Gifted - Die Befreiung - Teil 28

Autor: Aven
veröffentlicht am: 07.09.2012


Danke Leute für euer Feedback! :D Ohne langes Geschwafel, weiter gehts!


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„Also, ähm keine Ahnung, ob dir Viktor erzählt hat, wie wir uns kennen gelernt haben….“ Pareios schüttelte den Kopf, die Miene glatt und ausdruckslos. „Aber du weißt ja, dass ich eine Zeit lang mit den Hegedunen zusammen gearbeitet habe…“ Sie biss sich auf die Unterlippe, allein das war schon schlimm genug, leider war es nicht alles. Sie musste kurz überlegen, wo sie am besten beginnen sollte, um ihre damaligen Beweggründe darzulegen, dann beschloss sie von vorne anzufangen.
„Also, das war nicht immer so… Ich wurde 1789 bei Oberhaid in Böhmen geboren. Meine Schwester Eliodora kam eineinhalb Jahre nach mir zur Welt. Ich war wie meine Mutter eine Elevenderin, mein Vater und meine Schwester waren nicht begabt, aber das alles hab‘ ich erst viel später erfahren. Ich glaube nicht, dass meine Eltern damit gerechnet haben, überhaupt Kinder zu bekommen, schon gar nicht zwei!“ Rückblickend hatte sie sich oft darüber gewundert, dass ihre Eltern quasi gleich zwei Mal im Lotto gewonnen hatten, der Wahrscheinlichkeit nach ließ sich das auch in ‚vier Mal vom Blitz getroffen‘ umrechnen. Von Pareios und Viktor wusste sie, dass ihre Eltern Gegenstücke gewesen waren, aber schon die äußerst geringe Zahl von einem einzigen Kind im Bunker bewies, dass Nachwuchs unter den Elevendern etwas ganz Besonderes war, ob begabt oder nicht.
Sie machte eine Pause, holte Luft und versenkte sich tiefer in ihre Erinnerungen. „Auf jeden Fall hatte ich keine Ahnung von Elevendern und Hegedunen, dafür sind meine Schwester und ich streng katholisch erzogen worden. Wir haben in einem kleinen Haus auf einem Hügel gewohnt, etwa drei Kilometer von Oberhaid entfernt. Wir hatten eine Kuh und ein paar Hühner und haben versucht, alles anzubauen, was da oben gewachsen ist. Der Sommer war dort immer ziemlich kurz…
Oberhaid war nur eine Häuseransammlung mit Kirche und unsere nächsten Nachbarn wohnten auf der anderen Seite des Hügels, einen viertelstündigen Fußmarsch entfernt.
Wenn ich an meine Kindheit denke, denke ich vor allem an grüne Wiesen und Wälder, der ganze scheiß Berg war voll davon, wo man hinsah nur grün, am Anfang noch ganz nett, aber nach ein paar Jahren…“ Diese Eintönigkeit hatte sie in ihrer Jugend mit der Zeit immer mehr frustriert.
„Vielleicht 50 Meter von unserem Haus entfernt stand eine Kapelle. Ich glaube man hat sich nur die Mühe gemacht, sie so weit oben auf den Berg zu bauen, weil dort eine Quelle war. Die Kapelle hat man direkt drauf gesetzt, neben einen Weiher, den das Wasser gebildet hatte. Sie war der heiligen Magdalena geweiht und die Menschen behaupteten, das Wasser hätte heilende Kräfte, Magdalenawasser eben. Sobald wir alt genug waren, waren meine Schwester und ich dafür zuständig, das Gemäuer sauber zu halten und es bei Anlässen mit Blumen und Kränzen zu schmücken.“ Tausende von diesen verfluchten Flechtwerken hatte sie hergestellt, obwohl sie diese Pfriemelarbeit gehasst hatte. Pareios verzog kurz die Lippen, anscheinend fand er die Vorstellung amüsant, wo sie so gar nicht zu der Aurelia passte, die er kannte.
„Wir spielten dort oft stundenlang, kletterten im Glockenturm herum oder versteckten uns in der Kanzel. Wir verhielten uns für damalige Zeiten sehr unchristlich!“ Sie schmunzelte kurz bitter, als sie an ihren kindlichen Leichtsinn und ihre offene Naivität dachte. Beides hatte sie letztendlich ins Unglück gestürzt!
