Zwischen Sommer und Winter - Teil 2

Autor: Kathrin.
veröffentlicht am: 17.12.2012


„Unzertrennlich so wie früher.“, spotteten meine anderen Brüder. Doch ich zuckte bloß mit den Schultern.
Endlich hatte ich ihn wieder. Er war wieder da. Mein verlorener Bruder war zu mir zurückgekommen. Ich hatte immer noch Tränen in den Augen. Gedankenverloren strich er mir über den Rücken.
Ich sagte nicht viel. Ließ das Geplänkel einfach vor mich her plätschern. Die Raufereien meiner Brüder brachten mich zum Lachen. Jetzt war es wieder so wie es sein sollte. Sichtlich unwohl fühlte sich Jaromir. Ich musste lächeln.
„Ich werde aufbrechen.“, meinte er schließlich. Oho, er würde aufbrechen. Ich warf einen Blick auf meine Uhr.
„Scheiße!“, stieß ich hervor und sprang auf. Alle sahen mich verdutzt an. „Ich muss heute doch noch arbeiten!“, rief ich. In totaler Hektik packte ich meine Sachen zusammen. Alle anderen lachten.
„Freya. Du musst alles besser ordnen. Ein Mann würde vielleicht endlich Ordnung in dein Leben bringen.“, tadelte mich meine Oma.
„Ach Omi. Du weißt, dass das nicht passieren wird.“, ich gab ihr einen Kuss auf die Wange. Ich rannte zu meinem Fahrrad.
„Halt, wo arbeitest du überhaupt?“, David war aufgestanden.
„Im ‚Casablanca‘“, sagte ich grinsend. Auch David grinste.
„Casablanca?“, fragte er nochmals grinsend. Ich nickte und schwang mich auf den Sattel. Schnell trat ich in die Pedale.
John würde mich killen. Ich würde mindestens fünfzehn Minuten zu spät kommen. Und John hasste Unpünktlichkeit. Eigentlich sagte man ja immer Barbesitzer wären immer lässig und total cool drauf und würden sehr locker sein. Aber John war einfach anders. Ganz anders.
Langsam fuhr ein silberner Wagen neben mir. Der Fahrer ließ das Fenster herunter, ich wusste nur zu gut wer es war.
„Kann ich dich vielleicht mitnehmen. So als Entschädigung, dass ich dich fast überfahren hätte.“, lächelte er. Er LÄCHELTE? Der Mann hatte Humor? Unvorstellbar. Ich hatte keine Lust bei ihm mitzufahren. Aber dann dachte ich an John und hielt an.
Irgendwie schaffe er es mein Fahrrad in den Kofferraum zu bugsieren. Ich sagte kein Wort. Ließ nur die Landschaft vor meinen Augen vorbeiziehen. Hoffentlich Würde er kein Gespräch anfangen wollen. Ich hatte nicht das Bedürfnis mich mit ihm unterhalten zu müssen. Ich verstand ihn nicht. Was war ein Problem mit der Welt?
„Ein einfaches ‚Danke‘ würde reichen.“, brummte er schließlich, als wir vorm Casablanca hielten. Bei seiner durchgeknallten Fahrweise, waren wir natürlich schon da.
„Danke für was?“, sagte ich aufgebracht.
„Danke fürs fahren, Danke, dass ich sie nicht wegen dem Kratzer anzeige und Sie das bezahlen müssen.“
„Sie hätten mich doch fast tot gefahren.“, rief ich aufgebracht und stieg aus dem Wagen. Ich drehte mich nochmals um lächelte zuckersüß und sagte: „Danke.“ Zu meiner eigenen Verblüffung küsste ich ihn auf die Wange. Dann drehte ich mich um und ging beschwingt durch die kleine Tür. Dank seines Fahrstils war ich sogar zu früh. Ich ging nach oben in den Mitarbeiterraum und zog meine „Arbeitssachen“ an. Eine enge, schwarze Jeans und eine weinrote Bluse, die ich immer bis zu den Ellenbogen hochkrempelte. Als ich wieder nach unten ging stand John schon hinter der Bar.
„Freya!? Was machst du denn schon hier?“, er kratzte sich verblüfft am Kopf. Ich zuckte nur verlegen mit den Schultern.
„Naja, egal. Ihr seit heute nur zu zweit. Du und Tom. Maria ist krank. Und Gunnar kommt heute erst um Mitternacht.“
„Was? John du weißt genau, dass das fast unmöglich ist.“
„Da müsst ihr jetzt eben durch. Ich kann ja auch nichts dafür.“, abwehrend hob er die Hände.
