmend auf den Saiten rum und wird gleich sein frisch aufgebautes Ansehen in meinen kritischen Augen über den Jordan jagen.
Ich bin nicht so der Typ fürs Singen. War ich noch nie.
Wie gesagt, ich steh auf harte Bässe, dreckige Techno-Schuppen und dröhnende Ohren. Diese schmusige Gitarrenmusik macht mir in ihrer ganzen, kitschigen Harmlosigkeit Angst – und sie lässt mich fremdschämende Gefühle entwickeln, die ich so das letzte Mal hatte, als Caro in der ersten Klasse neben mir saß und ein klein wenig eingepullert hat, weil sie zu viel Angst hatte, den Lehrer zu fragen, ob sie mal auf die Toilette dürfe.
Darauf darf ich sie übrigens bis heute nicht ansprechen. Absolutes Tabuthema. Das respektiere ich natürlich.

Noah hat bis jetzt einen ziemlich guten Eindruck gemacht, besser, als ich ihn in Erinnerung hatte. Früher erschien er mir doch recht farblos und unspektakulär. Ein Langweiler, ein Kirchentyp.
In meiner ganzen Oberflächlichkeit, habe ich mich nie ernsthaft mit seiner Person auseinandergesetzt.

Doch heute hat er ein kleines bisschen Eindruck hinterlassen.
Nicht in diesem Sinne, dass ich ich ernsthaft an ihm interessiert sein könnte. Dafür müsste er gute zwanzig Zentimeter schrumpfen, dunkle Haare bekommen, fast schwarze Augen und zu allem Übel auch noch Chris heißen. Leider.
Dennoch ist er mir sehr sympathisch, weil er einfach nur so erschütternd lieb rüber kommt.
Wie Caro.
Beide lassen sich von meiner Art nicht verschrecken. Kommt selten vor.

Und genau deshalb soll er nicht wie so ein alberner Teenieschwarm rumträllern und eine nicht vorhandene romantische Atmosphäre schaffen wollen, während alle nur betreten ins Feuer starren und beten (in diesem Fall sogar wortwörtlich), dass das Elend endlich vorbei sein möge.

In einem letzten Anfall von Hilflosigkeit sehe ich zu Caro, der ich telepathisch zu vermitteln versuche, dass sie ihn doch noch stoppen soll, in seinem wahnwitzigen Vorhaben. Johann könnte doch singen und zirpen, zu dem passt das viel besser und ich könnte mich auch noch heimlich drüber lustig machen.
Über Noah will ich mich nicht lustig machen.

Doch Caro lächelt nur erwartungsvoll in die Runde, beachtet mich garnicht. Na an unserer mentalen Verbindung müssen wir aber noch ausgiebig arbeiten, denke ich schmollend.
Ich verdrehe die Augen und ergebe mich meinem Schicksal.
Aus Noah kommen ein paar Töne. Scheint seine Stimmbänder mit der Gitarre auf Einklang bringen zu wollen. Ich schwitze jetzt schon.

Unheilvoll betrachte ich ihn. Wie er konzentriert und gleichzeitig locker nach unten auf sein Instrument blickt, noch zurückhaltend, summt und seine Finger in freudiger Erwartung hin- und herzucken.
Dann schließt er die Augen. Bitte nicht.

Die Gitarre gibt beängstigend klare Töne von sich und ich erkenne eine mir wohlbekannte Melodie. Da ich aber so garnichts mit diesen Kitsch-Möchtegern-Songs am Hut habe, komme ich nicht auf den Namen des Liedes. Erstmal bin ich nur froh, dass es nicht „Kumba ya my Lord“ ist.
Gut, jetzt wird er gleich singen. Ich wappne mich und blicke desinteressiert in die Flammen, geht mich ja eigentlich alles nichts an hier. Und hey, wer war gleich nochmal Noah Kasperski? Kenne den Typen nicht...

