Gifted - Die Befreiung - Teil 30

Autor: Aven
veröffentlicht am: 17.09.2012


So, next!
Danke dass ihr mir ein paar Worte dagelassen habt und vielleicht regt euch dieser Teil ja auch zu ein paar an!
Hoffe er gefällt euch,
bis bald und liebe Grüße,
Aven




Pareios hatte, genau wie sie, genug Erfahrung mit Krieg und Tod, um zu wissen, wie sie mit Svenssens Leichnam verfahren mussten. Ganz abgesehen davon, dass sie jetzt nicht die Zeit hatten, ihn zu vergraben, würde er sowieso bald hier im Wald von wilden Tieren und Aasfressern wieder ausgebuddelt werden.
Nicht begeistert von ihrer Aufgabe, holte sie den Ersatzbenzinkanister und ging wieder zu Mitte der Lichtung, wo Pareios den Toten bereits wieder angekleidet hatte. Er hatte ihm die Hände auf der Brust gefaltet und seine Augen geschlossen, mit den glatten, ausdruckslosen Gesichtszügen sah er einfach nur aus, als würde er friedlich schlafen.
Während sie Pareios half, den Teppich über ihn zu falten und einige Spritzer Benzin über das für die letzte Reise geschnürte Bündel zu gießen, war auch Evrill wieder zu ihnen gestoßen, um sich gemeinsam mit ihnen gebührenvoll zu verabschieden, wenn Jesper Svenssen schon keine angemessen Beerdigung erhalten würde.
Sie stellten sich um den Leichnam herum auf und hielten wieder eine Schweigeminute, in der sie alle still beteten und sich bei ihm bedankten, dann zog Pareios eine Schachtel Streichhölzer heraus und ließ eines aufflammen. Er streckte die Hand aus und hielt das kleine brennende Hölzchen über die Teppichrolle und sagte dann leise und mit tiefer andachtsvoller Stimme: „Mach’s gut Jesper! Vielleicht sehen wir uns in einem besseren Leben wieder!“
Dann ließ er die gelbliche Flamme fallen und Aurelia sah zu, wie sie auf dem Stoff landete und sich der Brandbeschleuniger sofort entzündete.
Die Flammen schossen hoch und erfassten schnell den ganzen Teppich, das von der Herbstdämmerung feuchte Gras rund herum würde den Brand eindämmen. Lichterloh züngelte das Feuer, das Jesper Svenssens Körper verzehrte und ihn der Ewigkeit übergab. Es erhellte die Lichtung und die randständige, erste Baumreihe in einem unwirklichen, gelbroten Schein, ließ ihre Gestalten lange Schatten werfen, die im Rhythmus der Flammen zuckten.
Aurelia hoffte sehr, dass mit Jespers Tod sein Leiden ein Ende hatte und dass er jetzt an einem besseren, friedlicheren Ort war. Leider würde er das Wunder für das er gestorben war nicht mehr miterleben.

Eine Weile sahen sie zu, dann brachen sie in aller Stille auf, immer noch bewegt von der kleinen Andacht, die sie eben gehalten hatten. Auch ihn würde sie in die Reihe ihrer gefallen Kameraden aufnehmen, er würde einen Platz in ihrer Geschichte bekommen, der ihm würdig war!
Während sie so über ihn nachdachte fügten sich plötzlich ein paar Bausteine in dem wirren Gedankenchaos zusammen.
„Mein Gott! Was wenn die in dieser Versuchsreihe versucht haben, Menschen mit den Steinen ihre Energie abzuzapfen?“ stieß sie verblüfft hervor, als sie sich gerade auf dem Beifahrersitz niederlassen wollte. Sie sah zurück zu dem Brand in der Mitte der kreisrunden Lichtung. „Er sagte doch, es gab noch andere und dass er sich nach jeder Behandlung schwächer gefühlt hat…. außerdem hat Evrill ein Labor und Ärzte gesehen und…“
„Aber Syrus hat die Dinger doch auch in der Hand gehabt und ihm konnten sie nichts ab!“ erinnerte Pareios nachdenklich, seinen Blick ebenfalls immer noch gebannt auf das kleine Inferno gerichtet. Aurelia überlegte, rief sich noch Mals Jespers Aussage in den Kopf.