„Jaja. Ist gut.“, es war erst um acht. In einer Stunde würden die ersten kommen. Also bereitete ich mich auf den Abend vor. Räumte auf, füllte die Bar auf. Mittlerweile war Tom auch da und die ersten Grüppchen saßen in den Nischen und unterhielten sich. Gelächter drang zu uns. Ich schenkte Bier aus, als ich sie sah. Meine Brüder. Gemeinsam. Lachend. Ein schöneres Bild hätte es nicht geben können. Sofort waren alle Blicke der Frauen auf sie gerichtet. Ich musste grinsen. Sie entdeckten mich und kamen auf mich zu.
Doch ich konnte nur auf einen Punkt hinter ihnen starren. Jaromir war aufgetaucht. In schwarzem Hemd und schwarzer Hose. Seine dunkelbraunen Haare hatte er zur Seite gegelt und seine blauen Augen stachen kalt hervor. Was machte DER denn hier?
„Na. Bringst du uns fünf Bier?“, Valerian hatte sich in mein Sichtfeld geschoben.
„Klar.“, antwortete ich. Ich stellte die fünf Bier auf ein Tablett und ging an ihren Tisch. Sichtlich schlecht gelaunt stellte ich sie ab. Joel grinste mich nur an und David lächelte mir entschuldigend zu als ich mich wieder umdrehte. Die restliche Zeit meiner Schicht verging schnell und ich war froh als ich mich umziehen konnte. Ich schlüpfte in meine zerrissene Jeans und das schwarze Top. Meine Haare band ich zu einem Knoten. Ich hasste es, wenn sie mir verschwitzt im Nacken hingen. Es wäre mir lieber gewesen, wenn ich jetzt nach Hause hätte gehen können. Aber ich konnte nicht gehen ohne mich von meinen Brüdern zu verabschieden. Außerdem wollte ich nur zu David. Ich ging gerade die Treppe hinunter und war auf dem Weg zum Tisch, als mich jemand am Arm festhielt. Ich schrak herum.
Ein Typ wie ein Schrank stand vor mir und grinste mich an. Ich zog die Augenbrauen hoch. Er grinste mich einfach nur weiter an. Da roch ich es. Der Typ stank schlimmer als zehn Kneipen zusammen. Er beugte sich zu mir herunter, aber ich wich ihm aus. Er versuchte es nochmals und ich wich ihm wieder aus. Da packte er mich fester.
„Hey! Lass mich los!“, was war heute mit den Männern los? Ich spürte ihn hinter mir.
„Lass meine Schwester los.“, David blickte ihn eiskalt an, ruhig und klar. Sofort ließ er mich los und stolperte gleich drei Schritte zurück. David legte den Arm um meine Schultern und zog mich zu unserem Tisch. Dort herrschte ausgelassene Stimmung. Ich konnte nicht beurteilen wie viel sie wirklich getrunken hatten.
„Du musst nicht mehr auf mich aufpassen.“, lächelte ich zu David.
„Anscheinend ja schon. Ich frag mich wie du es die ganzen Jahre ohne mich geschafft hast.“, lachte er. Doch sofort umfing mich tiefe Traurigkeit. Ich dachte an diese sechs Jahre in denen er nicht dagewesen war. Sich nie gemeldet hatte. In denen ich ihm total egal gewesen war. Für die anderen drei war es nicht so schlimm gewesen wie für mich. Sie waren schon aus dem Haus gewesen. Nur ich war dann noch übrig. Allein war ich in dem großen Haus gewesen. Hatte nicht gewusst was ich tun sollte. Ich blickte auf den Boden. David bemerkte meinen Stimmungsumschwung.
„Es tut mir leid, Freya. Es tut mir leid. Aber ich konnte nicht anders. Ich musste da raus.“, er klang verzweifelt, wusste nicht wie er es mir begreiflich machen sollte. Doch ich konnte die Erinnerungen an die Einsamkeit nicht verdrängen. Er sah mich herzzerreißend an. Doch verzeihen konnte ich ihm nicht. Noch nicht. Gegenüber von uns beobachtete uns Jaromir. Ich konnte seinem Blick nicht ausweichen. Nicht widerstehen. Er zog mich in seinen Bann. Auf seltsame Art und Weise. Diese dunklen blauen Augen symbolisierten irgendwie alles. Stärke, Kraft, Kühnheit. Jaromir. Ja, es passte.