Er beginnt mit der ersten Strophe. Im gleichen Augenblick habe ich das Gefühl, als würde mich ein kleiner Mini-Blitz durchfahren. Neben mir vernehme ich seufzende Töne und ich bin verdammt kurz davor, mich diesem schmachtenden Ausdruck des Wohlbefindens anzuschließen.
Ich falle fast vom Baumstamm.
Entgeistert blicke ich zu dem Pfarrersjungen, ich muss mich davon überzeugen, das wirklich und wahrhaftig er es ist, aus dem diese Töne kommen.
Und er ist es ohne jeden Zweifel.
Nicht irgendein Backstreetboy oder Robbie Williams oder Justin Irgendwer. Es ist der Junge von Nebenan mit der schönsten Stimme, die ich je gehört habe. Es haut mich total aus den Socken, und dabei trage ich momentan nicht mal welche.

Und so geht es wohl nicht nur mir.
Jedes weibliche Wesen starrt ganz verzückt in seine Richtung. Selbst Johann blickt ganz verträumt, was mir irgendwie dann doch unangenehm ist und ich es ihm dennoch nicht verdenken kann.
Noah trifft die Töne dermaßen passend, interpretiert das Lied aber auf seine ganz persönliche Weise, individueller, traumhaft! Ich bin wie verzaubert.
Das, was er da tut, kann man nicht als schnödes „Singen“ bezeichnen. Nein, für meine ungeübten Ohren, die noch nie mit solch musikalischer Eloquenz in Kontakt geraten sind, klingt es wie die Perfektion dessen, was menschliche Stimmbänder je zu Stande gebracht haben.
Er soll bloß nie damit aufhören.

Irgendwann tut er es dann doch. Ich befinde mich noch immer in einer Art Trancezustand. Eingehüllt in eine andere Welt, wie kurzzeitig fortgeflogen.
Der letzte Ton erklingt, Noah öffnet die Augen und sein Blick trifft als erstes mich.
Sein Lächeln ist zum Niederknien.
Mir entweicht ein Seufzer. Zum Glück nur ganz leise und ganz sicher nicht hörbar.
Dann fange ich mich auch gleich wieder und schlucke hart. Ich lächle verhalten zurück, mein Herz klopft etwas. Verrückt.

Ein unterdrücktes Murmeln beginnt, die Anderen unterhalten sich untereinander, allerdings in respektvoller Lautstärke. Ich blicke kurz in die Runde. Auf den Gesichtern der weiblichen Gäste befindet sich ein dümmliches Grinsen, ebenso wie um Johanns behaartem Mund herum. Die Männer gucken eher gelangweilt, teils neidisch, besonders Kai. In seinen braunen Augen flimmert etwas seltsames. Er sitzt zusammen mit Elsa neben Noah. Sie halten Händchen. Auf einmal sehen sie mich gleichzeitig an.

Ich schaue weg und stelle fest, dass Noah noch immer zu mir gedreht sitzt und mich beobachtet hat.
Fragend ziehe ich die Augenbrauen hoch.
„Wie sieht es aus?“, fragt er mich flüsternd. „Wollen wir vielleicht zusammen etwas singen?“ Panik strömt durch meinen Körper bei diesen so leicht dahin gesagten Worten.
„Niemals.“, zische ich. „Ich kann nicht singen.“ „Jeder kann singen.“, antwortet er aufmunternd.
„Aber nicht gut.“, kontere ich zweifelnd.
„Das ist doch egal. Hauptsache man hat dabei Spaß. Außerdem sind wir hier doch unter uns.“, zwinkert er entschlossen.
Ich werde knallrot. „Noah. Vergiss es.“, knirsche ich ihm zu.
Und er lacht. „Na gut.“, lenkt er ein. „Dann versprich mir aber, dass wir mal ohne Publikum zusammen üben, okay?“ In meinem Entsetzen nicke ich nur. Er sieht dabei unglaublich zufrieden aus, dann wendet er sich mit lauter Stimme an den Rest:
„Jeder der kann, darf jetzt mitsingen.“