„Jesper hat erzählt, dass sie ihn mit Elektroschocks gefoltert und erst dann die Prozedur begonnen haben… vielleicht muss erst irgendein Widerstand beim Versuchsobjekt gebrochen werden, damit es funktioniert!“ murmelte sie ihre Gedanken leise vor sich hin. Ihre Worte verhallten unbeantwortet in der Nacht. Es war auch nicht nötig, den anderen beiden war klar, wie wahrscheinlich ihre Vermutung war. Sie war so deutlich, dass sie sich einem quasi aufzwang und sie sich ehrlicherweise eher fragen musste, warum sie sich das nicht schon längst bewusst gemacht hatten. Blieb nur eine Frage: Wozu brauchten sie menschliche Energie? Und wieder: Was zur Hölle wollte der Rat damit? So viele Vermutungen hatten sie im laufe ihre Ermittlungen schon getroffen, und immer wenn sie eine aufgestellt hatten, hatte sich alsbald etwas ereignet, das ihnen irgendwie einen Strich durch ihre Erklärungsversuche gemacht hatte.
„Du fährst, Ev malt dahinten weiter und ich gebe Viktor Bescheid, dass er Aiden sagen kann, dass sich das mit dem Namen erledigt hat!“ bestimmte Aurelia jetzt, da keiner etwas sagte oder sich regte. Sie riss ihre Augen von den Flammen los und richtete sie auf Pareios, der auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte. Er nickte grimmig und startete den Motor. Er wendete den Wagen geschickt und dann holperten sie über den Waldweg zurück zur Landstraße, von der sie gekommen waren.
Pareios trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Lenkrad herum, weil ihn der unebene Grund zu einem langsamen Tempo zwang. Plötzlich versteifte sich sein Körper neben ihr und er gab Gas. Der Motor heulte auf und die Stoßdämpfer ächzten, während die Insassen abwechselnd heftig in die Sitze und die Gurte geschleudert wurden. Was war denn jetzt passiert?
„Äh, so wird das aber nichts mit dem Zeichnen, Kumpel!“ erinnerte Evrill von hinten, seine Worte unterbrochen von einigen Hüpfern seines Körpers.
„Ich weiß!“ gab Pareios knapp zurück, verringerte aber die Geschwindigkeit kein Bisschen. „Ist euch nicht aufgefallen, dass die schon wieder unsere heißeste Spur aus dem Weg geräumt haben und zwar 1. bevor sie uns zu viele Details verraten hat und 2. sodass wir uns auch nicht noch Mal bei ihr erkundigen können. Zu dem Muster passt, dass die gerade dabei sind dieses verdammte Rattennest von Labor auszuräumen…., wenn es nicht schon längst leer ist! Aber vielleicht haben wir ja Glück!“ Entschlossen packte er das Lenkrad mit beiden Händen und beschleunigte noch ein Mal. Sie fuhren zwischen den letzten Bäumen hindurch und jetzt war der Kiesweg wesentlich ebener, wodurch er problemlos Gas geben konnte.
Heilige Scheiße! Pareios hatte natürlich Recht! In hibbeliger Erwartung krallte sie sich am Sitz fest und vertraute auf Pareios‘ Fahrkünste. Er war der bei Weitem beste Fahrer, dem sie jemals begegnet war, egal um welches Vehikel es sich handelte und wenn einer sie jetzt schnell genug zurück bringen konnte, dann er! Aber die Chancen standen schlecht, das wussten sie alle.
Auf den asphaltierten Straßen begann Evrill wieder zu zeichnen, wobei ihm die jähen Schwünge, Ausweichmanöver und scharfen kurven die Pareios fuhr, die Arbeit nicht gerade erleichterten, aber er biss die Zähne zusammen und machte weiter. Hin und wieder knüllte er wütend ein Papier zusammen, wenn er mal wieder einen riesigen Fahrer mit dem Stift produziert hatte.
Aurelia klappte ihr Handy auf und wählte Viktors Nummer. Sie ließ es lange läuten, aber nach zwei Minuten gab sie es auf und betätigten den roten Knopf, um die Verbindung zu trennen. Sie konnte nur hoffen, dass Viktor gerade in einer Besprechung war, oder schon schlief. Zweiteres hätte sie bei ihm aber überrascht, es war schließlich erst halb elf am Abend. Er würde sich schon noch melden, wenn er gesehen hatte, dass sie angerufen hatten. Sie hatten schließlich noch eine dreistündige Fahrt zurück in die Stadt vor sich, Zeit genug, mit ihm zu sprechen.

Pareios schaffte es in anderthalb Stunden sie wieder innerhalb der Stadtgrenzen zu befördern und Viktor hatte sich bisher immer noch nicht gemeldet. Während Evrill das ca. 20. Blatt vorkritzelte und Pareios sich konzentriert durch den nächtlichen Verkehr der Großstadt schlängelte, betrieb Aurelia Multitasking. Sie hatte die Karte auf den Oberschenkeln ausgebreitet und wies Pareios den Weg, zwischendurch wählte sie immer wieder Viktors Nummer, ohne erfolgreich zu sein. Irgendwann beschloss sie, es auch bei Aiden und Row zu versuchen, aber auch sie nahmen nicht ab.
