Wie eine einzige Sommernacht - Teil 5

Autor: NoNo
veröffentlicht am: 08.01.2013


Frieda

Ich stehe eng umschlugen neben Chris. Der rote Edding in seiner Hand gleitet fließend über die Steinwand. Wir stehen unter dem Torbogen, der zum Hof führt, in dem sich der berühmte Balkon von Romeo und Julia befindet.
Vor vielen Jahren einmal war die Steinwand bestimmt trist und grau. Jetzt zieren all möglichen Schriftzeichen und Initialen diese Mauer. Überall Herzen, Namen und große Liebesschwüre kleiner Leute. Auch Chris und ich verewigen uns auf die Wand.
Ich nehme ihm den Edding aus der Hand und zeichne ein großes, rotes Herz um unsere Namen und bedaure es, dass ich meine Spraydosen nicht mitgenommen habe. Auf dieser Wand hätte ich ein Kunstwerk vollbringen können.
„Ich liebe dich“ raune ich Chris ins Ohr.
Seit fünf Jahren sind wir nun schon ein Paar – fünf Jahre. Die meisten unserer Freunde haben uns noch nicht einmal die Hälfte der Zeit gegeben. Und auch ich selbst bin damals nicht davon ausgegangen, dass wir es solange miteinander aushalten können.
Ich ziehe ihn zu mir herunter, lasse meine Hand durch seine blonden Locken gleiten und küsse ihn, als ich das Klicken eines Auslösers hinter mir höre. Innerlich seufze ich genervt.
Ich drehe mich um und sehe, wie Emmi lächelnd auf das Display ihrer Kamera schaut. „Aww – schaut mal, wie süß ihr seid“ flötet sie und hält uns die Kamera unter die Nase.
Es ist wirklich ein süßes Bild. Chris und ich unter einem Herz mit unseren Namen und vielen weiteren Namen und Herzen darum herum. Und doch fällt unseres am meisten auf.
„Schon mal von Privatsphäre gehört, Emmi?“ fragt Chris mürrisch und doch sagt er es irgendwie im Scherz. Er findet das Bild auch süß, kann es vor mir und Emmi nur einfach nicht zugeben.
„Das lassen wir uns ausdrucken“ sage ich zu ihm, nachdem ich meiner besten Freundin ein Lächeln geschenkt habe. Ich bin ihr dankbar dafür, dass sie diesen Moment festgehalten hat.
„Ist das langweilig! Ernsthaft, Leute. Ich bin ja nicht unromantisch oder so, aber das ist echt langweilig. Ein Balkon! So viele komme hier her wegen einem…“ Timo macht eine theatralische Pause, seufzt übertrieben und wiederholt: „…wegen einem Balkon!“ Mit seinen typisch lockeren Schritten schlendert er auf uns zu und vergräbt die Hände in den Taschen seiner Jeans.
„Jetzt reiß’ dich mal zusammen!“ weise ich ihn zurecht. Dann schaue ich zu Immanuel. „Wie hältst du es aus, mit dem zusammen zu wohnen?“
Immanuel zuckt mit den Schultern und meint dann zynisch: „Weißt du, manchmal, da bleibt er auch in seinem Zimmer“
Seit dem ersten Semester in Karlsruhe wohnen die beiden in einer WG zusammen. Sie haben nur noch einen Mitbewohner – einen verrückten Physikstudenten, der wirklich in dieses Klischee passt. Am liebsten hätte ich diesen Vogel mit Emmi verkuppelt. Der Nerd und die Diva. In Gedanken kichere ich, wenn ich mir das vorstelle.
Wieder schießt Emmi ein paar Fotos – von uns, von dem Balkon, von einer Taube, welche wieder gefährlich tief an Joschi vorbeifliegt. Doch dieses Mal verschont ihn das Tier.
Wir schlendern durch den Torbogen hinaus und ich werfe noch einmal einen Blick auf Chris’ und mein Herz. Normalerweise sind wir beide nicht für solche romantischen Aktionen zu erwärmen. Ich bin nicht wie Emmi. Ich bin nicht hoffnungslos romantisch. Und Chris ist nicht wie Joschka. Er ist kein Gentleman.
Wir verstehen und wortlos und wir wissen, was wir einander bedeuten, ohne es dem anderen sagen zu müssen. Es ist beinahe wie eine seelische Verbundenheit, obwohl das jetzt doch wieder eher nach Emmi klingt.
Im Stillen lache ich selbst über meine Gedanken.
Ich drücke Chris im Gehen noch einen Kuss auf die Wange, dann hole ich zu Timo auf und hake mich bei ihm unter: „Wie läuft’s mit Maria?“
Er schaut mich aus seinen klaren, grünen Augen an und zuckt mit den Schultern: „Es läuft gut. Doch wir entfremden uns“
„Oh“
„Das ist nicht schlimm. Ich habe es erwartet. Nicht erhofft, sondern einfach nur erwartet“
„Oh“ wiederhole ich, während er mich schräg von der Seite ansieht und mich liebevoll zurechtweist: „Sag nicht dauernd „Oh“. Dann komme ich mir dumm vor“
Ich grinse ihn an: „Oh.“ Doch schnell füge ich hinzu: „Nein, war nur ein Scherz – Das tut mir Leid für dich. Und? Hast du vor Schluss zu machen?“
„Nein, einfach Schluss machen will ich auch nicht. Dafür hat die Beziehung zu lange gehalten. Ich sehe nur einfach das Unvermeidliche kommen“
„Du denkst zu rational“
„Und du hörst dich gerade an, wie Emmi“
„Nein, es ist nur…“ Ich unterbreche mich. „Hast du schon mit Emmi geredet? Ich meine, sie kann dir sicherlich helfen“
Timo nickt und zögert eine Weile, dann gibt er zu: „Sie sagt gerade heraus, was sie denkt. Und ich glaube, im Moment würde mich das nur verunsichern. Deswegen habe ich mit Immanuel geredet“
„Der Schweigefront“ ergänze ich und Timo lacht.
„Ich jammer’ und er hört zu. Ich glaube, das kann ich im Moment besser gebrauchen, als Emmis Ehrlichkeit“ Er starrt eine Weile vor sich hin und hängt seinen Gedanken nach. Er ist schon lange mit Maria zusammen, doch die beiden kommen aus verschiedenen Welten.
Er ist ein Großstadtjunge, der die Welt erleben will. Sie kommt aus einem kleinen Dorf und ist im gewohnten Rahmen glücklich, ohne über ihren Tellerrand schauen zu wollen.
„He!“ Ich stupse ihn in die Seite und lächle ihm aufmunternd zu. „Du wirst die richtige Entscheidung treffen. Und außerdem siehst du gut aus. Du wirst den Spaß deines Lebens haben, wenn du wieder Single bist!“
Er lacht widerwillig und zieht dann spöttisch die Brauen nach oben. „So wie du?“ Dann schlägt er sich an den Kopf und sagt neckisch: „Ach, nein! Du bist ja seit fünf Jahren in einer Beziehung!“
Ich lache mit ihm und nehme ihm seinen Kommentar nicht übel. Es ist wirklich schön, dass wir alle zusammen lachen, spotten und uns sogar anschreien können. Und trotzdem wissen wir, dass wir einander lieben.
Fast schon ein wenig beängstigend, das Ganze.