„Was macht er hier?“, raunte ich David ins Ohr. Er zuckte mit den Schultern
„Keine Ahnung. Justus hat ihn eingeladen.“, sagte er ohne große Begeisterung. „Ich glaube er findet dich heiß.“, er grinste mich an. Ich verdrehte die Augen. Er grinste nur noch breiter. Spielerisch boxte ich ihn gegen die Schulter. Wir sahen uns in die Augen. Und ich sah ihn wieder darin. Den Jungen der mal mein Bruder gewesen war vor langer Zeit. Der Junge der zum Mann geworden war und neben mir saß.
Der Abend wurde doch noch gut. Wir tranken viel und lachten noch mehr. Selbst Jaromir schien aufzutauen. Er konnte sogar humorvoll sein. Eine Tatsache die mich, wie ich mir eingestehen musste, gleichermaßen verängstigte sowie beeindruckte.
„Ich muss euch jetzt leider verlassen.“, sagte ich ungefähr halb drei. Ich vernahm allgemeines maulen meiner Brüder und musste lachen.
„Was hast du morgen schon wieder vor? Schon wieder ein Date mit so ‘nem Affen!? Och, Freya! Jedesmal derselbe Scheiß!“, der Alkohol ließ Joels Zunge locker werden. Leider. Ich wurde rot. Jaromir blickte mich interessiert an.
„Nein. Ich geh zu Oma.“, sagte ich wahrheitsgemäß. Sie lachten. Glaubten mir nicht. Ich umarmte David und drehte mich um und schlenderte der kühlen Nachtluft entgegen. Als ich nach draußen trat war es mehr als befreiend. Tief atmete ich ein. Weg von dem Mief der in der Bar herrschte. Ich zündete mir eine Zigarette an und ging zu meinem Fahrrad. Ich zog mir eine Lederjacke über, die ich immer dabei hatte wenn ich nach Hause fuhr. Als ich mein Fahrrad losschloss bemerkte ich den Platten. Das hieß dann wohl schieben. Genervt stöhnte mich auf und begab mich auf den nach Hause Weg. Zum Glück war es nicht weit. Mit dem Fahrrad hätte ich es in fünf Minuten geschafft. Jetzt genoss ich einfach die dunkle Stadt. Die Ruhe der Nacht und das mich niemand störte. Kein Trubel, kein Lärm. Ich lächelte. Nicht nur auf Grund der Stille der Nacht die mich umhüllte. Nein, sondern weil ich endlich glücklich war. Ich hatte meinen Bruder wieder. Sechs lange Jahre hatte ich ihn verloren. Verloren. Und ich hatte ihn nicht wiederbekommen. War allein gewesen. Allein in diesem großen Haus, ohne ihn. Allein. Ich hatte nicht gelebt. Das Leben war an mir vorbeigezogen. Doch jetzt hatte es wieder einen Sinn. David gab ihm wieder einen Sinn.
„Wer sein Fahrrad liebt, der schiebt!“, tönte eine mittlerweile vertraute Stimme hinter mir. Trotzdem fuhr ich erschrocken herum. Bissig musterte ich ihn und blieb an seinem blauen Blick hängen. Ich drehte mich wortlos um und ging weiter. Der hatte mir gerade noch gefehlt.
„Warum läufst du vor mir weg?“, fragte er jetzt ernst, ohne jegliche Spur von Ironie in der Stimme.
„Ich laufe nicht vor Ihnen weg.“, gab ich schnippisch zurück.
„Plötzlich wieder beim „Sie“!? Natürlich läufst du weg. Weil du nicht weißt was du von mir halten sollst.“, er hatte es auf den Punkt getroffen. Ich wusste nicht was ich von ihm halten sollte. Der Mann war mir ein einziges Rätsel. Ich wurde nicht aus ihm schlau. Konnte nicht erahnen was gerade in seinem Kopf vorging. Ich war ratlos. Und dieses Gefühl machte mir Angst.
„Darf ich dich begleiten?“
„Ist ‘in freies Land.“, gab ich zurück und hoffte inständig, dass er gehen würde. Doch er lachte bloß leise. Ein Geräusch, das mich überraschte, verwunderte und mich augenblicklich noch glücklicher werden ließ. Ich glaubte, ich hatte noch nie ein schöneres Männerlachen gehört. Ich lächelte verlegen und sah auf den Boden und wurde rot. Ich konnte es selbst kaum glauben. Ohne ihn noch einmal anzusehen ging ich weiter. Warum war er auf einmal so nett? Reine Nächstenliebe schloss ich kategorisch aus. Also warum?
„Hab ich dich in irgendeiner Weise verärgert?“, fragte er. Wie bitte? War das sein ernst?
„Äh. Ja.“, war meine überaus intelligente Erwiderung. Er grinste mich an. Was ließ ihn so verwegen werden? Was ließ ihn so aus sich herauskommen? Dann dämmerte es mir. Er war betrunken!
