Alles anders.

Autor: Sopherl
veröffentlicht am: 29.03.2012


Sie schlug die Augen auf. Es war dunkel, doch die Vögel zwitscherten bereits. Sie schloss die Augen wieder und lauschte konzentriert. Nichts. Kein Verkehrsgeräusch. Keine Geräusche im Haus. Nur die Vögel. Sie lächelte und entspannte sich.

„Guten Morgen, Prinzessin“, flüsterte er von hinten an ihr Ohr. Ein wohliger Schauer fuhr ihr über den Rücken, als sie diese Worte hörte und spürte, wie er sich näher an sie kuschelte. Seine große Hand lag auf ihrem Bauch, sein Gesicht grub er in ihren Nacken. „Ich bin so froh, dass du da bist.“ Wieder lächelte sie. Genoss den Moment und drehte sich um. Zu ihm. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände. Seine markanten Züge konnte man nur erahnen. Sie fuhr mit den Daumen über seine Schläfen, berührte sanft seine Augen, über die Nase zum Mund. Seine Lippen waren weich und leicht geöffnet. Ihre Daumen fuhren über seine Wangen zum Kinn. Sie liebte das Gefühl der Bartstoppel unter ihren Fingern. Sie lächelte wieder. „Guten Morgen, mein Schatz.“ Sein Gesicht immer noch in ihren Händen suchten sie ihre Lippen. Der erste Guten-Morgen-Kuss. Der erste Kuss für sie als Engländerin. Ihr Lächeln wurde breiter. Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. „Ich bin so glücklich.“ Er reichte an ihr vorbei und knipste das kleine Lämpchen an, das auf seinem Nachttisch stand. Sie hob ihren Kopf und sah ihm in seine grün-braunen Augen. „Ich bin hier. Jetzt für immer. Und gehe nie wieder weg. Was sagst du?“ – „Diesen Tag, unseren ersten gemeinsamen Morgen habe ich mir genau so vorgestellt. Es fühlt sich einfach richtig an. Ich bin dir sehr dankbar, dass du diesen Schritt gewagt hast. Jetzt hör doch endlich mal auf zu grinsen.“ – „Das würde ich ja gerne, aber ich kann einfach nicht.“ Nun fingen beide das Lachen an und umarmten sich noch fester. Endlich. Ihr erster gemeinsamer Morgen.

Im Laufe der letzten Jahre waren solche Augenblicke für Henry und Isabell eher selten. Sie führten seit sie sich das erste Mal begegnet sind, eine Fernbeziehung. Damals war Isabell nach England gekommen, um sich für ein Praktikum in einer Reha-Klinik zu bewerben. Nach dem überstandenen Bewerbungsgespräch war sie abends in einen Pub gefahren und hat sich für ihre harte Arbeit belohnt. Sie war alleine, doch sie wusste von früheren England-Besuchen, dass man in einem Pub nie lange alleine war. Und so war es auch diesmal. Isabell war neu, jeder wollte wissen, wer sie war, woher sie kam, was sie machte. So erzählte sie ihre Geschichte. Jedes Mal von Neuem. Doch sie wurde nicht müde, ihre Geschichte zu erzählen. Sie hatte Spaß daran. Sie war froh, dass sich die Menschen so sehr für sie interessierten. Unter den Menschen, denen sie ihre Geschichte erzählte, war auch Henry. Ein mittelgroßer, stämmiger junger Mann, der sie mit seinen grün-braunen Augen in den Bann schlug. Sie saßen lange Zeit zusammen und erzählten sich gegenseitig aus ihrem Leben. Das Schicksal wollte es, dass die beiden sich trennten, ohne ihre Nummern ausgetauscht zu haben. Für Isabella war es eine Angenehme Begegnung, der sie jedoch keine besondere Bedeutung zusprach.
Henry hingegen lag wach in seinem Zimmer und dachte an das Mädchen, mit dem er sich heute so wunderbar unterhalten hatte. Sie ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Wieso hab ich sie nicht nach ihrer Nummer gefragt? Henry… wie blöd bist du eigentlich? Er schlief ein. Erinnerte sich jedoch zuvor an ein paar Fetzen von dem Gespräch, das die beiden führten. Westbourne. Raspberry… Strawberry Inn!

Der nächste Morgen begann für Isabell mit einer langen Dusche, gefolgt von einem ausgedehnten Frühstück. Nicht das englische Frühstück. Um diese Zeit des Tages war sie nicht in der Lage, deftige Lebensmittel wie Würstchen, Kartoffeln oder Tomaten zu sich zu nehmen. Yuk! Sie saß im Frühstücksraum des Strawberry Inn, der sie an die Klischees der Engländer denken ließ: Blümchentapete, dunkler Teppich, alte Möbel im Kolonialstil. Dunkel und altmodisch. Wie sehr sie sich freute, bald in ihre helle Wohnung in Deutschland zurückkehren zu dürfen. Während Isabella also ihr Frühstück genoss, griff sie zu ihrer Tee-Tasse, Earl Grey mit Zitrone natürlich und schlug die Zeitung auf, die neben ihr lag. Eher desinteressiert durchblätterte sie den Sportteil und blieb im Lokalteil hängen. Während sie gedankenvertieft einen Artikel über das Wildleben im Süden England las, betrat ein ihr unbekannter Gast den Frühstücksraum. Sie streifte ihn mit einem kurzen Blick, maß ihm aber keine weitere Bedeutung zu. Während sie weiterlas bemerkte sie, dass sie sich nicht richtig konzentrieren konnte und ihre Gedanken abschweiften. Ich kenn ihn doch. Woher kenne ich ihn? Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen, als er auf sie zukam.

„DU? Das glaub ich ja nicht… Aber… was machst du in England?“ Isabella stand auf und umarmte den jungen Mann, der vor ihr stand. „Das gleiche könnte ich dich fragen. Noch dazu in einer so gottverlassenen Gegend.“ Vor ihr stand Benjamin. Ein Freund aus alten Tagen. Benjamin war ein großer, sportlicher Typ. Zum Frühstück trug er eine Jeans mit einem karierten Hemd, dessen Ärmel bis zur Armbeuge hochgekrempelt waren. Seine blonden Haare und braunen Augen leuchteten sie an, trotz der dunklen Atmosphäre des Frühstücksraums. Sie stand von ihrem Stuhl auf und umarmte ihn stürmisch. „Ich freu mich so! Aber das kann doch kein Zufall sein. Ich mein, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir zur gleichen Zeit am selben Ort sind, wo wir uns doch jetzt schon… wie lange nicht gesehen haben?“ „Der Zufall ist schon riesig, das stimmt. Ich bin hier, weil ich mich in Chichester für ein Praktikum bewerben will… Im Personalmanagement.“ „Aber…“ „Ach, Bella. Das ist doch vollkommen egal. Los jetzt. Frühstückst du noch was mit mir?“ „Aber nur, wenn du mir versprichst, in meiner Gegenwart keinen Bacon oder Kartoffeln oder baked beans zum Frühstück zu essen. Ansonsten setz ich mich woanders hin.“, sagte sie und strahlte ihn an. Sie konnte nicht glauben, dass ihr das Schicksal einen so großen Gefallen tun könne und ihr einen alten Freund vor die Nase zu setzen. Wo ist der Haken? Sie war so tief in ihr Gespräch mit Ben vertieft, dass sie nicht bemerkte, dass in der Tür noch ein junger Mann stand, der die freudige Wiedersehens-Szene beobachtet hatte. Geknickt und eingeschüchtert verließ Henry das Strawberry Inn.







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