Pareios‘ Miene rangierte irgendwo zwischen ironischer Heiterkeit und fatalistischer Erwartung, er wusste, dass der schlimme Teil erst noch kommen würde, aber Aurelia glaubte nicht, dass er auch nur im Ansatz ahnte, um welches Kaliber von Vergehen es sich handelte. Da er sie nicht aus seinem Griff entließ und sie fest in seinem Schoß hielt, beobachtete sie jetzt genau, was seine Mimik verriet, während sie weitersprach.
„Es war… einsam da oben. Mein Vater ging hin und wieder zum Konsum in die nächstgelegene, größere Stadt, das war Prachatitz, um auf dem Markt Samen und Setzlinge zu besorgen und unsere Milch und Pilze zu verkaufen, aber ich kam nie weiter, als bis nach Oberhaid und das auch nur Sonntags beim Kirchengang.“ Die Hand voll Menschen dort hatte kaum Abwechslung geboten. Sie schluckte bitter. Das Gefühl der Beklemmung hatte sie schon damals ereilt und tat es jetzt wie ein geisterhafter Nachhall wieder.
„Als ich noch kleiner war, war es ein Paradies für mich und meine Schwester. Die Natur dort bot unendlich viele Abenteuer und wenn uns trotzdem langweilig war, dachten wir uns eben welche aus. Schon mit zehn Jahren kristallisierte sich immer mehr heraus, dass ich körperlich wesentlich weiter entwickelt war als andere in meinem Alter. Ich war schnell und kräftig und fühlte mich stark. Damals verstand ich nicht, warum meine Mutter mich jedes Mal bestrafte, wenn ich meinen Kräften freien Lauf ließ. Ich dachte, ich könnte ihnen doch so viel besser bei der Arbeit helfen, aber sie verbot es mir. Und mit jedem Jahr, das ich älter wurde, fühlte ich mich mehr und mehr eingesperrt.“ Das Land war weit gewesen, aber es hatte niemand gegeben, dem sie sich verbunden gefühlte hatte.
„Ich.., ich fühlte mich allein und irgendwie… falsch und sah dort keine Zukunft für mich. Ich habe mich immer gefragt, was hinter den Bergen des Böhmerwalds lag, wie die Welt aussah. Ich brannte darauf, zu sehen, was die Erde sonst noch zu bieten hatte.“
Ein Bild schob sich vor ihre Augen. Sie sah sich selbst, wie sie weit oben an einem Hang mitten auf einer saftig grünen Wiese stand und verträumt auf die gegenüberliegende Bergkette starrte, versuchte, einen Blick auf das, was dahinter lag, zu erhaschen. Aurelia erinnerte sich, wie sie sich Flügel gewünscht hatte, um sich in die Luft erheben und einfach davon fliegen zu können.
Damals hatte auch der Drang eingesetzt, zu Laufen und nicht stehen zu bleiben, bis ihre Beine vor Erschöpfung unter ihr nachgegeben hatten. Sie hatten sie nie weit genug forttragen können. Und da war auch noch ihre Schwester gewesen…
„Mit 15 war ich fast schon so weit, einfach abzuhauen. Aber ich wollte meine Schwester nicht allein lassen. Elli war meine einzige Freundin, wir waren so eng verbunden, wir hatten nur einander. Ich hatte Angst, was aus ihr werden würde, wenn sie noch nicht ein Mal mehr meine Gesellschaft haben würde.“ Bei dem gezielten Gedanken an ihre Schwester flutete Trauer ihr Herz und sie begann zu zittern. Die Vibration entging Pareios natürlich nicht. Er legte ihr mitfühlend die warmen Hände auf die Oberarme, eine tröstliche Geste in dem Meer aus schlechten Erinnerungen.

„Das einzige Spektakel, das es damals gab, war eine Wallfahrtsprozession am Namenstag von St. Magdalena. Alle Gemeinden aus der Gegend sammelten sich und wanderten gemeinsam mit geschmückten Fahnen und Blumenkränzen zu der kleinen Kapelle auf unserem Hügel. Dort fand ein Gottesdienst statt und danach aßen die Menschen auf der Wiese rund um den Weiher mitgebrachte kalte Gerichte und ein paar machten Musik, zu der getanzt wurde. Damals war das meine einzige Gelegenheit, andere Jugendliche kennen zu lernen und ich fieberte das ganze Jahr auf diesen einen Tag hin. Elli und ich stahlen ein paar Vorhänge von der Wäscheleine und nähten uns Kleider daraus. Wir waren ziemlich stolz auf uns.“ Sie dachte an den moosgrünen, dicken Stoff, den sie an dem Tag getragen hatte, an dem sich ihr Leben unwiderruflich verändert hatte. Sie fühlte noch das grob gewebte Linnen auf der Haut.