Er stimmt ein Lied an, welches ich nicht kenne, irgendwas für bibelfeste Fanatiker, alle wissen zumindest, was zu tun ist. Die Gruppe zwitschert im Chor, jeder kennt den Text, ich schweige, froh, dem vermeintlichen Schicksal entkommen zu sein.
Der hat doch nen Knall, denke ich.
Will mich hier dazu bringen, in der Öffentlichkeit etwas zu tun, was ich mir nicht mal in der dunkelsten Stunde unter der Dusche antue. Ich hab zwar Gefühl und Ohr für Melodie und Takt, dennoch macht meine Stimme nie das, was mein Kopf ihr sagt. Da fehlt mir wohl irgendeine Synapse im Gehirn. Keine Ahnung.
Das wär die Blamage des Jahrhunderts geworden. Quasi ein Raub des letzten Fünkchens Selbstwertgefühls, welches ich wie einen Schatz noch in mir hüte und ganz sicher nicht vor dieser Gruppe von Außenseitern in den Dreck werfe.
Man muss mir ja nicht alles nehmen. Noah war kurz davor, auch wenn ihm das wohl in seiner unbekümmerten Art nicht mal bewusst ist.

Derweil singt er heiter weiter. Ich kann ihm nicht mal böse sein. Er macht es mit seinem Gesang wieder gut. Und mit den ständigen, fröhlichen Blicken, die er mir immer mal wieder zuwirft.
Ich entspanne mich langsam wieder, lausche dem verwöhnendem Klang seiner Stimmbänder und beschließe, dass er als Ausgleich für den Schock die ganze Nacht für mich zirpen und trällern sollte.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, vollführt er zum Ende des Liedes einen gekonnten Übergang zum nächsten Song, ohne dabei die Gitarre abklingen zu lassen, geschweige denn, ihr eine kleine Pause zu gönnen. Das arme Instrument muss zwischen seinen Händen Schwerstarbeit leisten. Ich bemitleide es jedoch nur mäßig. In erster Linie, weil ich Gegenständen aus Holz prinzipiell keine Gefühle zugestehe, und zweitens, da Noah so nette Töne fabriziert, dass ich wieder in diesen merkwürdigen Hypnosezustand verfalle, dem ich so einiges abgewinnen kann, wie zum Beispiel die Gänsehaut, die mir in regelmäßigen Abständen über die Unterarme saust.

Es ist Wahnsinn. Und so ganz anders.
Unwillkürlich überdenke ich meinen bisherigen Musikgeschmack.
Da ich mich eigentlich nur in der Welt des Techno zu Hause gefühlt habe, sind andere Stilrichtungen stets gepflegt an mir vorbei gezogen. Nichts hat mich gereizt, im Gegenteil, ich verachte zugegebenermaßen sogar gewisse Genres.
Deutschen HipHop zum Beispiel. Bei diesem pseudointelektuellem und gewaltverherrlichendem Gereime, bei dem man eh kein Wort versteht, könnte ich würgen. Und ich bin aufrichtig davon ausgegangen, dass ein Live-Gitarren-Solo eines Pfarrersjungen z.B. Sido an Grausamkeit der Ohrvergewaltigung um einiges übertreffen könnte.
Noah jedoch, beschert mir, um mal der Metapher treu zu bleiben, Ohrorgasmen. Ja. Und zwar Multiple. Die Sau.