So langsam begann sie sich Sorgen zu machen. Ihr Magen zog sich zu einem festen Klumpen zusammen und sie überlegte fieberhaft, was zur Hölle mitten in der Nacht im Bunker vorgefallen sein konnte, dass sie nicht an ihre Telefone gingen. Wie sie es auch drehte und wendete, sie fand keinen plausiblen Grund, den sie als beruhigend klassifizieren konnte. Pareios bemerkte natürlich ihre vergeblichen Versuche und auch sein Blick wurde zusehends besorgter, wobei er sowieso schon eine Maske aus wilder Entschlossenheit und grimmiger Konzentration aufgesetzt hatte.
Als sie in die Straße einbogen, in der sich die zweite Adresse befand, die sie von ihrem Informanten in Paris erhalten hatten, gab Aurelia es auf. Der Anruf und die Sorgen um ihre Teammitglieder musste erst ein Mal warten.
Pareios stellte den Wagen ein gutes Stück entfernt in einer Querstraße ab. Da Evrill immer noch wie im Wahn zeichnete, beschloss Aurelia, ihn hier zu lassen. Diese Tätigkeit war mindestens genauso wertvoll, wie jetzt in diesem Gebäude herum zu spionieren. Trotzdem, nach den jüngsten Ereignissen, hasste sie es, ihn hier allein zu lassen und damit wieder ihre Gruppe auf zu splitten. Sie hatten ja gesehen, was das letzte Mal dabei heraus gekommen war.
Bevor sie ausstieg wandte sie sich über den Sitz zu Evrill um.
„Du bleibst hier. Aber du machst dich möglichst unsichtbar! Kein Beobachtungsposten, keine Heldentaten, klar? Zieh einfach den Kopf ein und behalt ihn unten!“ Sie hoffte inständig, das würde reichen, ihn von irgendwelchen aberwitzigen Vorhaben abzuhalten. Er neigte nur kurz den Kopf ohne aufzusehen. Sie nahm das als Zeichen der Zustimmung und machte sich dann mit Pareios auf, um sich in den mysteriösen Räumlichkeiten umzusehen.

Leise schlichen sie die Straße hinunter und betrachteten dabei die Häuserreihen. Sie befanden sich in einem Industriegebiet. Mehrere große Fertigungshallen erstreckten sich links und rechts von ihnen, doch das Haus, auf das sie zuhielten schien eines der wenigen Verwaltungsgebäude zu sein. Zumindest sah es nicht aus, wie ein Lager. Aber es hatte weder im Erdgeschoss noch im ersten Stock irgendwelche Fenster. Erst weiter oben waren kleine, schlitzhafte Öffnungen in die dick wirkende Mauer eingelassen.
Das Gelände drum herum war eingezäunt und sie konnte auf den einzelnen Eisenstreben Kameras entdecken, aber diese bewegten sich nicht, sie schienen abgeschaltet. An der Straße brannten Laternen aber das Gebäude selbst und der Außenbereich waren nicht beleuchtet. Ansonsten war das Gelände wie ausgestorben, hätten sie sich nicht mitten in der Stadt befunden, hätte sie eine Heuballen erwartet, der durchs Bild rollte.
Langsam umrundeten sie das Areal, huschten von Hausschatten zu Hausschatten, um sich vor etwaigen Beobachtern zu verbergen und waren auf der Suche nach einem Weg in das Gebäude hinein. Schon der Zaun war ein Problem, er stand völlig frei und war von überall einsehbar. Nach einer schnellen Runde mussten sie feststellen, dass es keinen Weg hinein zu geben schien, doch als sie wieder die Vorderseite erreichten, sahen sie, dass das große Eingangstor mittlerweile offen und verwaist hin und her schwang. Aus sicherer Entfernung beobachteten sie den Eingangsbereich.
War etwa jemand hineingegangen, während sie sich auf der anderen Seite des Gebäudes aufgehalten hatten?
Es hatte doch alles so verlassen gewirkt.
Kurz entschlossen zog sie Pareios mit sich und sie schlüpften schnell durch das Tor, bevor sie jemand entdecken konnte. Vielleicht hatten sie Glück und hatten tatsächlich noch jemanden erwischt.
Als ihre Intuition ihr signalisierte, dass es ungefährlich war, überquerten sie auch das kurze Stück bis zur vorderen Tür des Gebäudekomplexes, die… ebenfalls offenstand!!!