„Wie gesagt, ich war 15 und es war der 22. Juli, Magdalenanamen. Wie jedes Jahr nahmen wir zusammen mit den vielen Leuten am Gottesdienst teil und setzen uns dann auf die Wiese um den kleinen See herum. Meine Schwester und mich hielt es nicht lange auf der Decke, auf der meine Eltern saßen, wir konnten es nicht erwarten ein paar Jungs zu treffen.“ Aurelia errötete vor Scham, spürte seine Augen auf sich ruhen, aber immer noch ruhig und konzentriert.
„Was ist an diesem Tag passiert?“ fragte Pareios sanft. Seine Fingerspitzen berührten federleicht ihre Wange, dann strich er mit dem Daumen über ihr Jochbein. Sie konnte nicht widerstehen, sich fester in seine Handfläche zu schmiegen. Die Berührung war so vertrauensvoll und sie fühlte sich ihm gegenüber nackt, wie sie sich so vor ihm von all ihren Geheimnissen entblätterte.
„Da habe ich ihn zum ersten Mal gesehen!“ antwortete sie tonlos, die Stimme wollte ihr nicht gehorchen. Sie räusperte den Frosch im Hals weg. „Einer der Jungs aus Prachatitz hatte mich am Rande des Sees in ein Gespräch verwickelt, aber ich habe mich irgendwie beobachtet gefühlt. Ein attraktiver Typ stand auf der anderen Seite am Ufer des Sees und starrte mich die ganze Zeit über an.“
Attraktiv war gar kein Ausdruck. Der Kerl war ihr damals atemberaubend erschienen, groß und breitschultrig überragte er alle Männer aus der Gegend bei weitem. Sein goldenes Haar hatte im Licht der Dämmerung und der Fackeln, die die Leute rund um den See aufgestellt hatten, geheimnisvoll geleuchtet und seine großen Augen waren von einem marmorierten Lapislazuliblau. In dem Moment, in dem sich ihre Blicke trafen, hatte er sie in seinen Bann gezogen. Der geheimnisvolle, starrende Fremde hatte sie sofort fasziniert und sie hatte ihren Gesprächspartner ohne Erklärung stehen lassen.
„Heute würde ich natürlich sofort erkennen, dass er ein Elevender war, aber damals wusste ich von all dem nichts. Er kam mir einfach wie ein junger Gott vor und er hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf mich gerichtet. Ausgerechnet mich, ich konnte mein Glück kaum fassen.“
Sie konnte sich nur allzu gut an das Triumphgefühl erinnern, das sie erfüllt hatte. Wie arrogant sie doch gewesen war, ganz versessen darauf, endlich etwas Besonderes sein zu dürfen!
„Ich ging zurück zur Kapelle und habe immer wieder einen Blick zurück geworfen. Und er ging auf das Spiel ein. Als ich in das dunkle Gebäude trat, war er schon da…“
Er hatte auf einer der Bänke gesessen und ihr entgegen gesehen. Als sie näher kam, stand er auf und ging auf sie zu. Er hatte eine düstere, aufregende, männliche Ausstrahlung, ganz anders als alles, was sie bis Dato erlebt hatte. Mit ihren 15 Jahren kochten die Hormone unter ihrer Haut, alles Weibliche in ihr war völlig versessen darauf gewesen, entfesselt zu werden. Und nicht nur das, sie hatte es schon eine Weile gespürt. In ihr lauerte etwas, ein dunkle Macht, die sich Tag für Tag aufgebaut hatte und darauf brannte, aus ihr heraus zu brechen. Und in diesem Punkt hatte sie sich von Anfang an mit ihm verbunden gefühlt, intuitiv, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Wie oft hatte sie sich gefragt, welche Rolle ihre damals erst langsam erwachende Gabe letztendlich in dem ganzen Schlamassel gespielt hatte.
„Ich habe ihn schon vom ersten Moment an angehimmelt und als er mich dann charmant verführt hat, war es ganz um mich geschehen.“ Sie behielt weitere Details dieser Nacht für sich, da sie nicht glaubte, dass Pareios hören wollte, wie sie als Jugendliche diesem wesentlich älteren Mann verfallen war, wie viel älter er tatsächlich gewesen war, hatte sie damals jedoch nicht geahnt.