Und das ganz ohne harte Beats, Geknalle und lautstarke Bässe. Das ist echt mal eine Erfahrung.
Doch leider verselbstständigen sich meine Gedanken dabei in eine ganz falsche Richtung.
Einige Passagen gefallen mir nämlich so gut, dass ich aus Gewohnheit darüber nachdenke, wie man sie zu einem originellem Sample verarbeiten könnte.
Das ist mir irgendwie ins Blut übergegangen. Die letzten Jahre habe ich mich stundenlang durch Lieder und Filme gewühlt, stets auf der Suche, nach einer coolen Stelle, sei es ein Spruch, eine Melodie oder ein ganzes Lied, welches Chris dann für seine Musik verwenden konnte.
Also so, wie damals der Mitschnitt von Billy Jean, in dem Gartenhaus, als ich ihn das erste Mal gesehen hatte.
Bekannte und beliebte Ohrwürmer schlagen beim Tekk ein, wie eine Bombe, sie müssen dann nur mit den richtigen Kicks, also den Bässen, untermalt werden und die Leute rasten auf der Tanzfläche aus.
Chris hatte dafür das absolute Händchen, hat er noch immer. Sein untrüglicher Instinkt für das, was die Menschen hören wollen, hat ihn ja so erfolgreich gemacht. Und nicht zuletzt meine Unterstützung. Ich habe ihn immer gepusht, mich um Werbung und Auftritte gekümmert, war sowas wie seine persönliche Managerin...und seine Muse, seine Inspiration – das hat er mir von Anfang an gesagt.

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Vor vier Wochen war die Geburtstagsparty meiner Klassenkameradin, der Cousine von dem Jungen, der jetzt ganz gute Chancen hat, mich demnächst entjungfern zu dürfen.
Und ich bin haltlos verliebt.
Chris ist zwei Monate jünger als ich. Mir egal.
Blöd nur, dass ich im Juli geboren wurde und er im September Geburtstag hat, so dass er leider NACH dem Einschulungs- Stichtag seinen sechsten Jahrestag feiern durfte, jedoch nicht seinen Einstand in das harte Leben des schulpflichtigen Daseins, so wie ich.
Sprich, er ist also eine Klasse unter mir.
Und das, so rede ich mir ein, ist auch der Grund, warum er mir vorher noch nie aufgefallen ist. Er geht nämlich sogar auf meine Schule, was ich nach dem Wochenende unserer ersten Begegnung mit einigem Schrecken plötzlich feststellen musste, mitten auf dem Pausenhof und völlig unvorbereitet.

Ich grinse bei der Erinnerung und drehe mich auf den Rücken. Das Bett unter mir quietscht geräuschvoll und ich notiere mir geistig, dass ich in Chris seinem ollen Futonbett garantiert nicht defloriert werden möchte.
Wobei ich davor nicht zurückschrecke, weil ich denke, seine Eltern könnten den Liebesakt belauschen. Könnte sich sogar schwierig gestalten. Wir sind fast dauerhaft ungestört.
Sein Vater hat sich vor einigen Jahren verpisst, seine Mutter arbeitet in Schichten und versucht verzweifelt, die mickrige Drei-Raum-Wohnung zu bezahlen und irgendwie ihrem Sohn ein halbwegs angenehmes Leben zu finanzieren.
Im Gegensatz zu meinen Familienverhältnissen ist Chris also arm dran, wortwörtlich.
Doch da pfeife ich selbstverständlich drauf.
Ich ziehe aus allem einen Vorteil, zur Zeit sehe ich eh nur die positiven Dinge im Leben. So ist es also alles andere als nachteilig, dass seine Mutter momentan außerhalb des Plattenbaus ist, während wir hier unbehelligt rumlungern können.

Chris sitzt gerade an seinem Laptop, er hat Kopfhörer auf und bastelt an seiner Musik.
Ich liebe diesen konzentrierten, ernsten Gesichtsausdruck, den er dabei hat.
Ab und an wirft er mir einen Blick zu, manchmal nur so flüchtig, dass sich dabei nichts an seiner fast düsteren Miene ändert, doch gelegentlich, da schaut er her und dann lächelt er dieses eine Lächeln.
Ich könnte stundenlang hier auf seinem Bett, in seinem Zimmer, liegen, ihn beobachten und auf dieses Lächeln warten. Es ist einmalig.Und es ist für meinen Geschmack viel zu selten.
Chris lächelt nicht so oft, er ist kein Sunnyboy und auch kein dauergrinsender Strahlemann. Doch wenn er es tut, dann bricht ein kleiner Orkan über mir zusammen, verwüstet meine ganze, coole Fassade und lässt mich mal gepflegt die Contenance verlieren.