Als sie vor dem Spalt zwischen Tür und Rahmen standen, begriffen sie sofort die Situation und zückten in einer Bewegung die Waffen. Beide in höchster Alarmbereitschaft. Kurz dachte sie an ihren Player, aber sie wollte jetzt schnell sein und mit Pareios an ihrer Seite fühlte sie sich voll auf der Höhe, mit einer Kondition, die ihr schon selbst Angst machte. Also verzichtete sie auf die beiden Stöpsel.
Mit bis zum Hals klopfenden Herzen, aber kühlem, konzentriertem Kopf setzte Aurelia ihren Weg fort. Sie ließ ihren sechsten Sinn schweifen, prüfte die nächsten Sekunden nach Gefahren, wobei ihre Augen in der Dunkelheit des immer noch ruhig wirkendenden Hauses umherwanderten. Sie erfasste einen großen Eingangsbereich, aber er hatte eine klinische, sterile Atmosphäre und machte mit dem ausgedehnt bestuhlten Wartebereich und einem Empfangstresen mit einer Unmenge an Aktenschränken den Eindruck, als handle es sich um ein Wartezimmer beim Arzt. Wobei das Fehlen von Fenstern bewirkte, dass es trotzdem den Charme einer Gefängniszelle besaß.
Alles war still und nirgends regte sich etwas, also wagten sie sich weiter vor. Pareios schlich um den großen Tresen herum und zog eine Schublade eines Aktenschranks auf. Sie hörte ihn zischend einatmen und bewegte sich so gleich auf ihn zu. Mit einem Blick über seine Schulter verstand sie seine Reaktion. Die Schublade war leer und als er auch die nächste und dann zwei weitere aufzog, kristallisierte sich schnell heraus, dass auch diese absolut inhaltslos waren und sie wahrscheinlich bei keinem der Aktenschränke etwas finden würden.
Aurelia drehte sich um und suchte den Schreibtisch vor dem Tresen ab. Es befand sich ein kleiner Bildschirm darauf, daneben ein winziger PC. Er stand aufrecht und als sie einen Schritt darauf zu machte, konnte sie sehen, dass man die Festplatte an der einen Seite herausgerissen hatte.
Sie seufzte frustriert und wandte sich wieder zu Pareios um. Dieser war schon ein paar Meter weiter gelaufen und hielt auf einen langen krankenhausähnlichen Gang zu. Aurelia beeilte sich ihm zu folgen und tastete alles mit ihrem Gefühl ab. Keine Abneigung stellte sich ein, was sie stark verwunderte. Wenn jemand hier war, müsste sie es doch merken!
Gemeinsam gingen sie von Tür zu Tür und stießen sie auf. Die Räume dahinter waren allesamt leer, aber es breitete sich mit jeder Tür ein größerer Schrecken über ihnen aus. Das Martyrium sprach aus jedem Zimmer. Der Dekor bestand in manchen aus Hand- und Fußschellen in festen Verankerungen in die Wände eingelassen, in anderen aus einer breiten Auswahl von Ketten.
Solche Fesseln fanden sich auch in anderen Räumen, die wohl eher zu Untersuchungen gedient hatten. Dort zierten die 10 cm dicken Stahlringe die Untersuchungstische auf Handgelenk- und Knöchelhöhe.
Der eisige Hauch des Todes wehte hier durch die sterilen, mit Linoleum ausgekleideten Flure und ließ sie beide frösteln. Sie befanden sich mitten in einem riesigen Laboratorium für menschliche Versuchskaninchen!
Die Schränke und Kommoden in den Untersuchungsräumen waren allesamt in aller Eile geleert worden, bei einigen standen die Türen immer noch offen. Jedoch war nirgends ein Fitzelchen Papier oder auch nur eine Spritze zu finden. Sie hatten sich beeilt hier alles wegzuschaffen, aber sie waren trotzdem gründlich gewesen!
Im ersten Stock fanden sie das selbe Bild wie unten, allerdings gab es hier auch etwas größere Aufenthaltsräume, und Büros und eine Tür ganz hinten links führte in eine schwarztapezierte Kammer. Sie trat ein und entdeckte zu ihrer Linken eine Scheibe, durch die man einen anderen Raum beobachten konnte. Auch eine Sprechanlage war installiert. Was war das hier? Shutter Island?
Die Gänsehaut prickelte ihr über Beine und Arme, als sie sich umdrehte und mit Pareios weiter das Gebäude durchstreifte. Ganz oben fanden sie schließlich die Trainingsräume vor, die Evrill beschrieben hatte. Es gab unzählige Fitnessgeräte, die mit großen Computerterminals verbunden waren. Atemmasken hingen über jedem Gerät von der Decke und waren mit Spirometern am Boden verbunden. Lauter Apparate für Leistungstests, genau wie Evrill vermutet hatte. Als sie sich den Computern näherten mussten sie auch hier feststellen, dass alle Festplatten unsanft entfernt worden waren.