„Du bist betrunken!“, stieß ich hervor.
„Vielleicht.“, kicherte er. Seit wann kicherten Männer? Und dann noch der unnahbare, kühle Jaromir. Ich wurde noch weniger schlau aus ihm als vorher. Ich musste ihn irgendwie zu mir nach Hause befördern. Ich hielt also an ging um mein Fahrrad herum, das zwischen uns stand und legte seinen Arm um meine Schultern. Himmel, war der schwer, obwohl er gar nicht so aussah. Er hatte eine sportliche, durchtrainierte Figur. So machten wir uns schwankend auf den Weg in meine Wohnung. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Aber einen klaren konnte ich trotz alledem nicht fassen.
Endlich waren wir in meiner Wohnung. Die Treppen bis in die vierten Stock waren Folter für mich gewesen. Jaromir hatte geschlafen. Naja, fast. Ich legte ihn auf meine Couch und stellte einen Eimer daneben. Das letzte was mir fehlte war, dass er mir den Boden vollkotzte.
Ich schleppte mich in mein Schlafzimmer zog mich aus und warf mich ins Bett. Ich fiel sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Ich wachte viel zu früh auf. Jaromir lag immer noch auf der Couch. Fast so als ob er tot wäre. Also flickte ich meinen Fahrradreifen, kochte Kaffee. Kurz gesagt, ich machte Lärm. Aber der Kerl schlief wie ein Bär im Winterschlaf. Ich machte Musik an. Meinen Hippieordner. Tänzelte durch die Küche und räumte auf. Als ich auf die Uhr sah war es kurz nach elf. Es wurde mir schmerzlich klar, dass ich es nicht länger hinauszögern konnte. Ich musste ihn wecken. Ich war noch dabei mir eine Taktik auszudenken, die ihn, wie ich hoffte, nicht allzu sehr nerven würde, als ich beim rückwärtslaufen gegen ihn stieß.
„Ah!“, entfuhr es mir.
„Bist du immer so stürmisch?“, gab er mürrisch zurück, ging in die Küche und schenkte sich Kaffee ein. Ja, bitte bedien dich, mach’s dir bequem, fühl dich einfach wie zu Hause. Es machte mir wieder schmerzlich klar, dass er in einer anderen Welt lebte. Er bekam immer alles was er wollte. Alles und sofort. Alles was ich besaß hatte ich mir erarbeitet. Es wäre nicht nötig gewesen. Aber ich hatte es so gewollt. Aber er verursachte in mir nur Würgreiz. Er saß in meiner Küche und tat so als würde ihn das nicht im Geringsten interessieren. Schnaubend drehte ich mich um und zog mich an. Im weiten schwarzen Jack Daniels Top und kurze Hotpants kehrte ich zurück.
„Du kannst gehen.“, gab ich ihm bissig zu verstehen. Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. Er war es definitiv nicht gewohnt, dass man so mit ihm sprach. Doch er blieb seelenruhig sitzen und trank den Kaffee weiter. Ich wurde wütend. Wieder. Viel zu schnell. Verächtlich beobachtete ich ihn von oben herab. Plötzlich erhob er sich. Und mein Vorteil war erloschen. Er musste über einsfündundneunzig sein. Seine dunklen, geheimnisvollen Augen leuchteten. Seine Mundwinkel zuckten jedoch verdächtig.
„Was stellst du nur mit mir an?“, fragte er mehr sich selbst, strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und ging. Einfach so. Zwölf Wörter hatte er heute zu mir gesagt. Was wollte er mir damit sagen? Er wurde mir immer rätselhafter. Verwirrt kratzte ich mich am Kopf packte meine Tasche, setzte meine Pilotenbrille auf und fuhr zu meiner Oma.
Ich genoss es immer wieder hier entlang zu fahren. Wenn die Spätsommersonne die Felder leuchten ließ und jeder die letzten Sonnenstrahlen auskostete. Doch heute konnte ich diese Stimmung nicht genießen. Unentwegt dachte ich an Jaromir. Diese blauen Augen verfolgten mich immer wieder. Und seine Worte gingen mir nicht aus dem Kopf. „Was stellst du mit mir an?“ Wie meinte er das? Was machte ich mit ihm? Nichts. Rein gar nichts. Er machte mich wütend. Ließ mich aus der Haut fahren. Ich konnte es nicht beschreiben. Ich konnte ihn nicht leiden, irgendwie. Aber er ging mir nicht aus dem Kopf. Er verfolgte mich. Egal was ich tat. Er ließ mich nicht in Ruhe. Und das würde er auch nicht mehr. Nie mehr.






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