Chris hat etwas unnahbares an sich. Diesen Eindruck vermittelt er zumindest, ungewollt, wie ich feststellen muss.
Vielleicht liegt es daran, dass er schon so viel durchgemacht hat. Ich weiß noch nicht alles, aber er hat da so Andeutungen durchblicken lassen, bezüglich seines Vaters und dessen Brutalität gegenüber Frau und Kind. Ich will nicht darüber nachdenken, kann mir aber vorstellen, dass Chris einfach eine natürliche Skepsis, eine abwehrende Mauer, errichtet hat.

Nichtsdestotrotz ist er unheimlich beliebt. Vielleicht genau wegen dieser Art.
Menschen mögen Herausforderungen.
Er hat einen großen Freundeskreis, ständig klingelt sein Handy, jeder will etwas von ihm und auf dem Schulhof stehen so viele Leute um ihm herum, dass ich ihn vielleicht auch deswegen vorher nie zu Gesicht bekommen habe.
Und dennoch sind wir jetzt ein Paar.
Das ging alles so schnell, so unglaublich einfach, dass ich es manchmal noch garnicht richtig fassen kann. Und je näher ich ihn kennen lerne, umso mehr wunderbare Seiten ich an ihm entdecke und je besser wir uns verstehen, umso unwirklicher wird für mich der Umstand, dass wir tatsächlich zusammen sind. Er gehört mir.
Mein Chris.

An dem Abend noch, als ich ihn da so cool hinter dem Dj-Pult erspäht hatte, kam ich leider nicht mehr dazu, ihn direkt kennen zu lernen. Meine Freundinnen drängelten ganz anstrengend und wir verließen zu meinem großen Bedauern die Party viel zu zeitig.
Und ich war auf einmal nicht mehr ich selbst.
Mir gingen diese dunklen Augen einfach nicht mehr aus dem Kopf. Noch am selben Abend saß ich hinter dem Computer in meinem Zimmer und hortete Information über Techno, Festivals, die Love Parade, bekannte DJs aus der Szene und hörte mir stundenlang erfolgreiche Sets an.
Ich studierte sogar den Tanzstil auf youtube.
Auf einmal offenbarte sich mir eine Welt, von der ich bis Dato nichts geahnt hatte. Ich war fasziniert. Und ich wollte dazu gehören.

Zwei Tage später trabte ich nervös über den Schulhof, suchte das Geburtstagskind vom Wochenende, sie stand bei ihren unscheinbaren Freundinnen. Ich ging zu ihr und fragte sie, ob ihr Cousin öfter irgendwo auflegte.
Sie stutzte. „Magst du etwa diese Musik?“ Ich zuckte mit den Schultern.“Du nicht?“ Ich sah genau, dass sie kurz überlegte und dann plötzlich ihre Meinung änderte. Sie wollte gut vor mir da stehen, mir imponieren.
„Doch. Ab und zu hör ich ganz gerne, was Chris so macht. Er spielt fast jedes Wochenende für ein bis zwei Stunden hier in so einem Club, oben, in der Nordstadt.“ Hellhörig fragte ich: „Und wie heißt dieser Club?“ Sie biss sich auf die Lippe. „Ich glaub, es ist die alte Zuckerfabrik, die Disco heißt „SugarSoil““.
Der Club sagte mir nichts, es sollte allerdings mein zweites Zuhause werden.

„Und wann ist er dort?“, drängte ich weiter.
Langsam sah sie ziemlich am Ende ihres Halbwissens aus, sie blickte unsicher über den Pausenhof, dann rief sie ausweichend, als hätte sie einen plötzlichen Geistesblitz:
„Da fragst du ihn am besten selbst. Da drüben ist er.“ Unvorbereitet deutete sie in die Raucherecke.
Und da saß er, umringt von seinen Freunden. Zu meinem fast vorzeitigen Herzstillstand sorgte dann der verrückte Zufall, dass er genau in dieser Sekunde zu uns blickte.
Sofort blendete sich wie automatisch alles in meinem kreisförmigen Sichtfeld aus, tunnelartig sah ich nur noch ihn. Sein Blick durchbohrte mich, ich fühlte mich wie festgefroren.
Hätte er nicht nach wenigen Sekunden wieder weggeblickt, wäre ich wohl bis in alle Ewigkeit wie in Stein gemeißelt auf dem Schulhof stehen geblieben.