„Sein Name war Orcus. Er hat mich mit Komplimenten überschüttet und mir immer wieder gesagt, ich wäre genau das, was er gesucht habe. Damals war ich zu verträumt, habe das fehl gedeutet und angenommen, er wäre in mich verliebt. Und ich schwärmte wie eine Besessene für ihn, ich wollte es unbedingt so sehen. Ich war so verknallt, dass ich zu blind für die Wahrheit war.“
So langsam kamen sie zum entscheidenden Punkt ihrer Geschichte und sie merkte, dass ihr Tonfall intensiver geworden war und auch Pareios zunehmend angespannter wurde. Sie wusste nicht, ob es von dem kam, was sie eben erzählt hatte, aber seine Miene zeigte keine Eifersucht, er konnte sich ja auch denken, dass die Geschichte nicht gut ausgehen würde.
„Von da an hat er mich immer häufiger besucht und irgendwann hat er mir seine Gabe gezeigt und mir offenbart, dass ich auch eine hätte, dass ich anders als die anderen wäre, etwas Besonderes eben!“ Sie stockte für einen Moment. Bitterkeit erfüllte ihre Kehle und breitete sich wie Säure auf ihren Geschmacksknospen aus. „Dieser Gedanke fiel bei mir natürlich auf fruchtbaren Boden, die ganze Zeit schon kam ich mir vor wie in einem Gefängnis und fühlte mich unterfordert. Und ich wusste tief in mir drin, dass er Recht hatte. Dass da etwas Mächtiges in mir schlummerte, ich hatte nur nie gewusst, was es war, aber in dem Moment konnte ich die Verbindung herstellen.
Und dann hat er mich gebeten mit ihm zu gehen!“
Es war eine dunkle Nacht gewesen. Wieder ein Mal hatte sie sich mit Orcus auf der Empore der Kapelle getroffen und hatte sich ihm hingegeben. Er war nie besonders sanft mit ihr gewesen, hatte sich immer alles genommen, was er von ihr wollte, aber damals kam es ihr wie eine verbotene Frucht in ihrem gezüchtigten Dasein vor, von der sie nur zu gern gekostet hatte.

„Ich erzählte es meiner Schwester, aber sie riet mir davon ab. Sie hatte Angst vor Orcus.“ ‚Gefährlich‘ war das Wort gewesen, das Elli benutzt hatte. „Ich dachte sie wäre eifersüchtig auf mich und habe ihr an den Kopf geworfen, dass sie sich ihren eigenen Mann suchen soll, anstatt mir meinen madig zu machen! Ich war trotzig und hochmütig, absolut uneinsichtig,… da hat sie es unserer Mutter erzählt…, alles!“ Ihr Hals war wie zugeschnürt. „Sie hat sich doch nur Sorgen um mich gemacht….“ Ein Schluchzen drängte sich zwischen ihren Stimmbändern hindurch und entschlüpfte ihrer zittrigen Kehle. Als sie weitersprach musste sie mit den Emotionen ringen, die sie schüttelten und ihren Atem flach werden ließen. So war ihre Stimme irgendwie gepresst, verunstaltet durch die Reue, die sie übermannte.
„Ich war so wütend auf sie, ich fühlte mich verraten, als meine Mutter mir verbot, mich jemals wieder mit ihm zu treffen. Ich habe noch in der selben Nacht meine Sachen gepackt und bin mit Orcus weggelaufen. Ich hatte einen solchen Hass auf Elli, dass mich dort nichts mehr hielt. Ich dachte, dass sie nur neidisch auf mich war und mir mein Glück und meine Stärke nicht gönnen wollte!... Ich habe meine Mutter und meinen Vater nie wieder gesehen.“ Sie starrte dumpf in Pareios‘ warme Augen und bemerkte erst, dass sie weinte, als er ihr eine Träne von der Wange strich.
„Es war nicht deine Schuld, er hat dich verführt. Du warst nur ein junges, unschuldiges Mädchen!“ flüsterte er eindringlich und hielt sie fest. Aber sie fühlte nicht, dass sie seine Fürsorge und sein Mitgefühl verdient hatte, er wusste immer noch nicht alles!

„Nein, unschuldig war ich keineswegs!“ stieß sie wütend und lauter als beabsichtigt hervor.
Das Beben, das vorhin schon ihren Körper ergriffen hatte, verstärkte sich zusehends.
