Wie eine einzige Sommernacht - Teil 7

Autor: NoNo
veröffentlicht am: 20.02.2013


Immanuel

Im Rückspiegel sehe ich, dass Joschka, Frieda und Chris schlafen. Auch Timo schläft – ich höre es an seinem gleichmäßigen, leisen Schnarchen, was Emmi immer fast in den Wahnsinn treibt. Doch heute stört es sie nicht. Nachdenklich schaut sie durch die Windschutzscheibe nach draußen und beobachtet den Sonnenaufgang.
Meine linke Hand schmerzt ein wenig, doch ich sage nichts. Es ist kein Schmerz, den man nicht aushalten kann.
Ich bin wütend auf Chris, zwar nur ein bisschen, aber immerhin bin ich wütend. Und ich werde selten und wirklich nicht schnell wütend. Aber Timo hat Recht: Es ist immer dasselbe mit Chris. Er schafft es, sich auf jeder Party mit irgendeinem Kerl anzulegen. Meistens bekommt er eine auf’s Maul und ist selbst zu betrunken, um sich zu verteidigen. Aber was wären wir für Freunde, wenn wir ihn in diesem Moment dann einfach hängen lassen würden? Und so kommt es, dass ich ihm auch heute wieder geholfen habe – wohl oder übel. Ich hatte doch gar keine andere Wahl.
„Warum schläfst du nicht?“ frage ich schließlich an Emmi gewandt.
„Ich will dir Gesellschaft leisten“ Ihr Atem riecht ein wenig nach Zigarettenrauch, doch es stört mich nicht. Der Schweißgeruch von Chris ist weitaus schlimmer.
„Du bist auch müde. Schlaf’ ein wenig“ meine ich, doch sie schüttelt mit dem Kopf und erst jetzt schaut sie mich an und schmunzelt spöttisch: „Irgendjemand muss dich doch wach schreien, falls du einschläfst. Einen Unfall können wir nicht auch noch gebrauchen“
Ich weiß, was sie meint und wie sie es meint und nicke einfach nur. Ich lenke den Bus auf das Mauthäuschen zu und verringere die Geschwindigkeit, während mir Emmi wortlos ihren Geldbeutel reicht. Irgendein Teil, das schon fast so groß ist wie eine Handtasche.
Ich bezahle die Mautgebühr – und das ist wirklich nicht wenig – und fahre weiter. Die Autobahnen sind zum größten Teil leer und nicht zu vergleichen mit der Straße, die nach Mailand reingeführt hat. Wir standen bestimmt eine Stunde bei glühender Hitze im Stau.
„Er meinte es nicht so. Aber du weißt doch, wie er wird, wenn er was getrunken hat“ bemerkt Emmi plötzlich und ich werfe ihr nur einen kurzen Blick zu, bis ich wieder auf die Straße schaue.
Ich zucke mit den Schultern und sage: „Man kann nicht alles mit dem Alkoholpegel entschuldigen“
„Das stimmt“ Sie wirft mir einen bedeutungsvollen Blick zu und ich ahne schon, worauf sie anspielt. Ich habe viele Dinge unter Alkoholeinfluss zu ihr gesagt, die wir im nüchternen Zustand nie geklärt haben.
Sie wartet ab; wartete darauf, dass ich etwas sage. Sie wartet auf eine Erklärung von mir, doch ich schweige.
Schließlich wendet sie sich räuspernd von mir ab. „Was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass ihr ihm nicht böse sein sollt. Das ist alles“
„Wir sind ihm nicht böse. Also, ich zumindest nicht und Joschi auch nicht“
„Timo ist angepisst“
Wie als Bestätigung ertönt ein lautes Schnarchen von ihm und Emmi lacht leise. Ich mag es, wenn sie so leise lacht. Ich mag es allgemein, wenn sie lacht. Dann sieht sie immer aus, wie ein kleiner Panda. Auch, wenn sie das absolut nicht gerne hört. Sie sagt, niemand will gerne aussehen, wie ein Panda. Dabei sind Pandas süß.
„Hör’ mal, wenn es dir zu viel wird mit dem Fahren, dann sag’ Bescheid. Dann übernehme ich ein Stück“ bietet sie an und reißt mich damit aus meinen Gedanken.
„Es ist aber dunkel“
„Die Sonne geht gerade auf“
„Emmi, werde erstmal wieder nüchtern“ Ich lächele sie an und sie erwidert mein Lächeln und flüstert ein leises „Danke“, bevor sie wieder aus dem Fenster starrt und vor sich hinträumt. Doch sie schläft nicht ein. Sie bleibt wach und leistet mir Gesellschaft.