Ich war einer Ohnmacht nahe, ging ohne eine weitere Silbe zurück zu meinem Jahrgangsfreunden und dachte, dass es jetzt mit mir zu Ende geht. Noch nie war ich so aus der Fassung geraten.
Da, keine hundert Meter von mir entfernt, saß er. Unglaublich.
Alles in mir wollte ihn kennenlernen.
Die Gelegenheit ergab sich dann recht schnell, als ich das erste Mal zu Techno tanzte. Im „SugarSoil“, noch am nächsten Wochenende.

Im Nachhinein, jetzt, einen Monat später, weiß ich, dass mein Anblick auf Chris ähnliche Wirkung gehabt haben muss. Das hat er mir zumindest erst vor Kurzem gestanden.
In der Disco hatte ich auf seinen Auftritt gewartet.
Ich wusste, dass er vor Mitternacht spielen musste, schließlich war er noch Minderjährig. Also bin ich völlig geistlos und halb wahnsinnig, komplett alleine, ohne Begleitung und ohne meinen Freundinnen davon zu erzählen, in diesen Schuppen gegangen. Ich hatte einen Plan.
Zuerst stand ich ziemlich orientierungslos in dieser herunter gekommenen Bude, fühlte mich völlig fehl am Platz und hinterfragte meinen geistigen Zustand.
Nach einer halben, verwirrenden und demütigenden Stunde wollte ich die ganze Aktion schon wieder abblasen, zwang mich aber, auf ihn zu warten, auf dem Line Up stand, er würde ab halb elf für eine Stunde auflegen.

Als es dann endlich so weit war, erkannte ich sofort den typischen Rhythmus, den er schon letzte Woche durch die Boxen gejagt hatte. Ich nahm all meinen Mut zusammen, stöckelte auf die Tanzfläche und bewegte mich zu seiner Musik. Tanzen konnte ich schon immer, ich habe ein ganz ordentliches Körpergefühl und nach einer Woche intensiven Trainings vor dem Kinderzimmerspiegel, wage ich zu behaupten, dass mein Auftritt alles andere als mies war.
Chris hat mir später an diesem Abend gesagt, er hätte fast die Anlage vor Schreck vom Tisch geschubst, als er mich plötzlich gesehen hat, wie ich elfengleich über die Fliesen vor seinem Pult schwebte.
Nach seinem Auftritt bin ich in gewisshafter Vorahnung da geblieben, habe weiter getanzt.
Irgendwann kam er, steuerte direkt auf mich zu und fragte schüchtern, ob ich etwas trinken wollte.
Von da an war alles kinderleicht.
Wir verstanden uns auf Anhieb.


„Hase! Hör mal! Ist das nicht der Hammer?“ Chris reißt mich aus meinen Gedanken und sieht mich erwartungsvoll an. Dann dreht er den Lautstärkeregler auf und ich werde bombardiert mit einem neuen Sample, den er gerade gebaut hat. Es geht durch und durch.
Begeistert sage ich: „Wahnsinn. Willst du das am Samstag spielen?“ „Ja, mal sehen. Muss ich noch ein bisschen überarbeiten.“, antwortet er nicht minder stolz. Lässig wippt er mit dem Kopf im Takt, während er mit der Maus schon wieder irgendwelche Einstellungen ändert.