Eine solche Akribie sprach Aurelias Meinung nach Bände! Sie waren hier auf der richtigen Spur, aber wieder war man ihnen zuvor gekommen und hatte alle verräterischen Indizien beseitigt. Trotzdem hatte man sie das Gebäude betreten lassen. Also wollte der, wer auch immer es war, der hier dieses Spielchen mit ihnen spielte, dass sie den Rest zu sehen bekamen. Dass sie ihre Schlüsse zogen.
Heilige Scheiße, was sollte das alles?
Ihre Gedanken rasten, suchten verzweifelt nach einem Sinn in diesem unübersichtlichen Haufen an Anhaltspunkten. Sie zwang sich, nicht in Panik zu verfallen und sich aberwitzigen Angstvorstellungen hinzugeben. Ein kühler Kopf war jetzt das Einzige was ihr irgendwie weiterhelfen konnte, also riss sie sich zusammen, konzentrierte sich nur auf Pareios stetigen Atem neben sich, schreckte auf, wenn er hin und wieder vor Abscheu ein angewidertes Zischen ausstieß.
Doch als sie im Keller angelangten, wurde ihr Vorhaben abermals schwer torpediert, als sie hinter einer riesigen, schweren Eisentür mit Drehrad mehrere mannslange Hochöfen entdeckten.
Sie standen auf der Schwelle eines kleinen Krematoriums.
Nicht nur Aurelia erschauerte, als ihr das bewusst wurde. Sie fühlte wie Pareios neben ihr erkaltete, seine beständige Hitze war schon die ganze Zeit zurück gegangen, aber nun erlosch sie vollständig. Jetzt war auch klar, warum sie den Tod in den Gängen und Räumen gespürt hatte. Erstaunlich, dass Jesper Svenssen all die Jahre durchgehalten hatte, wo anscheinend viele seiner Mitversuchsteilnehmer den Torturen zum Opfer gefallen waren. So viele, dass man gleich mehrere Einäscherungsvorrichtungen benötigte, um die Leichen zu beseitigen!
Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sehr sie hier gelitten haben mussten. So etwas wünschte sie nicht ein Mal ihrem schlimmsten Feind!
Aurelia konnte sich nur zu gut vorstellen, dass die Hegedunen bei ihren Energieraubexperimenten viele Versuchspersonen getötet hatten.
Das kalte Entsetzen heftete sich an sie beide wie Teer und begleitete sie den ganzen Weg zurück durch das Gebäude. Sie hatten jeden grauenvollen Raum gecheckt und keine Menschenseele entdeckt, dafür aber jede Menge Abscheulichkeiten, die sich wahrscheinlich nicht mal in ihren schlimmsten Träumen hätte ausmalen können.
Wer war nur zu so was im Stande?
Als sie schon fast wieder im Eingangsbereich angekommen waren, war Aurelia vor allem mit der Frage beschäftigt, warum sie niemandem begegnet waren, wenn doch alle Zugangswege offen gestanden hatten. Im Endeffekt konnte es nur bedeuten, dass sie die letzten Aufräumarbeiten nur knapp verpasst haben mussten, als sie das Gebäude umrundet hatten. Aber der Großteil musste schon erledigt gewesen sein, so viel Zeit hatten sie nicht auf der anderen Seite verbracht, als dass sie eine ganze Wagenkolonne verpasst hätten. Da stand ja auch kein Fahrzeug vor dem Haus, als sie vorhin darauf zu geschlichen waren.
Doch als sie auf den sandigen Vorplatz traten, musste sie feststellen, dass sie sich geirrt hatte.

Links neben ihnen war eine Rampe aus der Erde gefahren und nahm jetzt die Hälfte des Raums bis zum Zaun ein. Reifenspuren führten davon weg durchs weit geöffnete Eingangstor. Jetzt schlug‘s aber Dreizehn! Sie hatten sie verpasst, unmittelbar, während sie sich im Haus aufgehalten hatten!
Scheiße! Scheiße! Scheiße!

Schnell suchten sie die vor ihnen liegende Straße ab, konnten jedoch nichts mehr ausmachen. Keine Motorengeräusche, keine roten Heckscheinwerfer, nicht Mal der Wind regte, konnte man meinen. Wenn das Auto losgefahren war, kurz nachdem sie ins Gebäude hinein gegangen waren, war es ohnehin schon über alle Berge.