„Ich bin mit ihm gegangen und eine Weile war es genau das, was ich wollte. Er zeigte mir die Welt und lobte meine körperlichen Fähigkeiten. Bei ihm musste ich sie nicht verstecken, wie zu Hause, er forderte sie sogar von mir und sagte, er wolle mir helfen, meine wahre Begabung zu finden und zu entwickeln. Damals erkannte ich noch nicht, was genau meine Fähigkeit war, ich hatte hin und wieder diese plötzlichen Gefühlsregungen, aber es war wirr und ich konnte damit nichts anfangen. Ich machte mich voll und ganz abhängig von Orcus, ich wäre ihm überall hin gefolgt. Endlich war das Leben abwechslungsreich und spannend, ich bemerkte den Wahnsinn nicht, der von ihm bereits auf mich übergegangen war. Er sagte immer wieder, dass die Menschen uns unterlegen wären und uns deswegen fürchteten. Sie wären unsere Feinde. Und ich glaubte ihm, wo ich zu Hause am eigenen Leib diese Abneigung gespürt hatte. Und wenn das mich nicht überzeugt hätte, dann sicher die Tatsache, dass ich von ihm erfuhr, dass meine Mutter eine Elevenderin war. Ich hatte mich immer so alleine und verkehrt gefühlt und sie hatte es die ganze Zeit gewusst!... Ich war so voller Zorn, dass sie mich hat Leiden lassen und dass sie mich und sich selbst offensichtlich verstecken wollte, bestätigte für mich Orcus‘ These, dass Menschen Elevender hassten.“ In diesen Zeiten hatten Hass und Wut sie regiert und sie hatte sich immer tiefer in Orcus‘ Ideologie mit hineinziehen lassen.
„Eines Nachts, drei Jahre später, wir waren gerade irgendwo in Tirol. Wir hatten uns in einer Gastschenke einquartiert und teilten uns wie immer ein Bett, wir lebten wie ein Paar zusammen und ich schwebte auf Wolke Sieben… Auf jeden Fall…“ sie schluckte verkrampft, suchte verzweifelt Pareios Blick. „… ich…, ich bin mitten in der Nacht aufgewacht. Ein Geräusch ganz nah an meinem Ohr hat mich geweckt und… da war sie plötzlich!“ Ihre Stimme versagte, noch mehr Tränen erstickten sie und rannen ihr in einem unaufhörlichen Strom über die Wangen.
„Eliodora?“ fragte Pareios überrascht und streichelte ihr wieder liebevoll Nacken und Schultern. Sie schaffte es zu nicken.
„Sie…, sie saß rittlings auf Orcus und hielt ihm eine Kanone an den Kopf.“ Sie versuchte mit ihrer staubtrockenen Kehle zu schlucken, was ein kratziges Geräusch erzeugte.
„Sie warf mir vor, wie selbstsüchtig ich gewesen war, als ich diesen Teufel, damit meinte sie Orcus, in das Leben unserer Familie gebracht hatte. Sie hat ihn beschuldigt unsere Eltern ermorden lassen zu haben.“ Die Worte stolperten jetzt aus ihrem Mund, genauso wie die Tränen waren sie nicht mehr aufzuhalten. Sie sprach schnell, sie fühlte sich wie ein Waschbecken, aus dem man den Stöpsel gezogen hatte, Tränen und Worte würden immer weiter aus ihr herausgeflossen kommen, bis alles gesagt sein würde.
„Ich habe ihr nicht geglaubt! Ich war der Überzeugung, sie habe sich in ihrer Eifersucht auf mich verrannt, mein Gott ich war so verblendet! Ich habe sie angefleht, ihn zu verschonen, aber sie war unnachgiebig, sie sagte er müsse sterben, für das was er unseren Eltern angetan hatte. Ich war verzweifelt, wusste nicht, was ich tun sollte, aber als sie die Steinschusswaffe schussbereit machte, ist mir… eine Sicherung durchgebrannt…“ Orcus hatte um sein Leben gebettelt, er hatte seine Roller äußerst überzeugend gespielt!