„Wenn ich damals das Zelt nicht vergessen hätte, dann hättest du…“
Emmi unterbricht mich und äfft mich nach: „…dann hättest du niemals Andi kennen gelernt“ Sie zieht eine Grimasse und bewirft mich mit einer Traube, während sie ihre roten Ballerinas auszieht und ihre Füße ins kalte Wasser des Brunnens gleiten lässt.
Ich nicke bestätigend und zeige mit der Gabel meines Fertigsalates auf sie: „Genau! Das hast du richtig erfasst“
„War das nicht der Kerl, den du kaum kanntest, aber ein halbes Jahr lang nicht über ihn hinweg gekommen bist?“ hakt Immanuel nach und zieht skeptisch die Brauen nach oben.
Er ist bei uns geblieben, während die anderen zur Touristeninformation gegangen sind, um sich einen Stadtplan von Verona zu holen.
Emmi wirft ihm einen kurzen Blick zu und nickt dann. Sie starrt wieder auf den Boden im Brunnen und spielt mit ihren Füßen im Wasser. „Es war der Sommer 2010“
Immanuel nickt nur und für ihn ist dieses Thema abgehakt. Manchmal frage ich mich, ob er sich wirklich so wenig für seine Mitmenschen interessiert oder ob er sein Interesse einfach nur nicht zeigen kann. Ich schätze Letzteres. Er ist zu gut mit Emmi befreundet, als dass er sich nicht für sie interessieren würde. Doch bei ihren Männergeschichten blockt er immer ab – und zwar komplett.
„Kannst du dich doch an dieses hammer Festival erinnern?“ frage ich stattdessen, um von Andi abzulenken und um das Schweigen zwischen Emmi und Immanuel zu unterbrechen.
„Welches meinst du?“ fragt Emmi irritiert und zieht ihr hellblaues Kleid weiter über die Knie.
„Na, das 2010! Wie hieß es noch mal?“ Mir fällt der Name partout nicht ein. Ich glaube, ein paar Gehirnzellen habe ich durch das viele Marihuana doch verloren.
„Chiemsee Reggae“ erklärt Immanuel, obwohl er gar nicht dabei war. Dieses Festival war ein Erlebnis von Emmi und mir. Ziemlich spontan haben wir unser letztes Geld zusammengekratzt und sind bis nach Bayern mit all möglichen Bummelbahnen gefahren, nur um Ohrbooten zu hören. Und es hatte sich wirklich gelohnt.
Emmi nickt und lächelt träumerisch: „Ich kann mich noch sehr gut erinnern. Und ich erinnere mich auch gerne daran, wie du das Zelt vergessen hast“ Um ihre eigenen Gefühle zu verbergen, zieht sie mich wieder auf. In manchen Situationen kommt man an Emmi einfach nicht ran.
Ich öffne gerade den Mund, um etwas zu erwidern, als mich Joschkas Stimme unterbricht: „Wir können uns hier noch so viel ansehen! Eine Kirche, einen Markt, der seit hundert Jahren existiert, und…“
Timo neben ihm macht ein paar würgende Geräusche und Joschka wirft ihm einen tötenden Blick zu. Dann schaut er zu uns; sieht in unsere Gesichter und erkennt unsere mangelnde Begeisterung. Ich bin niemand, der Museen und Architektur verabscheut, dennoch bin ich, was das angeht eher wie Timo: alles in Maßen und nicht bei fünfunddreißig Grad im Schatten.
„Ich seh’ schon. Ihr habt kein Bock drauf“ bemerkt Joschka trocken und Immanuel zuckte nur mit den Schultern: „Mir ist es egal. Ein bisschen Bildung könnte einigen nicht schaden“
„Wen genau meinst du damit?“ fragt Emmi spitz und fühlt sich gleich angegriffen.
„Heee, hört mal. Heute Abend ist eine Rave Party hier in Verona“ ruft Chris aus, um die Situation zu entschärfen. „Ich würde sagen, die nehmen wir noch mit und dann fahren wir sofort weiter nach Venedig“
„Ich bleibe nüchtern und fahre“ meint Immanuel und alle anderen sind einverstanden.
Rave in Verona. Na, das konnte ja nett werden.






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