Neben ihr kickte Pareios frustriert ein paar Kieselsteinchen über den Asphalt und ließ ein leises, bedrohliches knurren verlauten.
„Na toll!!! Und was machen wir jetzt? Da drin gibt’s nicht mal mehr ein Staubkorn, das uns sagen könnte, was wir jetzt machen sollen!“
„Auf die Zeichnungen hoffen!“ gab Aurelia zurück und klammerte sich an den Gedanken.
Sie wandten sich zum gehen und erreichten bald die Seitenstraße, wo sie ihr Auto samt Teamkollegen zurück gelassen hatten.
Ein erster Blick täuschte vor, dass alles ruhig war, zumindest waren keine Bewegungen in der Straße wahrzunehmen. Aber als sie weiter vor liefen und eigentlich bald ihr Auto in Sichtweite kommen musste, wurde ihr immer mulmiger, weil eben dies einfach nicht eintrat. Der Stellplatz, an dem sie vorhin ziemlich sicher geparkt hatten, war einfach leer!
Eine eisige Faust schloss sich um ihr Herz, drückte zu und erfüllte sie mit Kälte. „Himmel, bitte nein!“ stöhnte sie leise und blieb wie versteinert stehen. Schnell schwenkte ihr Blick die Straße auf und ab, doch Evrill hatte auch nicht den Standort gewechselt, er war einfach weg, samt ihrem Auto!
Pareios war schon an ihrer Seite und legte ihr einen Arm um. Sie bemerkte am Rande, dass er sofort tröstlich auf sie einwirkte, obwohl er genauso wenig Hoffnung haben musste, wie sie.
„Mach Mal halblang!“ murmelte er und zog sein Telefon aus der Tasche. „Vielleicht ist alles nur halb so schlimm!“ seine Stimme war sanft und ruhig, aber sie bemerkte, wie seine Hände zitterten, als er das Telefon bediente und es sich dann ans Ohr hielt. In der Dunkelheit stand sie ganz reglos und versuchte jedes Geräusch zu vermeiden, damit sie hören konnte, was da am anderen Ende der Leitung passierte. Sie vernahm das Tuten des Freizeichens, dann läutete es einige Sekunden. Schließlich nahm jemand ab.

Erleichtert atmete sie aus, als sie eindeutig Evrills Stimme identifizierte, die aus dem Lautsprecher des Handys drang.
„Wo bist du?“ fragte Pareios und seine Stimme klang beherrscht. Evrill antwortete etwas und Pareios erschrak und verengte die Augen zu misstrauischen Schlitzen!
„Das lässt du schön bleiben, Ev! Du drehst sofort um und kommst wieder her!“ jetzt sagte er es mehr als bestimmend, es war ein Befehl. Aurelia horchte alarmiert auf.
„Was zum…? Gib‘ mir das Handy Pareios!“ befahl sie ungeduldig und griff nach seinem Handgelenk. Sie musste sofort wissen, was hier los war! Doch Pareios drehte sich flink weg und lauschte weiter Evrills Erklärungen. Aber nicht mit ihr! Pareios war schnell, aber er besaß nicht Viktors Schnelligkeit, somit hatte er ihrer Intuition nichts entgegenzusetzen. Sie duckte sich von hinten unter seinem Ellenbogen durch und stibitzte ihm das kleine silberne Gerät von unten aus der Hand. Mit zwei Ausweichschritten trat sie sogleich den Rückzug an, um Pareios‘ nach ihr schnappenden Armen zu entgehen und beförderte das Handy im Schwung zwischen Schulter und Ohr, während sie mit den Armen Pareios Vorstöße abwehrte.
„Evrill!“ zischte sie in die Muschel. „Verflucht noch Mal, bist du denn vollkommen übergeschnappt? Wo bist du?“
„Entschuldige Mal!“ empörte er sich zuerst, aber als sie nur wütend schnaubte besann er sich eines Besseren und berichtete ihr, was sich zugetragen hatte. Pareios hatte es mittlerweile aufgegeben, ihr das Handy wieder abnehmen zu wollen.
„Ich verfolge ein Auto!“ gab Evrill schließlich betont ungerührt zurück.
„Du…, was?“ Aurelias Neuronen kombinierten schnell. Sie hatten gerade ein Auto verpasst, das das Labor verlassen hatte. Himmel, nein!
„Was habt ihr eigentlich da drin gefunden?“ fragte Evrill seinerseits, ohne auf ihren letzten Satz einzugehen.