„Ich konnte die ganze Zeit nur denken: Nicht er! Orcus hatte immer eine Waffe unter dem Kissen… Ich… hab‘ sie hoch gehoben und…dann hab‘ ich,… ich… habe abgedrückt…“

Nun konnte sie sich endgültig nicht mehr beherrschen. Wie Pareios auf ihr Schuldgeständnis reagierte, konnte sie durch den Tränenschleier nicht mehr erkennen, sie hätte es auch nicht ertragen können. Sie brach in seinen Armen zusammen und weinte. All die Tränen, die sie die ganzen Jahre über zurückgehalten hatte, bahnten sich einen Weg ins Freie und dachten nicht einmal daran, so schnell wieder zu versiegen. Sie klammerte sich an seine Brust und spürte wie er die Arme um sie schloss und sie fest an sich drückte, während all die salzigen Tropfen auf seine nackte Haut perlten. Das Grauen, das sie in dieser Nacht vor 294 Jahren erlebt hatte, hatte sich tief in ihre Seele eingebrannt. Damals waren Waffen wesentlich martialischer gewesen, als heute. Sie hatte kein kleines Kaliber auf ihre geliebte Schwester abgefeuert, nein, es war eine Eisenkugel gewesen. Und durch die Nähe der Mündung an ihrer Schläfe, wurde Ellis Kopf quasi zerfetzt, als Aurelia den Abzug durchgedrückt hatte. Und jetzt packte sie die Erinnerung wie ein Flashback.


Sie kniete auf einer mit Stroh gefüllten Matratze, die einzelnen festeren Halme piekten ihr durch den Stoff des Lakens in Schienbeine und Füße, aber sie bemerkte es gar nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf die junge, schlanke Frau gerichtet, die auf Orcus Brust saß und ihm eine Waffe an den Kopf hielt. Sie hatte seine Arme unter ihren Knien fixiert und ihr Gesichtsausdruck war unerbittlich, die eisblauen Augen funkelten wild und bedrohlich.
Als dieser irre Blick Aurelia streifte, erkannte sie mit eisigem Entsetzen, dass es Eliodora war, die auf dem Mann saß, den Aurelia vergötterte, und ihm nach dem Leben trachtete. In einer Sekunde nahm sie die Erscheinung ihrer Schwester in sich auf. Sie war größer geworden, wirkte drahtig und ausgezehrt und ihr Gesicht zeigte so viel Trauer, Gram und Hass, dass es Aurelia wie ein Hieb in die Magengrube traf.
Elli warf ihre hellbraunen Locken, die Farbe hatte sie von ihrem Vater geerbt, nach hinten und stieß ein schrillen Schrei aus. Ein schmerzvolles, geisterhaftes Heulen, das Aurelia bis tief in die Knochen fuhr.
„Er hat das Blut unserer Eltern an den Händen!“ kreischte ihre Schwester und fixierte sie mit diesen rastlosen Augen, die Mündung der schweren eisernen Pistole an Orcus‘ Stirn gedrückt. „Findest du nicht auch, er muss dafür zahlen, was er uns genommen hat?“ Ellis Laute wurden zum Lachen einer Wahnsinnigen, ihr wunderschönes Antlitz zur Fratze verzerrt. Aurelia hörte sich selbst leise reden, war aber so abgestumpft, dass sie ihren Mund gar nicht fühlte.
„Nein, Elli,.. das kann nicht sein! Bitte,.. bitte, tu‘ das nicht,… ich liebe ihn! Er war die ganze Zeit bei mir, egal was mit ihnen passiert ist, er kann es nicht gewesen sein… Was ist mit unseren Eltern geschehen, Elli?“ Aurelias Gedanken überschlugen sich förmlich. Obwohl sie ihre Eltern und ihre Schwester im Zorn zurück gelassen hatte, berührte sie die Nachricht, dass ihnen etwas zugestoßen war tief. Es tat weh! Fürchterlich weh, genauso, wie ihre Schwester auf diese Weise wieder zu sehen.
„TOT!!!“ schrie Eliodora ganz außer sich. „Und du bist genauso schuld wie er!“ Sie spuckte vor Aurelia auf die Bettdecke. „So lange habe ich euch gesucht und meine Rache geplant und jetzt ist die Nacht gekommen! Er wird bezahlen Aurelia, ich will ihn bluten sehen!“ flüsterte Elli mit wilder, entschlossener Intensität und zog den Hahn am hinteren Ende der Waffe nach hinten. Mit einem leisen Klick spannte sie den Schlagbolzen, die Waffe war bereit für den Schuss.