Er ist so hübsch, denke ich.
Kurze schwarze Haare, etwas gegelt. Steht ihm wirklich gut. Die Friseuse hatte Geschmack und er weiß, wie er sich zu stylen hat. Sein Kopf hat eine schöne Form, ich könnte ihn den ganzen Tag drüber streicheln, doch das mag er garnicht. Da wird er eitel. Total süß.
Alles an ihm ist irgendwie süß. Er ist zwar klein, hat aber trotzdem einen tollen Körper. Alles passt zusammen, ist so kompakt, einfach perfekt. Nicht so wie mancher Halbstarke im Wachstum, wo Arme und Beine nicht zum Körper passen wollen.
Heute trägt er ein weißes Shirt, total schlicht, etwas enganliegend. Es betont seine Armmuskeln und er wirkt einfach nur attraktiv.

Er dreht sich wieder zu mir und sieht meinen musternden Blick.
„Was ist?“, fragt er unsicher grinsend.
Ich lächle ihn etwas dreckig an. „Du bist so geil.“, sage ich ungeniert.
„Ich weiß.“, gibt er zum Besten und grinst überheblich.
Kleiner Angeber, schmunzle ich in mich hinein.
Dann legt er die Kopfhörer zur Seite und kommt auf mich zu.

Sofort beschleunigt sich mein Herzschlag, mein Körper reagiert auf ihn so extrem, dass ich manchmal glaube, irgendwann erleide ich einen Schlaganfall oder so. Jedenfalls scheine ich mich nicht an seine Gegenwart zu gewöhnen, wobei ich nicht behaupten kann, dass ich mich dabei unwohl fühle.
Er kommt auf das Bett gekrochen, unter mir spüre ich, wie der Lattenrost protestiert. Mit einem anzüglichen Blick robbt er über mich und meine Lippen kribbeln schon erwartungsfreudig.
Sein Duft steigt mir in die Nase. Er riecht immer so lecker, irgendwie unbeschreiblich: süß und gleichzeitig frisch, leicht zitronig, glaube ich. Ich weiß es nicht, einfach nach Chris.
Dieser natürliche Geruch macht mich halb wahnsinnig, wie kann ein Mensch nur so gut riechen?
Nun ist er genau über mir, sein rechtes Knie hat er schamlos zwischen meine Beine geschoben, mit den Armen stützt er sich neben meinem Kopf ab.
Er mustert mich forschend.
„Hat dir schon mal jemand gesagt, wie heiß DU bist?“, sagt er dann ohne mit der Wimper zu zucken.
Sofort schießt ein kleines Feuerwerk in meinen Bauch.
Er sieht mir direkt in die Augen. Seine fast schwarzen Pupillen glänzen, sie sind von dichten Wimpern umrahmt, sie erinnern mich immer ein bisschen an ein Babypuppe, die ich mal hatte. Die Gesichtszüge wirken fast wie gemalt.
Ich greife nach seinem Kopf und ziehe ihn zu mir hinunter, ich muss ihn jetzt küssen, ansonsten drehe ich durch.

Chris küsst stürmisch, seine Lippen schieben sich mit Nachdruck auf meine. Er verschwendet nie viel Zeit, sofort dringt seine Zunge in meinen Mund, erforscht das Innenleben, kämpft mit meiner und schon nach wenigen Sekunden beschleunigt sich unsere Atmung.
Er lässt sich auf mich nieder gleiten, legt seinen Körper auf meinem ab, seine rechte Hand umschließt meinen Kopf, hält ihn so fest, dass ich den Kuss selber nicht beenden könnte. Habe ich auch nicht vor.
Die andere Hand wandert dagegen sehr sanft an meiner Taille hinab, schiebt ganz zögerlich das lockere Top nach oben, streichelt meinen Bauch seitlich, genau da, wo ich besonders empfindlich bin.
In mir vibriert alles.
Ich kralle mich an ihm fest, schiebe ihm meine Hüften entgegen. Er keucht, drängt seine Zunge noch weiter in meinen Mund, ich drohe fast zu ersticken. Mir egal.
Ich will noch mehr von ihm.