„Lenk jetzt nicht ab!“ schnitt sie ihm das Wort ab. „Bitte sag mir, dass du nicht das Auto verfolgst, das das Gelände von unserer Adresse verlassen hat!“
„Hm?“ stutzte Evrill. „Keine Ahnung, davon habe ich nichts mitgekriegt. Aber du wirst es nicht glauben, ich habe euch doch von dem Gesicht erzählt, das immer und immer wieder in Svenssens Gedanken vorkam? Der Typ saß hinten in einem Geländewagen und ist hier vorbeichauffiert worden. Ich habe nur durch Zufall aufgesehen, weil es mich gewundert hat, dass hier um die Uhrzeit noch ein Auto unterwegs war.“
Aurelia fuhr zusammen, Evrill war dem Kerl aus Jespers Erinnerungen auf den Fersen? Und das ganz allein? So langsam bekam sie wirklich schlechte Laune!
Zumal der gleiche Grund, der Evrill aufsehen hatte lassen, ihr den Magen noch mehr zusammen ziehen ließ. Es waren sonst keine Autos unterwegs, also standen die Chancen hoch, dass der Typ aus dem Labor gekommen war. Die Reifenspuren waren breit genug gewesen, um zu einem Geländewagen zu passen.
„Wieso hast du nicht sofort Bescheid gegeben?“ fauchte sie immer noch mehr als besorgt in den Hörer. Die Informationen hatten sie nicht gerade beruhigt, im Gegenteil!
„Ich musste mich sofort entscheiden!...“ rechtfertigte er sich, doch dann fügte er recht kleinlaut an: „Außerdem, hättest du sowieso versucht, es mir auszureden!“
„Hätte ich!“ bestätigte sie wütend. „Herrgott noch Mal, Ev! Hast du nichts aus unserem Debakel gelernt? Als wir uns beim letzten Mal in eine solche Situation gebracht haben, ist alles schief gegangen! Du erinnerst dich vielleicht an den Bericht im Fernsehen?“
Evrill bemerkte ihren sarkastischen Ton, unterschätzte jedoch nicht, wie verärgert sie tatsächlich war. Vor allem aus Sorge!
„Ich weiß! Aber auch da ist am Ende alles gut gegangen und das hier ist eine heiße Spur, das weißt du genauso gut wie ich!“ argumentierte er vorsichtig, aber doch mutiger als gut für ihn war.
„Evrill, ich schwöre bei Gott, wenn du nicht sofort umkehrst und deine vier Buchstaben wieder hier her schwingst, passiert was!“ Sie versuchte bedrohlich zu klingen, was jedoch kläglich scheiterte, da der letzte Teil des Satzes als angstvolles Krächzen aus ihrer Kehle entwich. Pareios, der sie schon die ganze Zeit mit vor der Brust verschränkten Armen beobachtet hatte, machte jetzt wieder einen Schritt auf sie zu und streckte die Arme nach ihr aus. Sie hob abwehrend die Hand und schüttelte den Kopf.
„Mein Gott Aurelia, jetzt mach dir mal nicht ins Hemd!“ antwortete Evrill und klang jetzt eher amüsiert, was sie noch rasender machte. „Ich verspreche dir, ich werde das Auto nicht verlassen! Ich werd‘ sie lediglich verfolgen, dann hole ich euch wieder ab.“
Obwohl sie diesen Vorschlag eigentlich nicht im Mindesten akzeptabel fand, stimmte sie dann doch zu. Von hier aus hatte sie keine Handhabe über Evrill und wie sie sehen konnte, hatte alles Drohen auch nichts bewirkt. Was blieb ihr also anderes übrig, als sich wenigstens dieses kleine Entgegenkommen seinerseits zu sichern. Zähneknirschend ging sie auf den Deal ein.
„Aber du meldest dich, sobald irgendwas Ungewöhnliches passiert und sobald sie angekommen sind, machst du dich auf den Rückweg!“
„Ai, Ai. Du bist der Boss!“ Er kicherte unverschämt.
„Ja, das sehe ich!“ erwiderte sie zynisch und verdrehte die Augen. „Ach, und sieh zu, dass du heil wieder hier ankommst,… damit ich dich umbringen kann!“
Mit finsterer Miene beendete sie das Gespräch.





„Immerhin waren wir auf der richtigen Fährte!“ gab Pareios zu bedenken, als sie gemeinsam eine metallene Leiter hinaufkletterten, die an der rückwärtigen Wand eines Lagerhauses angebracht war. Sie wussten nicht wohin, bis Evrill wieder auftauchen würde und hatten beschlossen, auf dem Dach eines der Industriegebäude zu warten, von wo aus sie eine gute Übersicht über die Gegend haben würden, falls sich doch noch irgendwas regen sollte.