Die Sonne taucht die Welt in ein sattes orange, als ich das Auto in der Nähe des Hafens parke. Ab hier müssen wir mit der Fähre weiter. Ich glaube, Frieda lässt ihren Bus nur ungern stehen, doch sie weiß – genau wie alle anderen auch – dass es ziemlich unwahrscheinlich ist, dass einer ihre alte Schrottkarre mitgehen lässt.
Emmi weckt Timo sanft und rüttelt ihn leicht an der Schulter. Sein Schnarchen endet abrupt und kurz sieht er so verwirrt aus, dass er mich an einen kleinen Jungen erinnert. „Was ist los?“
„Wir sind da“ antwortet Emmi leise, greift über ihn und öffnet die Wagentür, während ich den Schlüssel ziehe und schon aussteige.
„Das ist nicht Venedig!“
„Nein, du Hohlbirne“ zischt Joschka, welcher anscheinend auch wach geworden ist.
„Wir müssen von hier mit der Fähre weiter“ erklärt Emmi und schiebt Timo vorsichtig aus dem Bus, damit auch sie aussteigen kann. Sie hat die Nacht über noch kein Auge zugetan. Die Ringe unter den Augen beweisen, wie müde sie ist. Und doch ist sie immer noch schön.
Sie streckt sich, vertritt sich kurz die Beine und angelt schließlich noch ihre Sandalen aus dem Auto. Im Moment ist sie barfuss.
„Mein Kopf tut weh“ murmelt Chris leise und lässt im Stehen wieder den Kopf auf Friedas Schulter sinken.
Ich sehe Timo an, wie er einen bissigen Kommentar erwidern will, doch ich bringe ihn mit einem deutlichen Blick zum Schweigen. Es ist zu früh, um wieder damit anzufangen.
Er murrt etwas Undeutliches, geht zum Kofferraum und packt lustlos alle Taschen aus, bevor er seinen eigenen Rucksack schultert und noch zusätzlich Emmis Reisetasche nimmt.
Frieda schließt das Auto ab, winkt ihm zum Abschied und fast sieht es so aus, als müsse sie heulen. Doch ich weiß, dass Frieda nicht heult. Zumindest nicht vor anderen.
Träge und noch immer müde laufen wir am Kai entlang. Wir sind alle geschlaucht von der Nacht; vor allem Chris. Seine Lippe ist angeschwollen und ich vermute, dass er am Kinn einen deutlich sichtbaren Bluterguss bekommen wird. Auf Emmis nächsten Bildern wird er wunderschön aussehen. Bei diesem Gedanken muss ich schadenfroh grinsen.
„Ich war lange nicht mehr am Meer“ sagt Emmi plötzlich und dreht sich zu uns um. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, weshalb sie mit ihren zwanzig Jahren immer noch so kindlich wirkt. Manchmal ist sie so naiv und so leicht zu begeistern – und das mit ihrer Vergangenheit; mit ihrer Familie. Vielleicht ist sie gerade deshalb so.
„Wann?“ fragt Frieda und versucht interessiert zu klingen, doch jeder sieht ihr an, dass sie fast wieder einschläft. Ihre Bluse, welche sehr an die 68er erinnert, rutscht ihr ein wenig von den Schultern. Sie trägt immer noch die Kleidung von gestern Abend und ich glaube, im Moment könnten wir alle eine Dusche gut vertragen. Besonders Chris!
„Ich weiß es gar nicht mehr“ Emmi bleibt stehen und fängt an, den Stoff ihres roten Tops in der Faust zu drücken. Das macht sie immer, wenn sie nervös ist oder wenn sie sich unwohl fühlt; sie fängt an, irgendetwas zwischen ihren Fingern zu kneten.
Sie dreht uns den Rücken zu uns und starrt auf das weite Meer. Im Moment ist es nicht schön. Es ist grau und diesig und auch der leuchtende Himmel spiegelt sich nicht wirklich darin wieder. Und doch ist Emmi dafür zu begeistern.
„Wir sollten weiter“ bemerkt Joschka schließlich trocken. „Ich will die Fähre nicht verpassen!“
Emmi zuckt zusammen, nickt hastig und folgt uns anderen. Sie ist immer noch barfuss.

Auf dem Schiff passiert es dann endlich: Chris muss sich übergeben.
Frieda steht neben ihn und tätschelt ihm beruhigend die Schulter. Ich glaube, für ihn tut sie beinahe alles. Die beiden führen eine bemerkenswerte Beziehung. Allerdings frage ich mich oft, ob es nur nach außen hin so aussieht. Man weiß nie, was unter der Oberfläche ist.
„Warum macht er das?“ fragt Timo plötzlich.
„Ich nehme mal an, weil ihm schlecht ist“ antwortet Emmi trocken und ohne vorher nachzudenken.
Wir sitzen zusammen auf dem Boden der Fähre; Emmis Kopf auf meinem Oberschenkel.
Joschka fängt an zu lachen. „Ich glaube, das meinte Timo nicht“
Ich sehe wie Emmi errötet und beschämt den Kopf abwendet. Und wieder wirkt sie wie ein kleines Mädchen.
„Ich meine, weshalb er es immer übertreibt. Ich versteh’s einfach nicht!“
Ich schaue zu Timo und zucke nur mit den Schultern. Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. So ist Chris eben, so war er schon immer.
„Er hat sich schon sehr gebessert“ versucht Emmi ihn zu verteidigen. Wie als Bestätigung kommt ein weiteres würgendes Geräusch von Chris. Die Leute auf der Fähre meiden uns; wir haben das obere Deck fast ganz für uns alleine.
Kurz überlegen wir alle und schweigen.
Es ist Joschka, der diese Stille unterbricht. „Er war wirklich schon schlimmer drauf. Vor vier Jahren wären wir mit ihm gar nicht erst bis nach Venedig gekommen“
„Ich glaube, vor vier Jahren wären wir mit ihm noch nicht einmal bis über die Grenze gekommen“ bestätigt Timo lachend und ich höre den beiden schmunzelnd zu, während ich geistesabwesend mit einer Haarsträhne von Emmi spiele.
Ich vermute, wir haben uns alle in den letzten vier Jahren sehr verändert. Vielleicht nicht immer zum Besseren.






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