Der Kuss verselbstständigt sich zu einem ziemlich versauten Zungenspiel. Ich nage an seiner Oberlippe, er knabbert an mir, wir saugen, lutschen und beißen.
Er dreht sich dabei zur Seite, kullert ein Stück von mir hinunter.
Nun erforscht seine Hand wilder meinen Körper, schiebt sich wie selbstverständlich hoch zu meinem BH, ich drehe fast durch und stöhne leise.
Als wäre dieser schlüpfrige Laut ein Zeichen, beendet Chris den Kuss abrupt.
Das gefällt mir überhaupt nicht. Allerdings ist sein atemloser Zustand auch nicht zu verachten.
Sein Blick ist total verklärt, irgendwie hungrig, ich spüre ganz eindeutig etwas Hartes an meinem Oberschenkel.
„Wann wollen wir es endlich tun?“, fragt er mich sehnsüchtig.
Auch er ist noch ne alte Jungfer, was er mir ziemlich schnell gestanden hat und was ich umso aufregender finde. Wie gesagt, zwischen uns, das ist so einfach. Da gibt es keine Scheu, kein Imponiergehabe, es passt. Ich kann mich nicht entsinnen, dass je eine Art von Befangenheit in den letzten Wochen irgendwie präsent war.
„Jetzt sofort!“, hauche ich. Mir egal, ob das grad notgeil klingt.
Chris lacht. „Wir haben aber nichts hier.“, sagt er so unglaublich vernünftig.
Damit meint er Kondome. Und ich könnte mich in den Arsch treten, dass ich gestern in der Drogerie nicht den Mumm hatte, welche zu kaufen. Gut, meine Mutter war dabei, ich denke, das zählt als passable Ausrede.
„Na dann fummeln wir einfach wieder ne Runde.“, befehle ich knapp und ziehe schon wieder seinen Kopf zu mir. Er wehrt sich auch garnicht.
Und ich will, dass genau DAS, nie aufhört.


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Ich bin grad nicht ansprechbar und verdammt froh, dass es schon ziemlich dunkel um mich rum ist.
Die Erinnerung an diesen unspektakulären Augenblick hat mich überrollt wie ein Flashback, total unvorbereitet und extrem fies.
Warum macht mein hinterhältiges Gehirn das?
Ich kann mich nicht entsinnen, dass ich irgendwann mal bewusst an diesen Nachmittag bei Chris im Zimmer gedacht habe, der Tag war dermaßen austauschbar. Und trotzdem war der Moment plötzlich da.
Und er schmerzt mich.
Wenn ich resümiere, wie Chris zu diesem Zeitpunkt noch war – und dagegen, wie er jetzt ist.
Grausam. Die Welt ist grausam.

Neben mir trällert Noah schon wieder das nächste Lied. Unermüdlich, noch genau so schön und trotzdem erreicht mich seine Stimme nicht mehr. Als wäre durch die Erinnerung etwas in mir aufgerissen, worauf sich nun mein ganzer innerer Cosmos konzentrieren muss. Mit Scheuklappen, sozusagen.
Engelsgleiche Stimmen werden da nebensächlich.
Ich weiß auch um ehrlich zu sein nicht, das wievielte Lied er da singt. Irgendwann haben die anderen anscheinend auch aufgehört mitzukrächzen. Kam sich garantiert jeder lächerlich vor.
Noah vermittelt da doch schnell ein minderwertiges Gefühl, da mit ihm kaum eine normale Kirchenstimme mithalten kann.
Ich weiß zum Glück, dass ich schlecht bin, da ist mein Selbstwertgefühl in dieser Hinsicht unfallfrei. Jedoch nicht in Bezug auf heimtückische Attacken des Erinnerungsvermögens.

Um Ablenkung bemüht sehe ich in das beruhigende Feuer, verdränge die Tatsache, dass ich vor Sehnsucht nach meinem Exfreund zerfließe, mir vor komme, wie nur noch ein halber Mensch, weil die gute Hälfte fort ist. Man, das ist so dermaßen traurig, ich könnt mich glatt selbst bemitleiden.






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