„Das tröstet mich jetzt aber wirklich!“ entgegnete Aurelia ironisch und schwang ihr Bein über den Dachrand, um sich hochzuziehen. Schon wieder lief alles nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte und sie konnte nicht abstreiten, dass sie diesmal selbst dran schuld war. Schließlich war sie es gewesen, die entschieden hatte, dass Evrill im Auto bleiben und zeichnen solle. Aber sie hatte ‚zeichnen‘ gesagt, nicht ‚Verfolgungsjagd sielen‘!
Sie betraten das langgezogene Flachdach und ließen sich an einem Schacht am Rande des Daches nieder, wo sie sich mit dem Rücken anlehnen und gleichzeitig die Straße unten im Auge behalten konnten.
„Bisher hat Evrill sich als kluger Kopf entpuppt. Ich bemühe mich gerade, einfach zu hoffen, dass es auch dieses Mal so sein wird! Also reiß dich zusammen und denk‘ positiv!“ versuchte Pareios zu flachsen, jedoch war der Versuch eher kläglich und da sie nicht darauf einstieg, blieb es dann auch dabei. Eine Weile sagte keiner was, bis ihr Handy leise in ihrer Tasche summte. Sie hatte eine SMS von Evrill erhalten, der ihnen mitteilte, dass er dem Geländewagen gerade auf die Schnellstraße gefolgt war und er nicht glaubte, dass sie so bald ihr Ziel erreichen würden. Na wunderbar, das konnte also noch dauern.
„Toll!“ stöhnte Pareios, der sich herüber gebeugt hatte, um die Nachricht ebenso zu lesen. „Sieht so aus, als müssten wir die Nacht hier verbringen.“
Aurelia pflichtete ihm bei, wobei sie sich maßlos ärgerte, dass Evrill sie auf diese Weise zur Untätigkeit zwang. Nur ihr Telefon war ihr geblieben, also beschloss sie kurzerhand, noch ein Mal bei Viktor, Row und Aiden anzurufen. Bei allen dreien ließ sie es minutenlang klingeln, aber es hob niemand ab. Jetzt war sie wirklich beunruhigt und konnte dem Drang nicht widerstehen, immer wieder aufgeregt auf dem Dach auf und ab zu laufen.
Pareios schien ebenso besorgt, aber er hielt sich zurück, versuchte wie immer, Ruhe zu bewahren und nicht gleich das Schlimmste anzunehmen. Es war jetzt mitten in der Nacht, es war immer noch möglich, dass alle drei einfach nur schliefen. Nach einer Weile seufzte ihr dunkelhaariger Begleiter vernehmlich.
„Könntest du bitte aufhören, Furchen in die Steine zu laufen? Du machst mich noch ganz irre!“
„Entschuldigung!“ antwortete sie knapp und ließ sich wieder neben ihn fallen. „Diese Warterei macht mich nur ganz verrückt. Ich kann mich irgendwie nicht still halten!“ Sie sehnte sich nach Bewegung, aber solange sie hier auf Evrill warten mussten, wagte sie nicht, weit fort zu laufen.
Pareios rutschte ein wenig näher heran und strich ihr über den Rücken. „Soll ich dich ablenken?“ fragte er jetzt frech und ließ einen zweideutigen Unterton verlauten. Aurelias Kopf schoss nach oben, sie sah ihm überrascht in die grauen Augen, in denen wieder rötlich flammende Kohlenstücke glühten und von niedlichen Lachfältchen flankiert waren.
„Wie kannst du jetzt an so was denken?“ fragte sie entnervt, musste aber irgendwie angesichts der Verlockung lächeln. Bei Gott, gegen Pareios Charme kam sie einfach nicht an!
„Das ist deine Schuld!“ gab er gespielt beleidigt zurück. „Schon Mal gesehen, wie du aussiehst? Das lenkt ab, weißt du!“ Schmunzelnd strich er ihr die Haare über die Schulter nach hinten und ließ seinen Mund zu ihrem Hals wandern. Obwohl sie es nicht wollte, erschauerte sie prompt und in ihrem Geist herrschte mit einem Mal eine gähnende Leere, bereit durch seine Berührungen wieder gefüllt zu werden. Als er leicht an ihrem Ohrläppchen knabberte, gab sie es auf, sich an den verwirrenden Geschehnissen des vergangen Tages festzuhalten und als er dann auch noch ihren Kopf zu sich drehte und ihre Lippen sanft mit einem langen, zärtlichen Kuss verschloss, dachte sie, was für ein glücklicher Zufall es doch war, dass sie hier gelandet waren und jetzt eine erzwungen Auszeit mit irgendeiner interessanten Tätigkeit füllen mussten.
Und ihr schwebte da auch schon was vor!






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