Urplötzlich entflammte Wut in Aurelia. Wie ein Flächenbrand schoss es durch ihre Adern und entzündete ihre Muskulatur, versetzte sie in Alarmbereitschaft. In diesem Moment erwachte das Monster in ihr zum Leben. Es schlug seine Krallen in ihr Herz und ihre Seele, bemächtigte sich ihrer und lenkte ihre Gedanken und ihre Glieder. Es tobte in ihr, als sie Orcus‘ Leben bedroht sah. Die verträumte Verliebtheit, ja fast schon Besessenheit, die sie für ihn empfand, schrie danach, ihn zu beschützen, alles zu riskieren, alles zu tun, nur damit er überlebte. Zusammen mit dem Monster waren diese beiden Bedürfnisse eine übermächtige Kombination, die Aurelia brennen ließ. Nichts war mehr wichtig, weder ihre Eltern, noch Elli, geschweige denn sie selbst oder was aus ihr werden würde, nur er zählte.
Sie konnte kaum atmen vor Angst, sie war gelähmt und ihr Herz hämmerte wie wild gegen ihre Brust. Aber in ihr tobte der Zorn, geschürt von der ganzen Furcht und dem Grauen. Alles lief letzt langsamer, als ob jemand den Zeitlupeknopf gedrückt hätte. In ihrer schwelenden Trance fühlte Aurelia, wie ihre Hand an Orcus Kissen etwas Hartes, Kaltes, Eisernes berührten.
„Ich werde dich befreien, Lia!“ flüsterte ihre Schwester jetzt, Aurelias Kosenamen aus Kinderzeit benutzend, und beugte sich tiefer über Orcus, der leise zu murmeln begonnen hatte. Er sagte immer und immer wieder, dass sie sich irrte, dass er nichts mit der Sache zu tun habe und dass er Aurelia so etwas niemals antun würde, aber Eliodora schien es gar nicht wahr zu nehmen. Sie legte die zweite Hand an den Holm der Waffe und packte zu, dass die Sehnen an ihrem Unterarm hervortraten. Sie presste den Lauf noch fester gegen Orcus Stirn. Ein Lächeln umspielte plötzlich ihre Lippen. Es war verwirrend klar und echt und es durchzuckte Aurelia mit Bildern ihrer damals schon fern wirkenden Kindheit.
Ihre Schwester, wie sie lachend hinter ihr her lief, als sie fangen spielten. Ihre Schwester, wie sie vor ihr auf einen Baum kletterte und fröhlich zu ihr hinunter winkte. Ihre Schwester, wie sie am Abend, bevor Aurelia den Böhmerwald für immer verlassen hatte, versucht hatte, sie zu umarmen und ihr sagte, dass sie nur ihr Bestes wolle…
Aurelias Herz brach in tausend kleine Stücke, als sich ihre Finger um den hölzernen Griff der Waffe unter Orcus Kissen schlossen.
Eliodoras Lächeln wurde langsam breiter, verzog sich zu einem triumphalen Grinsen, als sie hervor stieß: „Fahr zur Hölle, du Bastard!“
Dieser letzte Funke brachte Aurelias Verstand zum Explodieren, er löste sich im aufziehenden, blinden Zorn auf, verpuffte, wie eine Gaswolke und das Monster übernahm die volle Kontrolle. Die Erinnerung an diesen Moment glich eher einem Traum, als hätte sie es gar nicht wirklich erlebt.
Aurelia hob ihren ausgestreckten Arm, in der Hand die Waffe, ihr Mordwerkzeug. Sie hatte noch nie geschossen, noch nie einen Menschen getötet, noch nie… eine solch wilde, besitzergreifende Wut gespürt. Sie verzehrte sie innerlich, als sie die Mündung auf ihre Schwester richtete. Brachiale Entschlossenheit erfüllte sie, all ihre Gedanken kreisten darum, Orcus nicht zu verlieren.
Den Sekundenbruchteil, den sie brauchte um den Sicherungsbolzen nach hinten zu klappen und den Hahn zu ziehen, huschten die Augen ihrer Schwester zu ihr herüber. Sie beobachtete sie in stummem Entsetzen aus den Augenwinkeln, ihre schwarzen Pupillen weiteten sich ungläubig, das Gletscherblau drum herum wurde schmal, als sie erkannte, dass Aurelia sie töten würde.
Der Knall durchbrach die Stille der Nacht und das Mündungsfeuer erhellte das Zimmer wie ein weißglühender Blitz. Aurelia wurde vom enormen Rückstoß der Waffe gegen das obere Bettende geschleudert und bei dem harten Stoß des Holms gegen ihre Handfläche, hatte sie die Waffe fallen lassen. Benommen registrierte sie, wie ihr Gesicht und Oberkörper mit warmer Flüssigkeit bespritzt wurden und der verunstaltete, zugerichtete Oberkörper ihrer Schwester nach vorn kippte und leblos auf Orcus zusammenbrach.
Aurelia starrte fassungslos auf die verstümmelte Leiche ihrer Schwester, konnte nicht begreifen, was sie da gerade getan hatte. Alles in ihr weigerte sich zu akzeptieren, dass sie gerade ihre Schwester getötet hatte! Nein, das konnte nicht echt sein! Stumm und mechanisch schüttelte sie immer wieder den Kopf. War sie zu so etwas fähig? Sie konnte nicht atmen, nur starren, mit vor Entsetzen versteinertem Leib, auf ihre kalte, ermordete Schwester, von ihrer Hand ausgelöscht. Es musste ein schrecklicher Albtraum sein! Aber warum wachte sie nicht auf?
Die gelähmten Glieder waren taub, ihr Inneres erkaltete, verrohte. Das Grauen holte sie ein, die Bilder brannten sich ihr ins Gedächtnis und verankerten die Qualen und die Schuld die sie von nun an jede Minute ihres Lebens empfinden würde. Sie fühlte sich innerlich tot. Und ein Teil von ihr war auch in dieser Nacht mit ihrer Schwester zusammen gestorben, der Großteil.
Sie war nur noch halb am Leben, das war der Preis, den sie diese Tat gekostet hatte und dieses halbe Leben zerfraß und plagte sie, bescherte ihr eine Tortur, die mit Worten nicht zu ermessen war.
Die Taubheit hielt an, noch lange nachdem Orcus sie gewaschen und angezogen und sie dann mitgenommen hatte. Sie hatte gelähmt in seinen Armen gelegen, als sie das Zimmer verließen, in dem ihre Schwester ihren letzten Atemzug getan hatte.
Aurelia war zu einem halbtoten Zombie, zu einer Marionette geworden, derer sich Orcus nur zu gern bediente. Ihre Schuld fesselte sie an ihn, wer hätte sie sonst noch aufnehmen, sonst noch wollen können?
Sie hatte nie ernsthaft daran gezweifelt, dass Orcus unschuldig war, was ihre Eltern betraf, aber sie konnte sich nicht mehr von ihm berühren lassen, es ging einfach nicht mehr. Sie hasste sich selbst so sehr, sie dachte, sie sei das abscheulichste Wesen, das jemals auf diesen Planten geworfen worden war. Und der Einzige, der in dieser persönlichen Hölle noch irgendwo da war, war Orcus. Dass sie es für ihn getan hatte, machte ihn in ihren Augen sozusagen zu ihrem Komplizen.
Aurelia hatte erlebt, wie Orcus Freunde und Gleichgesinnte um sich geschart hatte, aber nicht durchschaut worauf es hinauslief. Er hatte ihr nie erzählt, dass unter den Elevendern so etwas wie „gut“ und „böse“ existierte und sie hatte geglaubt, so wie sie beide lebten, war die einzige Möglichkeit für sie. Damals war ihr noch nicht klar gewesen, dass die Leute mit denen er sich umgab, mit denen er sich traf und „Geschäfte“ machte, Hegedunen waren und sie selbst damit auch zu einer geworden war.
Sie hatte seine Machenschaften nur peripher registriert, alles hatte sie kalt gelassen. Sie war verbittert, voll von Selbsthass. Manchmal hatte sie sich einen kurzen Moment gestattet, sich zu fragen, ob der Preis für sein Leben vielleicht zu hoch gewesen war, aber die Angst vor dieser Erkenntnis, trieb sie nur immer tiefer in die Sache hinein. Sie musste irgendwie daran festhalten, dass er es wenigstens Wert gewesen war. Mit aller Macht verdrängte sie, in dem Glauben, dass es für sie sowieso keinen anderen Weg gab. Sie lebte damals in einer Dunkelheit, in der sie sich irgendwann haltlos und verloren fühlte.
Die Zweifel, die ihr immer wieder kamen, während Orcus Handeln immer grausamer wurde und sie dann auch noch von anderen Elevendern angegriffen wurden, das Gefühl, das ihr sagte, dass etwas nicht stimmte, das alles irgendwie nicht zusammenpasste, hielt sie schön weit im Hintergrund.

Bis das Schicksal ihr eine bittere Erkenntnis schenkte und Viktor zu ihr führte.






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